Fräulein Honigohr und der Fingerhut

Fräulein Honigohr stuppst den lila Fingerhut mit dem Zeigefinger an. Er nickt und setzt die Blüten an der Dolde in zitternde Bewegung. Ein süßlicher Duft breitet sich aus. „Wir hatten das doch besprochen“, sagt Fräulein Honigohr, „du hast Wohnrecht am Fluss, in allen kinderlosen Gärten und an der Autobahn. Aber nicht hier.“ Sie stuppst ihn erneut, dieses Mal etwas nachdrücklicher.
Der Fingerhut grollt. Ein Beben geht durch das lila Feld, wütende Parolen steigen auf, untermalt mit Glöckchenklang. „Nein“, sagt Fräulein Honigohr und sie klingt streng, „ihr wart nicht zuerst hier. Zufällig weiß ich, dass der Kindergarten vor euch da war.“
Der Fingerhut zuckt mit den Blättern.
„Meinetwegen“, sagt Fräulein Honigohr, „dann ist eben der Wind schuld. Trotzdem haben wir ein Abkommen. Also!“ Sie blickt auffordernd um sich. Die Fingerhüte fluchen glöckchenhell und neigen sich zusammen. Dann richten sie sich auf und weigern sich, Fräulein Honigohr anzusehen. Sie schüttelt den Kopf. „Wenn ihr das Abkommen brecht, garantiere ich für nichts. Ich kenne einen Gärtner, der in einer Stunde hier sein kann.“
Der erste Fingerhut erstarrt. Alles ist still, kein Blatt rührt sich. Fräulein Honigohr bekommt fast ein schlechtes Gewissen, aber wenn sie nicht durchgreift, ist nächstes Jahr der gesamte Kindergarten umschlossen von Fingerhut und dann kommt erst recht der Gärtner. „Du hast die Wahl“, sagt sie und streicht dem Anführer über die Blüte, „Umzug heute nacht an die Flussauen und ihr lasst bis dahin keinen einzigen Samen frei. Oder den Gärtner in einer Stunde.“
Blütenschweres Schweigen antwortet ihr, dann steigen lila Flüche empor, die Dolden reiben sich aneinander und bemitleiden sich. Fräulein Honigohr ist unnachgiebig. Schließlich nickt der Anführer widerwillig.
„Geht doch“, sagt Fräulein Honigohr. „Wir sehen uns um Mitternacht.“ Als sie aufbricht, zischt es giftig hinter ihr her. Tja, denkt sie, man kann nicht mit jedem befreundet sein.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Die Regeln sind maximal 300 Wörter und im Text unterzubringen ist die Wortspende, dieses Mal gespendet von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Sie ist auch die Organisatorin der abc-Etüden – vielen Dank dafür!

22.12. – Geisterstunde | Adventüden

Fräulein Honigohr schlägt die Bettdecke zurück. Da war doch was? Auf nackten Sohlen schleicht sie zur Wohnzimmertür und drückt sie auf. »Du bist das! Was machst du hier?« ruft sie. Der Geist der Weihnacht ignoriert sie. Er leuchtet fahlgrau, links schwenkt er eine Blockflöte, rechts hält er eine Punschtasse. Oh-oh, denkt Fräulein Honigohr, mein Wunschpunsch! […]

22.12. – Geisterstunde | Adventüden

Nestbau

Fräulein Honigohr kuschelt sich tiefer ein. Die roten Blütenblätter leuchten. „Weißt du noch“, fragt sie schläfrig, „wie ich dir ein Nest gebaut habe? Es war kalt, und naß, aber dir hat das nichts ausgemacht, du warst so schön… rund und braun und du hast nach Frühling gerochen…“
Die Tulpe summt im warmen Wind.
„Genau“, sagt Fräulein Honigohr, „so ist es, meine Liebe. Ich habe mir ein paarmal Sorgen gemacht, weißt du das? Es war so frostig draußen, und ungemütlich. Aber das hätte ich gar nicht tun müssen, oder?“
Ein Leuchten wie ein Lachen rauscht über die roten Blätter.
„Ich wusste es“, murmelt Fräulein Honigohr und blinzelt träge in den Himmel. Die Sonne glüht durch das tiefe Rot und wirft Feuerwirbel über ihr Gesicht. Die Tulpe dehnt sich der Sonne entgegen, ihre Blätter tanzen im leichten Wind.
„Nächstes Jahr werde ich Nestbau für dich betreiben“, murmelt Fräulein Honigohr, bevor sie einschläft. „Dann kannst du im Schwarm tanzen.“
Die Tulpe singt.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden (Bedingungen siehe Bild oben), und organisiert werden die Etüden von Christiane – vielen lieben Dank! 😊

Fräulein Honigohr und die Walnüsse

Fräulein Honigohr läuft über die Wiese. Das Gras ist nass und färbt ihre Schuhe dunkel, aber das ist nebensächlich. Der Alte hat nach ihr gerufen, und das ist noch nie vorgekommen. Sie macht sich Sorgen. Vielleicht hat er die Nussfäule? Das juckt wie die Pest, aber er hat schon schlimmeres überlebt, und wegen einer solchen Kleinigkeit würde er sie nicht rufen. Ob sie ihn abholzen wollen? Als sie beim Alten ankommt, hört sie fast schon das Gekreische der Sägen. „Da bin ich“, sagt sie, „was ist los?“
Der Alte rauscht mit den Blättern. Seine unzähligen Früchte kichern. „Nüsschen“, raunt er, „gut, dass du gekommen bist. Meine Kinder machen mich wahnsinnig, es ist nicht zum aushalten! Vielleicht kannst du ihnen diese verrückten Ideen ausreden. Mir fällt nichts mehr ein. Ich bin kurz davor, sie alle abzuwerfen!“
Fräulein Honigohr ist erleichtert. Keine Sägen! Sie stemmt die Hände in die Hüften. „Ach komm! Das würdest du doch nie tun!“
„Doch, würde ich!“ Der Alte rauscht grimmig.
Fräulein Honigohr spitzt die Lippen und guckt streng. „Soso. Wer ist die Wortführerin?“ fragt sie in die Runde.
„Ich!“ flüstert eine Stimme unten links. Es ist eine besonders dicke grüne Walnussfrucht. „Wir wollen keine Walnüsse sein! Walnüsse sind langweilig!“
„Und bitter!“ flüstert die Walnuss neben ihr.
„Und braun wollen wir auch nicht sein!“ raunt es aus einem höheren Ast.
„Keiner mag uns, und schwer zu knacken sind wir auch!“ wispert die Wortführerin. „Wir wollen Erdbeeren sein!“
„Erdbeeren, Erdbeeren, Erdbeeren!“ raschelt und flüstert es im Baum.
„Siehst du?“ raunt der Alte. „Ich werde noch verrückt hier!“ Er schüttelt sich und die jungen Früchte schaukeln bedrohlich hin und her.
„Lass das“, sagt Fräulein Honigohr. Der Alte seufzt und hält die Äste still. „Ihr wollt also Erdbeeren sein? Wirklich?“
„Jajajajajajaja! Süß und fruchtig und rot und weich!“ weht es im Baum umher. „Erdbeermarmelade! Erdbeeren mit Sahne! Erdbeerkuchen!“
„Wie kommt ihr denn bloß auf solche Ideen?“ fragt Fräulein Honigohr, aber die jungen Walnüsse hören ihr nicht zu, sie flüstern von Erdbeerträumen und Sommer.
Der Alte lässt die Äste knacken. „In schönen Nächten sitzen oft Menschen mit ihren Handys unter mir. Meine Kinder haben zugehört und zugesehen und jetzt sind sie verrückt geworden.“
Ach so. Fräulein Honigohr überlegt. „Hört mal. Das geht nicht. Ich kann euch nicht in Erdbeeren verwandeln. Für sowas braucht man eine Sondererlaubnis, und die ist wirklich schwer zu bekommen, glaubt mir, unzählige Formulare mit Durchschlag, und alle müssen durch alle Abteilungen, da wären wir im Frühling noch nicht fertig.“
Protestgeflüster weht durch die Äste und lässt die Blätter schwanken. Der Alte wiegt sich hin und her.
„Ich biete euch etwas anderes an. Ihr macht euren Vater sonst völlig verrückt, und ihr wollt doch sicher nicht vor der Zeit abgeworfen werden, oder?“ Sie lässt einen kleinen bedrohlichen Tonfall durch ihre Stimme schimmern und das Protestgeflüster verstummt.
„Was willst du tun?“ raunt die dicke grüne Walnussfrucht.
„Keine Erdbeeren. Aber ihr werdet Weihnachtswalnüsse sein. Golden mit roten Punkten. Das erinnert ein bisschen an Erdbeeren, und wenn die Menschen euch mögen, können sie euch zu Weihnachten in grüne Zweige hängen. Mehr ist nicht drin.“ Fräulein Honigohr klingt bestimmt. Eine Generation von rot gepunkteten Walnüssen ist doch sicher erlaubt, oder? Hoffentlich bleibt das oben unbemerkt, sie hat so gar keine Lust auf Ärger von höherer Stelle, aber sie ist dem Alten verpflichtet, schließlich kennen sie sich schon eine Ewigkeit. Und ein vorzeitiger Fruchtabwurf wäre gar nicht gut. Sie hört schon wieder die Sägen bedrohlich näher kommen.
„Golden, golden mit roten Punkten, roten Punkten“, wispert es im Baum.
„Aber Weihnachten ist doch noch ewig hin“, flüstert die dicke grüne Walnussfrucht protestierend. „Ewig hin, ewig hin“, wiederholen ihre Schwestern wispernd im Chor.
„Tja. Ihr müsst halt ein bisschen länger bei eurem Vater bleiben als geplant. Ihr könnt nicht alles haben.“
Die Walnussfrüchte seufzen, aber vom Erdbeergeraune ist nichts mehr zu hören.
Fräulein Honigohr schnipst mit den Fingern und ein kleines Knacken schwebt durch die grünen Früchte. „Erledigt. Ich hoffe, sie lassen dir jetzt ein bisschen mehr Ruhe“, sagt sie zum Alten.
„Das hoffe ich auch“, raunt er, „du hast was gut bei mir!“
„Ach, Papperlapapp“, sagt Fräulein Honigohr, „das war umsonst.“
Als sie geht, hört sie die Früchte kichern. „Golden und rot, golden und rot“ weht durch die Luft, und Fräulein Honigohr schüttelt den Kopf. Erdbeeren! Handys verändern wirklich alles.

Fräulein Honigohr und die Hirsche

Fräulein Honigohr marschiert durch den Park, es nieselt zart und das Pflaster glänzt dunkel im Schein der Laternen. Sie hat es eilig.
„Hallo? Entschuldigung?“
Überrascht bleibt sie stehen. Eine halbjunge Frau mit einem Kind im Zwergenalter an der Hand steht vor ihr. Das Zwergenkind schreit ein ganz hervorragendes Zetermordio in die feuchte Luft, dass es nur so in den Bäumen echot. Fräulein Honigohr schüttelt den Kopf. Sie muss wirklich sehr abgelenkt gewesen sein.
„Ja?“ ruft sie über das Zetermordio hinweg.
Die halbjunge Frau lächelt angestrengt. „Hier soll irgendwo eine Lichtinstallation sein. Wissen Sie, wo das sein könnte?“
„Natürlich! Sie müssen den Weg hier entlang, aber zehn Minuten wird es dauern, bis Sie da sind.“
„Danke! Wissen Sie, ob es sich lohnt?“
Fräulein Honigohr nickt. „Es sind Hirsche und Rehe, und sie sehen wirklich toll aus.“ Sie betrachtet den heulenden Zwerg. „Vielleicht planen Sie lieber ein bisschen mehr Zeit ein.“
Der Zetermordio-Zwerg verstummt und guckt zu ihr hoch. Er betrachtet sie sehr genau, dann lächelt er schüchtern.
Fräulein Honigohr wird weichmütig ums Herz. „Soll ich dir was backen?“ flüstert sie ihm zu. Er nickt mit einer kleinen Kinnbewegung und versteckt sich hinter seinem Ärmel. Fräulein Honigohr greift in ihre Jackentasche und setzt ihm einen winzig kleinen, leuchtenden Hirsch auf die Handfläche. „Bitteschön“, sagt sie. Der Hirsch röhrt leise und blickt sich um.
„Eins ist wichtig“, sagt Fräulein Honigohr streng, „er mag es nicht, wenn es laut ist. Ok?“ Der Zwerg, der jetzt kein Zetermordio-Zwerg mehr ist, nickt leise und guckt staunend auf seine Hand. Der Hirsch beknabbert leuchtend seinen Daumen.
„Na dann“, sagt Fräulein Honigohr. Sie richtet sich auf und lächelt die halbjunge Frau an, die nichts von alldem mitbekommen hat. „Zehn Minuten und Sie sind da. Viel Spaß!“ Dann geht sie weiter. Sie hat es schließlich eilig.

Fräulein Honigohr und die graue Dame

Fräulein Honigohr steht in der Küche und backt Kekse, als ihr ein seltsames Gefühl den Rücken hoch läuft. Irritiert dreht sie sich um, aber da ist niemand. Kopfschüttelnd schaufelt sie die restlichen Kekshäufchen aufs Blech und schiebt es in den Ofen, sammelt die benutzten Schalen und Löffel ein und lässt Wasser ins Abwaschbecken laufen. Während sie auf das Wasser wartet, taucht das seltsame Gefühl wieder auf. Ist nicht alles, was sie hier gerade tut, sinnlos? Und hat sie diesen Löffel und diese Schüssel nicht schon hundertmal, ach was, tausendmal abgewaschen? Wozu das ganze wiederholen? Und die Kekse im Ofen, braucht sie die wirklich? Hätte sie nicht auch einfach welche kaufen können? Und wie kühl es in der Küche ist!
Fräulein Honigohr blickt nachdenklich auf das Abwaschwasser, dann dreht sie sich um. „Frau Melancholia! Wie komme ich zu der Ehre?“ Vor ihr lehnt eine dünne graue Dame grazil am Kühlschrank. Sie wedelt sich mit einem grauen Fächer langsam Luft zu, während sie Fräulein Honigohr nachlässig die Fingerspitzen zur Begrüßung hinhält. Fräulein Honigohr haucht vorsichtig einen Kuß darauf. „Wie geht es Ihnen?“ fragt sie höflich. „Möchten Sie einen Tee? Ich hätte frische Kekse da, wenn Sie noch fünf Minuten warten mögen?“
Die graue Dame seufzt. „Ach, Kind. Du weißt doch, ich esse nur selten. Dieser ganze Umstand, nein, das ist mir alles zuviel.“ Am Küchenfenster bildet sich eine Eisblume.
„Dann vielleicht nur den Tee?“
„Nein, nein, mach dir nur keine Umstände, das ist nicht nötig, wirklich nicht… ich wollte nur kurz vorbeisehen und schauen, wie es dir geht. Unter diesen ganzen Umständen.“ Der Fächer bewegt sich etwas heftiger als zuvor.
Fräulein Honigohr lächelt vorsichtig. „Mir? Mir geht es gut. Natürlich nur, soweit die Umstände es zulassen“, schiebt sie schnell hinterher, als sich das Gesicht der grauen Dame verfinstert.
„Soso… dir geht es also gut…“ Die Dame starrt Fräulein Honigohr mit grauen Augen ins Gesicht. „Das ist ja… schön.“ Sie seufzt tief und lange, und die Temperatur in der Küche sinkt um drei Grad.
„Natürlich ist es nicht einfach, gerade“, versucht Fräulein Honigohr zu retten, was zu retten ist.
„Nicht einfach… nicht einfach…“ Die graue Dame schüttelt sanft den Kopf und tupft den Ansatz einer Träne aus ihrem rechten Augenwinkel. Die Küchenwände scheinen sich von unten nach oben grau einzufärben. „Kind, du hast ja keine Ahnung! Was ich ertragen musste in den letzten Monaten! Soviel Arbeit, ich weiß schon gar nicht mehr, wo mir der Kopf steht… siehst du? All diese grauen Haare!“ Sie streicht mit ihren eleganten grauen Handschuhen über ihr sorgfältig hochgestecktes graues Haar.
Fräulein Honigohr nickt verständnisvoll.
„Und ach! Nur so wenige, die mich zu schätzen wissen! Aber das war ja schon immer so. Vielleicht erwarte ich einfach zuviel.“ Die graue Dame legt ihren Arm entsagungsvoll vor die Stirn. „Dabei möchte ich doch nur respektiert werden. Geliebt zu werden erwarte ich ja schon gar nicht mehr, dabei bin ich es doch, die dem Morgengrauen Tiefe verleiht! Und dem Nebel sein Geheimnis schenkt!“ Sie schluchzt trocken auf und die Küchenlampe verliert an Helligkeit.
Fräulein Honigohr legt sanft eine Hand auf den Arm der grauen Dame. „Ich weiß Sie zu schätzen, Frau Melancholia. Was wäre der Mond ohne Sie? Oder die durchwachten Nächte? Niemals hätten sie eine solche Schwärze, wenn es Sie nicht gäbe.“
Die graue Dame seufzt tief und versucht zu lächeln. „Ich weiß, mein Kind. Du und ich, ach, das war eine schöne Zeit, aber alles geht vorbei und wird zu Asche, nicht wahr… “ Sie sieht sehnsuchtsvoll in die Ferne, was in Fräulein Honigohrs kleiner Küche eigentlich unmöglich ist. Dann richtet sie sich auf. „Aber was verliere ich mich in Erinnerungen! Die Gegenwart ruft mich! Es ist soviel zu tun, von überall werde ich gerufen, ach, wie ich das nur alles schaffen soll!“ Ihr Grau beginnt bei den letzten Worten silbrig zu schimmern und wirft einen fahlen Glanz über Fräulein Honigohrs Küchenmöbel. „Ich muss nun gehen!“ ruft sie theatralisch und wirft beide Hände in die Luft, lässt den grauen Fächer aufklappen und wird durchsichtig. „Bis nächstes Mal, mein Kind! Vermiss mich ruhig, ich weiß, es ist schwer ohne mich…“ Dann ist sie verschwunden.
Fräulein Honigohr atmet tief durch. Ein kleiner Rest Grau hängt noch in der Luft, aber die Temperatur ist schlagartig um fünf Grad gestiegen und alle Farben sind zurück. Die Kekse sind fertig und verbreiten einen himmlischen Duft. Frau Melancholias Besuche sind stets unerwartet, aber immer effektvoll. Fräulein Honigohr nimmt sich einen der warmen Kekse. Es ist von Vorteil, sie immer zur Hand zu haben.

Fräulein Honigohr geht einkaufen

Fräulein Honigohr schlackert mit dem Einkaufskorb in der Luft herum und überlegt, ob sie lieber Himbeeren oder Johannisbeeren kaufen soll. Himbeeren sind süßer, aber Johannisbeeren knacken so schön im Mund, wenn man sie zerbeisst, und danach jagen sie einem süßsaure Schauer über die Haut. Sie legt beides in ihren Korb und wandert weiter zu den Pfirsichen. Dort drückt eine ältere Frau ihren Daumen in jeden einzelnen Pfirsich. Alle haben danach eine Delle in der samtweichen Haut. Fräulein Honigohr stellt ihren Korb auf den Boden und schaut interessiert zu.
„Na“, sagt sie nach ein paar Sekunden und ein paar weiteren Dellen, „das Obst ist heute aber auch wieder steinhart, was?“
„Was?“ Die Frau dreht sich zu Fräulein Honigohr um.
„Das Obst“, sagt Fräulein Honigohr geduldig, „steinhart, oder?“
„Wieso?“ fragt die Frau mit giftigem Unterton.
„Na, ich sehe doch, wie genau Sie alles prüfen.“
„Was geht Sie das an? Kümmern Sie sich um ihren eigenen Kram!“ Die Frau stösst ihre Nase in Fräulein Honigohrs Richtung und verschießt Pfeilblicke. Dann wendet sie sich den Pflaumen zu.
Fräulein Honigohr kraust ihre Nase. Dann stellt sie sich neben die Frau. „Ich meine ja nur. Aber die Pflaumen sind wunderbar heute. So saftig und weich.“ Sie legt ein paar in ihren Einkaufskorb, nickt der älteren Frau zu und wendet sich den Regalen mit den Nüssen zu.
Die Frau sieht ihr wütend hinterher und drückt ihren Daumen extra fest in die Pflaume vor ihr. Aber die Pflaume leistet Widerstand. Sie ist steinhart. Genau wie die nächste und die übernächste. Abschätzig betrachtet die Frau die blauen, harten Früchte. Recht hat sie, alles zu überprüfen! Die Aprikosen fühlen sich an wie Glasmurmeln. Die Weintrauben seltsamerweise auch. Selbst die Bananen tun so, als ob sie aus Stein wären. Irritiert sieht die Frau sich um. Die anderen Kunden scheint das überhaupt nicht zu stören, sie laden fröhlich Aprikosen, Bananen und Äpfel in ihre Einkaufswagen. Langsam geht die Frau zurück zu den Pfirsichen. Nachdem sie kurz nach links und rechts geguckt hat, legt sie ihren Daumen vorsichtig neben die Delle, die sie vorhin hineingepresst hat und drückt zu. Nichts. Der Pfirsich gibt keinen Milimeter nach. Die Frau läuft rot an. Als sie aufblickt, steht Fräulein Honigohr vor ihr.
„Vielleicht sollten Sie lieber auf Nüsse ausweichen“, sagt Fräulein Honigohr und lächelt sanft. „Das Obst ist heute ausgesprochen unnachgiebig. Aber das wissen Sie ja schon.“
Die Frau starrt Fräulein Honigohr an. Dann hebt ein winzigkleines Lächeln ihre Mundwinkel etwa einen halben Milimeter an. „Nicht schlecht“, sagt sie und es schwingt eine Spur Anerkennung in ihrer Stimme. „Nicht schlecht.“

Fräulein Honigohr und die Liebe

Fräulein Honigohr lehnt sich aus dem Fenster. Es ist ein schöner Tag, die Vögel fliegen halsbrecherisch wie selten und sie hat etwas Seltsames gehört. Da! Ganz leise und von weit über ihr klingt es wie „Iii… ebt… Iii…“ Was ist das? Neugierig läuft sie hoch auf den Dachboden, öffnet eins der schrägen Fenster und sieht hinaus.
Ein kleiner Mann steht in der Dachrinne. Er hat Flügel, aber sie sehen ziemlich kläglich aus. Er flackert wie eine gesprungene Neonröhre, ein grüner Schimmer umgibt ihn wie Brechreiz. „Gebt mir ein L! Gebt mir ein I! Gebt mir ein E!“ ruft er mit heiserer Stimme über die Dächer, aber seine Stimme trägt nicht weit. „Gebt mir ein B! Gebt mir ein E!“
„Ach so“, murmelt Fräulein Honigohr, dann beugt sich sie aus dem Fenster. „He! Du! Geht´s dir gut?“
Der kleine Mann zuckt zusammen und dreht sich um. „Hast du mich gehört?“ fragt er hastig. Fräulein Honigohr nickt.
Der kleine Mann bricht in Tränen aus. Seine Flügel sinken herab. „Du hast mich gehört!“ schluchzt er, „niemand hat mir zugehört seit Ewigkeiten!“
Fräulein Honigohr zieht ganz leicht die Augenbrauen hoch. „Naja“, sagt sie, „du buchstabierst. Aus einer Regenrinne im vierten Stock. Klar hört dich da keiner.“
Der kleine Mann legt die Hände vors Gesicht. „War das falsch?“ flüstert er.
Fräulein Honigohr seufzt unhörbar. Himmel. Was bringen sie den Neuen heutzutage eigentlich bei? „Willst du einen Kaffee? Ich glaube, du könntest einen brauchen, oder?“ Sie lächelt einladend.
Der kleine Mann fliegt fast, so schnell läuft er die Dachziegel hoch. Seine Flügel schleifen hinter ihm her. Er stürzt sich in Fräulein Honigohrs Arme.
„Du bist aber anschmiegsam“, quetscht sie hervor und spuckt eine Feder aus. „Ist gar nicht so einfach, heutzutage Liebe zu verkünden, was?“
„Du hast ja keine Ahnung“, flüstert der kleine Mann.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Sie laufen wieder, hurra, die Sommerpause ist vorbei! Vielen Dank für die Organisation, Christiane, ich freu mich. Wortspender war Ludwig Zeidler, die drei unterzubringenden Worte waren Brechreiz, anschmiegsam und buchstabieren, und es durften nicht mehr als 300 Worte sein. Ich habe 298. 😊

Fräulein Honigohr und die Geschichte

Fräulein Honigohr ist müde. Gerade hat sie sich mit drei jungen Männern gestritten, und vielleicht war sie ein bisschen zu autoritär. Ach was, wem macht sie was vor, sie war genauso schrecklich wie die drei vorher zu ihr. Die Zeiten sind übel.
Sanft streicht sie über ihr Lieblingsbuch. Der Erzählstoff ist ihr ausgegangen, sie hatte gehofft, der Park würde ihn zurückbringen, aber da ist nichts.
Ein Schatten fällt auf ihr Gesicht. Vor ihr steht einer der jungen Männer, die sie hinausgeworfen hat. Er sieht unbehaglich aus. Fräulein Honigohr lehnt sich zurück.
„Also… äh… “ Der Mann windet sich. „Ich… tut mir leid.“
Fräulein Honigohr klopft mit der Hand auf die Parkbank. „Setz dich.“
Der junge Mann zuckt, als ob er lieber weglaufen würde, dann lässt er sich fallen und guckt auf seine Schuhspitzen. Irgendwann entspannt er sich. Ein kleiner Wind spaziert vorbei. Das Buch in Fräulein Honigohrs Händen vibriert. Sie richtet sich auf. „Hier, halt mal“, sagt sie, „ich glaube, du hast eine Geschichte für mich.“
Der Mann wirft ihr einen irritierten Blick zu, und da springt das Buch auf. Seine Seiten sind leer. Verständnislos guckt er auf die weißen Blätter.
Fräulein Honigohr hebt den Zeigefinger. „Warte“, sagt sie. Eine sehr kleine Hand taucht aus den Seiten auf, ein Kopf folgt und in Nullkommanichts hat sich eine weibliche Gestalt aus dem Buch gezwängt. Sie zieht einen Jungen hinter sich her. Zusammen spazieren sie über den Parkweg.
Der Mann starrt mit offenem Mund. „Das ist… das… “ stottert er.
„Pssst“, flüstert Fräulein Honigohr, „nur zugucken. Wenn dir was nicht gefällt, kannst du es später ändern. Ist ja deine Geschichte. Ok?“
Der junge Mann zittert und nickt. Er lässt die beiden winzigen Gestalten nicht aus dem Blick. Das Buch in seinen Händen seufzt vibrierend. Es sieht aus, als ob es lächeln würde.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Organisiert werden sie von Christiane mit ihrem Blog Irgendwas ist immer, vielen Dank dafür! Die Wortspende kam von Katharina und ihrem Blog Katha kritzelt, und sie lauteten: Erzählstoff, sanft und vibrieren, zu verwenden in maximal 300 Wörtern, was wie immer eine Herausforderung war. Soviele gestrichene Wörter, die jetzt weinend irgendwo herumirren! Das Leben ist hart. 😊

Fräulein Honigohr und der Schneemann

Bevor man den folgenden Text liest, könnte man zuerst diesen hier lesen. Und diesen hier. Man muss natürlich nicht, aber es macht dann mehr Spaß. Und Sinn auch.

Fräulein Honigohr und der Schneemann

Gedankenverloren öffnet Fräulein Honigohr den Kühlschrank und schlägt die Tür sofort wieder zu, als ihr Geschrei entgegenschlägt: „Du hast es versprochen! Lass mich raus hier! Es ist stinklangweilig! Wehe, du machst die Tür wieder…“ Sie lehnt sich gegen die Kühlschranktür und atmet tief durch. Das muss unbedingt aufhören. Langsam artet dieser Zustand zu einer unfreiwilligen Diät aus, und sie kann ja nicht immer Kekse essen. Obwohl… nein. Energisch macht sie die Kühlschranktür ein zweites Mal auf.
„Ha! Ich wusste, dass du dich nicht traust! Lass mich sofort raus hier! Ist mir egal, ob es draußen zu warm ist! Du hast es versprochen!“ Der kleine Schneemann hämmert mit den Schneefäusten von innen an die blaue Glaskugelwand. Sein Gesicht schimmert besorgniserregend violett in all dem Blau, und das, obwohl der Käse aus der Nachbarschachtel sich alle Mühe gibt, für ein bisschen gelb in der Kugel zu sorgen.
Fräulein Honigohr seufzt. „Was soll ich deiner Meinung nach denn tun?“ fragt sie den Schneemann, „willst du etwa schmelzen? Als Wasserpfütze kann das Leben ziemlich seicht sein.“
Der Schneemann drischt mit seinem Besen von innen gegen die Kugelwand. „Das ist mir egal! Du hast ja keine Ahnung, wie langweilig es hier drin ist! Und dunkel! Lass wenigstens die Tür auf!“
„Nein! Weil es dann nämlich warm wird im Kühlschrank!“ Fräulein Honigohr wirft einen kurzen Blick aus dem Fenster. Keine Spur von Schnee, dafür nieselt es, und viel zu viele Schirmträger sind draußen unterwegs.
Der Schneemann wirft seinen Besen hinter sich, verschränkt die Arme und schmollt. „Du bist schuld! Wenn du dich nicht in die Kugel gewünscht hättest, hätte deine Doppelgängerin es nicht schneien lassen, ich wäre nicht gebaut worden und nicht mirnichtsdirnichts in dieser vermaledeiten Weihnachtskugel gelandet!“
„Du hast mir übrigens immer noch nicht verraten, wie du in die Kugel geraten bist. Irgendwas muss doch passiert sein, oder?“ Fräulein Honigohr sieht den Schneemann bohrend an.
„Das geht dich nichts an!“ Der Schneemann starrt bohrend zurück.
„Ach! Aber retten durfte ich dich?“ Fräulein Honigohr denkt an die hektische Rettungsaktion mit Kühltasche und Eisakkus zurück, und wie sie versucht hat, Herrn Brummeck die Existenz eines lebendigen Schneemannes in einer blauen Weihnachtsbaumkugel zu erklären. Sein Gelächter muss kilometerweit zu hören gewesen sein. Sie schnaubt.
„Natürlich! Du bist schließlich schuld!“ Der Schneemann funkelt sie aus seinen Kohleaugen an.
Was soll sie nur tun? Auf jeden Fall muss sie dieses schlecht gelaunte Eispaket aus ihrem Kühlschrank bekommen, oder sie wird in absehbarer Zeit ebenfalls sehr schlecht gelaunt sein, und dann kann sie für nichts garantieren. Und ihre Doppelgängerin läuft aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch irgendwo da draußen herum. Auf jeden Fall gab es seltsame Nachrichten in den letzten Tagen, das Internet berichtete über Spontanpartys auf überraschend zugefrorenen Seen, die Anwohner hätten am Morgen die Überreste von Riesenbuffets entdeckt, aber kein Caterer hatte entsprechende Aufträge. Die Gerüchteküche brodelt wie ein Punschtopf, den jemand auf dem Feuer vergessen hat. Wie lange wird ihr kleines Weihnachtsfeierexperiment wohl andauern? Fräulein Honigohr hofft auf eine nicht allzu lange Lebensdauer, aber wer weiß das schon genau? Die Weihnachtstage haben ihre eigene Energie, die alles verstärkt und manchmal zu unberechenbaren Ergebnissen führt. Moment. Schuldet ihr der alte Mann nicht noch etwas? Er müsste mittlerweile wieder zuhause sein und sitzt wahrscheinlich in der Sauna, um sich von all dem Trubel zu erholen. Und bei ihm ist es kalt. Außer in der Sauna natürlich. Aber ansonsten: Endlose Schneeberge, eisige Kälte, Nordlichter, soviel das Herz begehrt. Da findet sich doch bestimmt ein Plätzchen für Herrn-ich-meckere-sobald-jemand-die-Kühlschranktür-öffnet? Fräulein Honigohrs Stimmung hellt sich auf.
„Was hast du? Du führst was im Schilde, ich seh das doch!“ Der Schneemann beobachtet sie misstrauisch, die Schneefäuste gegen die blaue Glaswand gestützt. „Sag mir sofort, was du vorhast! Du kannst nicht einfach machen, was du willst, hörst du? Du bist schließlich schuld! Was soll denn die Kühltasche? He! Wo bringst du mich hin? Lass das! Es ist schon wieder dunkel überall, laaaaas daaas!“
Fräulein Honigohr schließt die Kühltasche mit einem erleichterten Seufzer. Das wäre erledigt. Jetzt braucht sie nur noch eine Mitfahrgelegenheit. Ob der Ostwind ihr heute gewogen ist? Einen Versuch ist es wert. Sie schlingt den Schal um den Hals und steigt die Treppe zum Dachboden hinauf. Vielleicht hat ja auch der Teppich heute noch nichts vor. Und wenn doch: Die Aussicht auf Nordlichter hat ihn noch immer überzeugt.