Manchmal ist alles zuviel. Das Telefon klingelt. Auf dem Flur klappern Absätze. Deine Kollegin ißt einen Apfel. Dein Chef monologisiert nebenan. Telefonate hallen an den Wänden entlang. Die Flurtür geht alle fünf Minuten auf und zu. Der Kopierer rauscht. Ein zoom-Meeting findet im Büro neben dir statt. Vor dir stapeln sich die unerledigten Aufgaben, aber in deinem Kopf rauscht es. Und dann kommt das Ohropax. Wie verheißungsvoll es sich zwischen deine hektischen Finger schmiegt und jede Form annimmt, die du willst! Der Moment, wo du es am Rande deiner Kräfte erst ins eine Ohr, dann ins andere drückst. Und dann: Das pure Glück, wenn es sich ausdehnt und die Aussenwelt draussen hält, wenn die himmlische Stille langsam in deinen Kopf sickert und sich ausbreitet wie weicher Nebel. Die unglaubliche Stille, der Friede. Ja. Glück ist definitiv wie Ohropax.
Heute könnte der Tag der Südfrüchte werden. Speziell ein Tag der Orangen. Fast als erstes heute morgen habe ich eine Orange geschält und ihr Duft hat die Küche geflutet. Als ich den Joghurt über die Orangenstücke gegeben habe, hat er wohlig geseufzt, ich hab´s gehört. Die zweite Orangenhälfte gab es zum Frühstück und der Tag wurde heller. Dann habe ich überlegt, dass der Duft mich durch den Tag begleiten könnte. Er würde sich mit dem Schnee vermischen, der überraschenderweise heute Nacht gefallen ist und sich auf der Arbeit in die Kaffeeküche einschleichen. Später dann äße ich den Orangenjoghurt und er würde mir zuflüstern: „Es gibt immer etwas Schönes, du musst nur ein bisschen suchen“, und dann würde ich mit neuem Schwung weiterarbeiten. Am Nachmittag würde ich an Sommer denken, an Seen und Badetücher und an Vanilleeis mit Orangensauce und mir Mut zusprechen. Es geht voran, doch, das tut es. Und beim Abendessen mit einer Freundin läge Orangenduft im gut gekühlten Rosé. Ich denke, heute ist der Tag der Südfrüchte. Der Duft ist schon da, und nach dem Rest muss ich nur ein wenig suchen.
Ein Gärtner zupft Unkraut aus dem Schottersteingarten und die Morgenluft riecht nach Katzenfutter. Die Fabrik arbeitet. Ein paar Krähen krächzen, während die alte Abfertigungshalle sich rosa färbt und geheimnisvoll verheißungsvoll aussieht im Morgendunst. Nebenan rattert ein endloser Güterzug über die Weichen und übertönt die zwei Vögel, die schon mal für den Frühling proben. Der Tag arbeitet an sich. Und ich bin sehr zufrieden mit ihm.
Als Kind wollte ich abends nicht schlafen gehen. Die wachen Stunden waren so kostbar! Das Lesen am Abend war kostbar. Solange ich nicht eingeschlafen war, war der Tag nicht vorüber und der neue Tag konnte nicht kommen. Der neue Tag war unvorhersehbar, er fing mit dem Aufstehen an, und das war schmerzhaft. Ich war so müde, immer und überall. Trotzdem wollte ich abends nicht schlafen gehen. Der Abend hatte etwas Magisches, die dunkle Jahreszeit noch viel mehr als Frühling und Sommer. Im Herbst schrumpfte meine abendliche Welt auf mein Bett und das jeweilige Buch zusammen, alles andere verschwand. Ich war in einem Kokon aus Zeitlosigkeit, Nachttischlampenlicht und Papierwelten eingesponnen, und das war alles, was ich wollte. Schlafen wollte ich auf jeden Fall nicht. An besonderen Tagen, vor Weihnachten, Geburtstagen oder Nikolaus, war ich hin- und hergerissen zwischen Schlafen und Wachbleiben. Die Vorstellung, dass zwischen meinem Einschlafen und dem Aufwachen viele Stunden lagen, endlose, mäandernde, sich ausdehnende Stunden, in denen ich nichts tat als daliegen, verursachten mir fast körperliche Schmerzen. Es war kaum auszuhalten, wie lange ich schlafen würde, ohne es zu merken, bis es endlich Morgen wäre. Wenn ich allerdings nicht schlief, würde es noch viel länger dauern, bis es endlich Morgen wäre. Nichts davon war damals ein Widerspruch. Meine Eltern fanden es weniger schön, dass ich nicht schlafen wollte. Es war ein immerwährender Kampf, und wenn im Türspalt unten am Teppichboden noch Licht zu sehen war, gab es Ärger. Also legte ich eine Decke vor den Türspalt und sperrte das Licht ein, damit es nicht unkontrolliert im Haus herumwanderte. Das Licht trickste mich aus und wanderte durch das Schlüsselloch hinaus und wieder gab es Ärger. Auch meine Taschenlampe wurde entdeckt und für die Nacht konfisziert. Trotzdem schlief ich nicht. Ich ging immer zu spät schlafen, jeden Abend, und ich war tagsüber immer müde. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte meines Lebens. Auf einmal war der Preis eines müden Tages höher als der der gestohlenen Stunden in der Nacht. Vielleicht ist das der Preis, den man für das Erwachsenwerden zahlt.
Als ich aus der Tür trete, versperrt ein Satz mir den Weg. „Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Ich bleibe irritiert stehen, die Türklinke in der Hand. „Äh“, stammle ich, denn der Satz verlangt Beantwortung. Mehr fällt mir allerdings erst mal nicht ein. Dann versuche ich es mit „von oben und zur Arbeit?“. Ich mache einen winzigen Schritt nach vorn. Mir ist, als ob der Satz die Arme verschränkt und streng guckt. „Ok, ok“, sage ich hastig und überlege. Wo komme ich her? Und wo will ich eigentlich hin? Ich lehne mich in die offene Tür und knibbele an meiner Unterlippe. Als es mir endlich klar ist, lächle ich. „Ich komme aus der Enge und möchte in die Weite“, sage ich und bin mir sicher. Der Satz verneigt sich leicht und löst sich auf. Der Morgen ist hell. Ich mache mich auf den Weg.
Erschöpfung ist eine leergetrunkene Quelle, die nur langsam nachfließt. Kann für sehr kurze Zeit mit einem Schokocappuccino ausgetrickst werden. Bewegt sich ungern. Ist nachtragend.
Ohnmacht ist ein Zwilling. Der kleinere verhalf Frauen in früheren Zeiten kurz zu einer Auszeit. Der größere Bruder sieht gern aus tiefen, dunklen Brunnenschächten zu einem hinauf und erschreckt mit seiner hohlen Echostimme. Hat keinerlei Humor, ist aber befreundet mit dem Sarkasmus.
Verachtung hält sich selbst für die Größte und die Klügste. Hat immer Recht. Es ist einsam um sie herum, aber ganz oben ist es halt einsam. Das nimmt sie in Kauf.
Ratlosigkeit würde gern so vieles, aber es sind immer alle Wege verbaut. Sie lebt in einem lebenslangen Labyrinth, aber sie weiß es nicht.
Vertrauen streckt die Hände aus, wenn es nach ihr ginge, liefen immer alle Hand in Hand. Sie leuchtet von innen heraus. Ihre dunkle Schwester ist die Enttäuschung, die ihr oft vorwirft, die Realität zu verleugnen. Vertrauen sieht sie dann liebevoll an und fragt, ob sie mit zum Schaukeln kommt.
Vor einem Jahr saß ich an meinem Schreibtisch und dachte, ich komme hier nie raus. Die Nachbarn stritten wie die Kesselflicker (ist das eigentlich diskriminierend?) und die weggelaufenen Kinder wurden mit Taschenlampen und Geschrei gesucht. Begegnungen im Treppenhaus waren mühsam. Ich sitze wieder am Schreibtisch. Es ist ruhig. Ich habe den Nachbarn Schokoladenkuchenpäckchen vor die Türen gestellt. Auf dem neuen Balkon leuchten die Osterglocken in den Tag. Ich werde weiter für alle backen. In der Vormieterblumenschale sind die Tulpenknospen kurz vorm Platzen. Gestern war meine Nachbarin zu Besuch. Ich habe die Christrose in den Vorgarten gepflanzt, und niemand wird sie abmähen. Es wird eine Dankeschön-Umzugsparty geben und wir werden viele sein. Der Sommer wird ein Balkonsommer werden.
Engel mit unausgesprochenen Verspannungen fliegen über uns. Sie spiegeln sich in halbleeren Rotweingläsern und halten ihre Fahnen hoch: Widerstehe. Bleib mutig. Bewahre Zuversicht. Ich zupfe altersmüde Ranunkelblätter auf Hasenservietten und träume vom Frühling. Einmal in Tautropfen baden und nicht an Morgen denken. Täglich auferstehen. Ich übe Zuversicht streng nach Lehrplan.
Das Leben schmeckt nach Müdigkeit und Sonne, nach glasklarem Himmel und eisigen Winden. Es schmeckt nach dumpfem Zuviel in den Knochen und endlosem Hunger nach Leben und nach Buntheit. Die Buntheit hält mich wach, sie fordert mich auf, komm und sieh! Es gibt soviel zu sehen. Blüten, Vögel, Aufbruch, Versprechungen überall. Die Buntheit zieht mich aus der Müdigkeit und lässt meine Knochen schlackern, sie malt Wolken in den blauesten aller blauen Himmel und lässt mich lila Blumen kaufen. Dabei tupft sie Schneeflocken auf meine Zunge und Honig, überschüttet mich mit Dohlen mit viel zu großen Zweigen in den Schnäbeln, während ich im sibirischen Wind stehe und fröstele. Sie lenkt meine Aufmerksamkeit auf die kleinen Blattknospen zwischen den Gitterstäben, die tapfer im Wind zittern. Das Leben schmeckt nach Überfluß und den Gedanken an andere, die zuwenig haben, und es schmeckt nach dem Wunsch nach immerwährendem Frieden auf Erden und überall. Im Nacken sticht die Gewissheit, dass es so wohl nicht sein wird, aber auf meiner Zunge liegt noch der Wunsch und kitzelt wie Brausepulver. Mein Leben schmeckt nach Bewunderung für diejenigen, die Aufbrechen und sich auf den Weg machen, um Frieden zu bringen und die die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit zum Leuchten bringen. Und im Abgang, ganz hinten im Rachen, da schmecke ich zwischen zartbitterer Müdigkeit Möglichkeiten. Sie duften nach Birne und Vanille und leuchten bunt. Da ist sie wieder, die Buntheit. Dem Himmel sei Dank für die Buntheit.
Es wird jetzt jeden Tag heller, immer ein paar Minuten mehr. Das Licht nimmt zu, das ist schön. Vielleicht werden wir alle enger zusammenstehen und begreifen, was Gemeinschaft bedeutet. Vielleicht begreifen wir auch sehr schnell, was wir an unserem Staat haben und wie wertvoll er ist. Ich hoffe auf die sozialen Medien, wie schlimm sie auch sonst sind, darauf, dass sie verbreiten, was auf anderem Wege im Osten nicht mehr verbreitet werden kann, und dass die Menschen unzufrieden sind mit dem, was ihnen vorgesetzt wird. Und nach Alternativen Ausschau halten. Ich hoffe darauf, dass Gott dableibt und den Menschen den Rücken stärkt. Verflüchtigt hat sich in den letzten Tagen zuviel. Ich weiß wenig, aber hoffen kann man immer. Also hoffe ich auf seine Anwesenheit. Abgesehen davon sehe ich den Balkonsommer auf mich zukommen, trotz allem, mit Schirm, Plantschbecken und Blumen: Eine Sommerresidenz. Heller kann ich gerade nicht sehen, tut mir leid. Mir tun alle Menschen leid, die aus ihrem Leben und ihrem Alltag gerissen werden, weil ein älterer Mann seinen Lebenstraum bedroht sieht. Mir ist gerade nicht wirklich nach Gedichten. Aber schreiben ist lebenswichtig. Na dann: Schreibe ich eben trotzdem. Überhaupt. Ein Trotzdem sollte es immer geben.