Nichtigkeiten

Der Nichtigkeitenbär füllt den Tag mit Wahrheit. Du siehst ihm zu, während er Tee kocht, auf dem Balkon Vertrocknetes über die Brüstung schnipst und dein Handyspiel zockt. „Willst du auch mal?“ fragt er freundlich und du nickst eifrig. So schwer kann das doch nicht sein! Bei ihm sieht alles so leicht aus.
Du versuchst, genauso entspannt wie er das nächste Level zu knacken, versagst aber jämmerlich: Als du die dreißig rosa Rosen anklickst, hast du ein schlechtes Gewissen, beim Teekochen fragst du dich schon wieder, ob du deine Zeit nicht sinnvoller verbringen solltest.
Der Nichtigkeitenbär klopft dir auf den Rücken. „Nicht aufgeben, du schaffst das!“ sagt er aufmunternd und isst einen Schokokeks. „Dein Tag hat 24 Stunden. Du kannst nicht jede Minute davon sinnvoll verbringen, das klappt nicht.“
Du nickst. Du bist ja noch in der Ausbildung. Aber einfach wird das nicht.

Gesangbuch

Im Bücherregal steht ein kleines Buch mit Goldschnitt.
Seine dünnen Seiten sind bedruckt mit Leidenschaft und komprimierten Liebeserklärungen.
Ich habe es selten geöffnet.
Jetzt drehe und wende ich es, der Goldschnitt glänzt in der Sonne.
Würde etwas passieren, wenn ich es öffne und lese?

Bräuche

Am Anfang eines jeden Jahres legten alle ihre Zukunftsängste in einen Korb, bis er voll war. Der Korb kam in die Mitte unserer Runde, alle nahmen sich eine Handvoll Ängste und zogen sie auf dünne Halme. Oben und unten kam ein Knoten in den Halm, damit keine der Ängste hinunterrutschen und wieder in Umlauf kommen konnte. Als alle fertig waren, legten wir die vollen Halme feierlich auf den Grill und rösteten sie langsam, bis sie braun und knusprig waren. Das dauerte eine Weile, besonders die großen Zukunftsängste brauchten ewig, bis sie ganz durch waren.
Dann begann der beste Teil des Festes: Wir tunkten die warmen Halme in flüssige Schokolade und aßen sie mit Bedacht. Knusprig, leicht salzig, dazu die Schokolade, die perfekt zu den Bitternoten passte – wir fühlten uns wie neugeboren danach, frei wie Vögel. Warum hatten wir damit nicht schon viel früher begonnen?

Philosophierereien

Die Dinge, die am einfachsten zu bekommen sind, haben ein schlechtes Image. Angetrocknetes, geschnittenes Brot zum Beispiel. Es ist da, aber ist es verlockend oder nur der bequemste Weg, satt zu werden? Luxusfragen, ich weiß.
Oder Kirchen: Nehme ich den Raum und die Akustik wahr? Oder das komplexe System aus Glaube, Hoffnung, Liebe, das auch im Raum schwebt?
Das Wort Paradies ist in meinem Sprachschatz fest mit dem Wort Perfektion verbunden. Alles ist perfekt, alles funktioniert, nichts muss. Und dann frage ich mich, ob ich eigentlich jemals nachdenke? Perfektion ist Vollendung, Abgeschlossenheit, alles ist fertig. Wenn aber alles fertig ist, wo bin ich da drin? An mir ist gar nichts vollendet. Da stelle ich mir lieber vor, dass das Paradies entweder ein Ort ist, an dem es immer etwas Sinnvolles, Schönes zu tun gibt oder dass es so weit außerhalb meines Vorstellungsvermögens liegt, dass ich nicht weiter darüber nachdenken muss.
Oft taucht in meinem Kopf das Paradies aka „der Himmel“ als verbesserte Version der Erde auf. Vermutlich lacht Gott jedes Mal, wenn ich wieder darüber nachdenke, wer im Himmel eigentlich das Bad putzt. Einerseits ist der Gedanke surreal, andererseits: Wer bin ich, dass ich bestimme, dass niemand gern Bäder putzt? Ich kenne genau mich und dann noch etwa 45 weitere Menschen. Alle anderen kenne ich nicht. Die Frage, wessen Glück darin liegen könnte, Bäder zu putzen, habe nicht ich zu beantworten.
Überhaupt, die Frage nach dem Glück. Glück ist flüchtig wie Seifenblasen. Gerade da, schon wieder weg. Aber ich sehne mich nach dem Moment der perfekten (da haben wir es schon wieder!), schillernden Blase, bevor sie zerplatzt und produziere immer neue Blasen. Was, wenn die Erinnerung an den glücklichen Moment genauso gut ist wie der Moment selbst? Denn selbst im Moment des größten Glücks ist es angegriffen durch das Wissen um seine Vergänglichkeit.
Man könnte sich Orte suchen, an denen das Glück wohnt. Sehnsuchtsorte, an denen etwas an einem zerrt und an denen man gleichzeitig gestreichelt wird, an denen die Ruhe wohnt und von denen aus man wieder in die Welt aufbrechen möchte. Glücksorte. Sie sind gut versteckt. Man muss nach ihnen suchen wie nach Ostereiern. Sie haben etwas paradiesisches und das ist gut. Es bedeutet nämlich, sie haben eine Pforte, durch die man eintreten kann.

Was ich mag und was ich nicht mag

Ich mag die Momente zwischen Aufbruch und Ankommen. Die schwebende Leichtigkeit des Unterwegsseins. Noch nicht da, aber schon weg. Der Aufbruch an sich ist nicht meins, die Hektik, die kleinen Momente der Lustlosigkeit und des doch nicht Aufbrechenwollens, die Angst, das Entscheidende zu vergessen – Stress pur. Und das Ankommen ist mit unangenehm viel Realität verbunden, so also ist es, so wird es werden, ob schön, mittel oder ach Gott, wär ich doch nie losgefahren: Ich mag das Unterwegssein.
Ich mag kurze Texte, schön pointiert, mit überlegten Sätzen. Ansonsten, als Leserin, mag ich auch lange Geschichten. Sehr lange. Oder Gedichte, die mag ich auch sehr. Komprimiertes Leben in fünf Zeilen, mit offenem Ende und Frage zum Schluß – perfekt.
Ich mag Schokocreme auf Brötchen. Ich mag definitiv keine gesunden, veganen Brotaufstriche zum Frühstück. Schwarzen Tee mag ich, aber er muss mit Milch sein. Kuhmilch, bitte. Haferflöckchen im Morgentee lassen den Morgen ins Stolpern kommen.
Ich mag es, Regentropfen auf Glasdächern zu hören. Es erinnert mich daran, wie trocken, warm und geschützt ich bin und wie gut es mir geht. Das Geräusch lässt mich auch an den Geruch nach nasser Erde denken. Den Geruch von nassen Menschen und Hunden in der Straßenbahn mag ich nicht. Die beschlagenen Scheiben lassen mich an Gewächshäuser denken, die Frage ist nur, was dort wächst.
Ich mag rohen Kohlrabi und Erbsen frisch aus der Schale. Tomaten in Maßen sind ok. Gurken sind überflüssig, ich esse sie, aber ohne Begeisterung oder Elan. Sie sind einfach zu gurkig. Sie erinnern mich an Wasser in grüner Schale mit merkwürdigem Aroma.
Ich mag Orangenöl. Sein Duft erinnert mich an Sommer. Ich mag Vanille und Kardamom und frisch gemörserten Pfeffer. All diese Düfte! Ich mag es, riechen zu können. Rapsfelder riechen mag ich nicht. Der Raps frisst sich direkt durch die Nase ins Hirn und zersetzt dort meine Sommerträume. Rapsfelder aus der Ferne dagegen sind toll.
Ich mag keine Spaziergänge. Und die ohne Ziel und Zweck mag ich noch viel weniger. Warum sollte ich sinnlos durch die Gegend laufen? Meistens dabei angetrieben von wohlmeinenden Freunden, die gern schneller und viel weiter laufen würden als ich und immer einen imaginären Spazierrekord im Kopf haben, den sie mit mir zusammen nie erreichen werden. Ich mag keine Wanderungen. Ab und zu mache ich irgendjemandem zuliebe doch eine, und es endet immer etwa zwei bis drei Kilometer vor dem Ziel mit Unlust, Müdigkeit und der Erkenntnis, dass ich jetzt nicht abbrechen kann, weil ich irgendwo im Nirgendwo bin. Und nein, ich habe nie einen plötzlichen Ehrgeiz, weiter zu wandern.
Ich mag es, Wege zu Fuß zu erledigen. Stundenlang durch eine fremde Stadt zu laufen, hier und da ein Eis zu essen, einen Kaffee zu trinken und weiterzulaufen, Dinge zu entdecken, der Kopf leer und frei für neue Eindrücke.
Ich mag es nicht, mit anderen zusammen eine Kirche zu besichtigen. In Kirchen muss man allein gehen, offen für die Stille und den Raum und vielleicht für ein Flüstern Gottes. Das geht nicht mit anderen, die einem die eigenen Entdeckungen mitteilen möchten und mich zerfusseln lassen in viele kleine Wahrnehmungsfetzchen. Komplett zerstört ist die Stille, wenn ein Selfie vor dem Altar gemacht werden soll.
Ich mag Stille. Ich mag Handys nur im Lautlosmodus. Ich mag keine Handygespräche, weder eigene noch fremde. Ich mag es nicht, fremden Handygesprächen zuzuhören, außer, es sind außerordentlich spannende. „Wo bist du? Wo bin ich?“-Gespräche gehören nicht dazu.
Ich mag Bahnfahren. Ich mag keine Mitreisenden. Irgendwann packt jeder sein Fischbrötchen, seine Äpfel oder Chips aus und fängt an zu essen, und dabei klingelt das Handy. Ich mag keine Kaugeräusche.
Ich mag Picknicks. Draußen mit anderen auf einer Decke zu essen ist wundervoll, trotz Ameisen und Wespen. Im Idealfall wehen Gräser und Butterblumen im Wind und nebenan fließt ein Bach vorbei. Das Paradies auf Erden!

Und ihr so?

Zankäpfel

Wenn man nun alle Zankäpfel einsammeln würde, die rauen, die harten, die wütenden, die ungerechten, die meinungshaltigen, die aus alten Verletzungen, und sie einkochen würde, mit viel Zucker und Liebe, und sie sehr lange kochen ließe, dann würden all die Gemeinheiten und der Unfriede sich auflösen wie Dampf über dem Kochtopf. Und übrig bliebe reinstes Apfelmus, und dann würden wir Pfannkuchen backen und zu Abend essen.

Friedensalphabet: Scherben kitten

Einen Teller zu zerschlagen dauert eine Sekunde und ist leicht.
Einen Teller aus Scherben zu rekonstruieren ist schwer und kann Stunden dauern. Der Teller ist hinterher ein anderer Teller und er hat auch denjenigen verändert, der ihn repariert hat. In den Stunden, die sie zusammen verbracht haben, hat der Teller Worte wie „Geduld“, „Beharrlichkeit“, „Reue“ und „Liebe“ geflüstert, und einige davon wurden gehört.

Wenn …

Wenn…

… ich morgens um zehn schon wieder müde bin
… meine Lieblingsband nervt
… der verschwundene Autoschlüssel mich in Tränen ausbrechen lässt
… ich gereizt bin weil der Wind falsch weht
… Autofahrten mich melancholisch an verschwundene Kindheitsstätten erinnern
… der Alltag ein langes, graues Band ist
… niemand mich mehr mag
… es nur noch regnet
… dann weiß mein Herz, die Welt ist eine trostlose Einöde mit gelegentlichem Stechmückenbefall. Und das wird sich nie, nie wieder ändern.

Aber zum Glück gibt es auch meinen Kopf. Und der weiß, mein letzter richtiger Urlaub ist lange her.

Es wird Zeit. Noch drei Tage.

Wenn…
… drei Tage länger als die Ewigkeit dauern
… alle, alle schon vor mir Urlaub haben
… der letzte Keks an jemand anderes ging
… seufz

Friedens-Alphabet: Herde

H wie Herde: In einer Herde herrscht erst Friede, wenn zuvor Kämpfe ausgefochten wurden. Das mag man unschön finden, aber ohne die Kämpfe gibt es keinen gemeinsamen Weg. Ständig würden Tiere auseinanderlaufen oder begännen immer wieder von vorn, zu klären, wer die oder der Stärkste ist und das Sagen hat. Wenn das klar ist, beginnt die Herde das, was sie soll: Zusammenhalten gegen den Rest der (Jäger-) Welt. Alleine ist man nichts, zusammen alles.

Friedens-Alphabet: Hoheitsgebiete

H wie Hoheitsgebiet: Es gibt große und kleine Hoheitsgebiete. Die großen sind für viele Menschen festgelegt, die kleinen trägt jeder Mensch mit sich herum. Wenn nun jemand von außen unbefugt in ein Hoheitsgebiet eindringt, sticht er ein Loch hinein und der Friede entweicht wie Luft aus einem Loch in einer Luftmatraze. Wenn aber der Friede entweicht, macht er Platz für anderes: Unmut, Zorn, Angst, Wut, lauter Wachstumsbeschleuniger für den Krieg.

Ort schöner lauer Sommerabende mit netten Menschen