Fräulein Honigohr und der Fingerhut

Fräulein Honigohr stuppst den lila Fingerhut mit dem Zeigefinger an. Er nickt und setzt die Blüten an der Dolde in zitternde Bewegung. Ein süßlicher Duft breitet sich aus. „Wir hatten das doch besprochen“, sagt Fräulein Honigohr, „du hast Wohnrecht am Fluss, in allen kinderlosen Gärten und an der Autobahn. Aber nicht hier.“ Sie stuppst ihn erneut, dieses Mal etwas nachdrücklicher.
Der Fingerhut grollt. Ein Beben geht durch das lila Feld, wütende Parolen steigen auf, untermalt mit Glöckchenklang. „Nein“, sagt Fräulein Honigohr und sie klingt streng, „ihr wart nicht zuerst hier. Zufällig weiß ich, dass der Kindergarten vor euch da war.“
Der Fingerhut zuckt mit den Blättern.
„Meinetwegen“, sagt Fräulein Honigohr, „dann ist eben der Wind schuld. Trotzdem haben wir ein Abkommen. Also!“ Sie blickt auffordernd um sich. Die Fingerhüte fluchen glöckchenhell und neigen sich zusammen. Dann richten sie sich auf und weigern sich, Fräulein Honigohr anzusehen. Sie schüttelt den Kopf. „Wenn ihr das Abkommen brecht, garantiere ich für nichts. Ich kenne einen Gärtner, der in einer Stunde hier sein kann.“
Der erste Fingerhut erstarrt. Alles ist still, kein Blatt rührt sich. Fräulein Honigohr bekommt fast ein schlechtes Gewissen, aber wenn sie nicht durchgreift, ist nächstes Jahr der gesamte Kindergarten umschlossen von Fingerhut und dann kommt erst recht der Gärtner. „Du hast die Wahl“, sagt sie und streicht dem Anführer über die Blüte, „Umzug heute nacht an die Flussauen und ihr lasst bis dahin keinen einzigen Samen frei. Oder den Gärtner in einer Stunde.“
Blütenschweres Schweigen antwortet ihr, dann steigen lila Flüche empor, die Dolden reiben sich aneinander und bemitleiden sich. Fräulein Honigohr ist unnachgiebig. Schließlich nickt der Anführer widerwillig.
„Geht doch“, sagt Fräulein Honigohr. „Wir sehen uns um Mitternacht.“ Als sie aufbricht, zischt es giftig hinter ihr her. Tja, denkt sie, man kann nicht mit jedem befreundet sein.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Die Regeln sind maximal 300 Wörter und im Text unterzubringen ist die Wortspende, dieses Mal gespendet von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Sie ist auch die Organisatorin der abc-Etüden – vielen Dank dafür!

Frau Möllendiek rechnet

Frau Möllendiek sitzt auf ihrem Sofa und versucht sich zu entspannen, aber es klappt nicht. Die Unterwürfigkeit, die geht ihr am meisten auf die Nerven. Sie ist schließlich keine Tyrannin, oder? Sie hat ein Vertragsverhältnis, so ist das. Wer einen Vertrag eingeht, ist gebunden, da gibt es nichts zu rütteln. Mit Unterwürfigkeit kommt man da nicht weiter, so leid es ihr tut. Wobei, es tut ihr eigentlich nicht leid. Sie kann ja schließlich nichts dafür, wenn andere ihr Geld verjubeln. Sie verlangt nur das, was ihr zusteht!
Neulich hat sie sich mit der Ökofrau gestritten, die ihr kapitalistische Ausbeutung vorgeworfen hat, weil sie zwei Wohnungen besitzt. Hallo? Sie kann doch nichts dafür, dass sie ein bisschen Eigenkapital geerbt hat! Die Wohnung ist für ihre Altersversorgung, also für jetzt, und sie möchte die Miete bitteschön pünktlich haben, nicht erst dann, wenn ihr Mieter seine Schulden abbezahlt hat. Obwohl sie das Geld nicht unbedingt braucht, wenn sie ehrlich ist. Aber es geht ums Prinzip! Auch wenn ihr Mieter bislang immer pünktlich gezahlt hat.
Frau Möllendiek verschränkt die Arme. Da könnte ja jeder kommen! Wehret den Anfängen! Sie hat sich noch nie verschuldet! Sie hört die Stimme der Ökofrau in ihrem Kopf, obwohl sie versucht wegzuhören: ‚Kein Wunder, Sie hatten ja auch noch nie ernsthafte Geldprobleme, da ist es leicht, über andere zu meckern…‘ Sie muss zugeben, da ist was Wahres dran, aber das tut nichts zur Sache, und überhaupt: Sie würde ihren Zahlungverpflichtungen immer nachkommen, Ehrensache. Schließlich bricht man ein Vertragsverhältnis nicht. Oder?
Eigentlich mag sie ihren Mieter. Er ist ernsthaft, stets korrekt und hat bislang nie versucht, sie übers Ohr zu hauen. Er flirtet auch nicht auf diese peinliche Art. Frau Möllendiek reckt das Kinn. Vielleicht kann sie doch ein oder zwei Wochen warten. Schließlich ist sie keine kapitalistische Ausbeuterin! Oder?

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, wie immer organisiert von Christiane – vielen Dank dafür! Die Beitragbedingungen gibt es oben im Bild zu lesen. Wortspender war Werner Kastens mit seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Fiese Worte dieses Mal, echt jetzt! 😁

In fernen Ländern: Die Stadt.

Teil 2

Die Bärin wanderte durch die Straßen der Stadt und schnupperte. Irgendwo vor ihr schlief der dunkle Wald, sie konnte ihn in ihren Tatzen spüren, sein Ein- und Ausatmen, sein Rauschen unter dem Nachthimmel. Sehen konnte sie ihn nicht, die Häuser versperrten ihr die Sicht. Sie hatte ganz vergessen, wie dicht die Häuser hier standen, wieviel Leben es hier unten gab. Auf ihrem Turm hatte sie wie eine Königin über die Dächer geblickt und sich gefragt, warum die Stadt in ihrer Erinnerung seltsam eng gewesen war. Jetzt wusste sie es wieder.
Sie hielt die Nase in die Luft. Es roch nach verbranntem Holz und Kerzenwachs, weit vor ihr beleuchtete einer der seltsamen kleinen Menschen eine Transportstation, in der sich eine verängstige Kellerassel zusammengerollt hatte. Die Bärin ging lieber auf ihren eigenen Beinen anstatt das Kellerasselnetz zu nutzen. Diese Wesen waren zu empfindlich, immer wieder kam es vor, dass sie sich erschreckten und zusammenrollten, egal, wer gerade auf ihnen saß. Diese hier hatte sich vor einer Feder gefürchtet. Die Bärin sah nach oben. Weit über ihr auf der Spitze eines langen, schmalen Gebäudes mit zahllosen Fenstern hatten Waldkäuze mit dem Nestbau begonnen und es mit ihren eigenen Federn weich gepolstert. Von Zeit zu Zeit gingen Federn verloren und fielen auf die Straßen. Sie waren begehrt als Besen oder Bettdecken und blieben nie lange liegen, aber die Kellerasseln mochten sie nicht. Drei Menschen versuchten, diese Assel mit Stöcken und gutem Zureden dazu zu bringen, sich wieder zu entrollen. Die Bärin schnaubte und lief schneller. Mit den Waldkäuzen war nicht zu spaßen, wenn sie kurz vor der Brut standen, und sie hatte keinerlei Lust, zu einem schnellen Abendessen zu werden. Über ihr flogen nun schon vier Käuze, und es kam ihr vor, als ob sie sie beobachten würden.
Die Stadt schien gewachsen zu sein seit ihrem letzten Ausflug in die Straßen. Überall gab es neue Häuser mit dunklen Fenstern, unbekannte Abzweigungen ohne Bezeichnungen verloren sich in der Nacht. Wo waren die Lampenträger, wenn man sie brauchte? Die Bärin schnaubte unbehaglich. Die Sehnsucht nach ihrem Turm flackerte auf wie eine Wunderkerze und erlosch genauso schnell wieder. Nein! Der Turm war nicht die Lösung. Aber vielleicht hätte sie bis zum Morgen mit ihrem Aufbruch warten sollen, bei Tageslicht sah alles anders aus. Aber der dunkle Wald hatte nach ihr gerufen, sie war sich sicher. Und wer einen Grund zum Aufbruch hatte, sollte nicht warten, das war Bärengesetz.
Trotzdem, hier war sie noch nie gewesen, gar nichts kam ihr bekannt vor, und das Kopfsteinpflaster fühlte sich rund und fremd an unter ihren Tatzen. Nicht einmal Kellerasseltransporte oder Waldkäuze waren unterwegs. Die Bärin brüllte herausfordernd die Nacht an. Weit vor ihr antwortete ein dünnes Stimmchen: „Oh, gut, bitte, helfen Sie uns! Folgen Sie dem Mondschein! Schnell, schnell, warten Sie nicht!“
Die Bärin hob die Nase, dann lief sie los.

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Dein Schweinehund handelt

Als du in die Küche kommst, sitzt dein Schweinehund am Tisch. Mit einer Pfote hält er sein Kinn, die andere liegt auf dem Tisch.
„Na?“, sagst du, „hast du auf mich gewartet?“
Er seufzt tief und lang, schüttelt leicht den Kopf und sieht dich mit einem dramatischen Wimpernaufschlag an. Du spürst, wie dein Puls in die Höhe schnellt. „Was?“ fragst du gereizt.
„Ach, ach, ach“, seufzt dein Schweinehund, „du hast es wieder getan!“ Er hebt seine Pfote vom Tisch. Da liegt die Murmel, die du heute morgen gekauft hast. Sie hat weißorangene Strudel innen und grüne Streifen und sie glänzt im Licht.
„Ja, und?“ fragst du.
„Haben wir nicht erst letzte Woche über unser Budget gesprochen? Und über sinnlose Dinge? Du hast gesagt, ich würde zuviel Geld für Fellpflege ausgeben, erinnerst du dich?“ Dein Schweinehund schubst die Murmel hin und her, sie macht kleine Kullergeräusche auf dem Tisch. „Und jetzt das!“ Er zeigt anklagend auf die orange schillernde Murmel.
„Nun…“, du versuchst Zeit zu gewinnen, „so teuer war sie gar nicht…“ Du verstummst. Mist.
Dein Schweinehund lächelnd triumphierend. „Du gibst also zu, dass du sinnlose Dinge kaufst!“
Du weißt, wann du verloren hast. „Ja“, gibst du zu.
Dein Schweinehund reckt eine Pfote in die Luft wie ein Boxer nach einem gewonnenen Kampf.
„Aber“, sagst du, „guck doch, wie schön sie ist, und ich liebe Glas, und sie erinnert mich an früher, und ich habe gesehen, dass du den Conditioner mit dem Vanilleduft gekauft hast und ihn hinter dem Shampoo versteckst.“
Dein Schweinehund verschränkt die Arme. „Das ist nicht dasselbe! Guck nur, wie verfilzt mein Fell ist!“ Er streicht mit den Pfoten auf seinem Bauch herum, an dem das Fell seidig glänzend herunterhängt. Es sieht aus wie immer.
„Ich verstehe“, sagst du verständnisvoll. Ihr schweigt eine kleine Weile.
„Was hältst du davon“, sagst du, „du kaufst deinen Conditioner und ich behalte meine Murmel?“
Dein Schweinehund knurrt leise.
„Und“, schiebst du schnell hinterher, „rein zufällig habe ich zwei Murmeln gekauft. Ich schenke dir eine, ok?“
Dein Schweinehund guckt interessiert. „Haben sie unterschiedliche Farben?“
„Ja“, sagst du.
„Darf ich aussuchen?“
„Meinetwegen.“
„Deal!“ ruft er und reicht dir die Pfote.

In fernen Ländern. Der Turm.

Teil 1

Die Bärin überlegte langsam und gründlich, während hinter ihr der Tee abkühlte. Wie lange wohnte sie nun schon in diesem Turm? Waren es zwei oder drei Jahre? Sie hatte in den langen Wintermonaten den Überblick verloren, und vielleicht auch ein wenig ihren Biß, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Der beste Blick der Stadt, hatten die Reiher ihr zugeschrien, als sie heimatlos und mager nach einer Unterkunft gesucht hatte. Sie wäre nicht wählerisch gewesen damals, auch eine Mansarde oder ein trockener Keller hätten ihr genügt, ein wenig nette Nachbarschaft und sie wäre glücklich gewesen. Dann kam der Turm. An so etwas hatte sie nicht einmal in ihren entferntesten Träumen gedacht. Hoch oben, uneinnehmbar, mit einem kleinen Küchengarten, in dem Honigminze wuchs, ein winziger Raum mit einem grünem Sessel für ihre Nickerchen, die Wasserspeier an den vier Ecken bewachten ihre Nächte und unter ihr wohnte Frau Flausch, eine reizende Häsin, mit der sie sich sofort anfreundete. Die Reiher kreisten um den Turm damals, als sie ihr Glück nicht fassen konnte, und schrien „haben wir es nicht gesagt? Haben wir es nicht gesagt?“
Das hatten sie und sie hatten Recht gehabt. Die Bärin summte vergnügt und täschelte die gewundenen Hörner des Wasserspeiers, auf dem sie saß. Er blökte und zischte, er konnte es nicht leiden, wenn man ihn streichelte, das verletze die Würde seines Amtes, wie er der Bärin bei jeder Gelegenheit ausführlich darlegte, und Gelegenheiten gab es oft, denn die Bärin liebte es, den Wasserspeier zu ärgern. Weit unter sich sah sie den Turm der Graukatzen. Auf der Kuppel des Turms schlief Marlo, der große Kater. Die Bärin summte wieder vergnügt. Der Turm war ein gutes Heim. Er erfüllte seine Aufgaben vorbildlich, und wenn am Abend der Nachtwind blies, knisterte die Honigminze und ihre Blätter wuchsen ein kleines Stück dem Himmel entgegen. Und trotzdem war da ein dünner Splitter in ihrer Brust, der sich bewegte, wenn sie atmete. Die Wälder waren so groß gewesen. Die Flüsse wild nach dem Frühjahrsregen. Der Nachthimmel beängstigend schwarz vor der Morgendämmerung. Ihre Gefährten ungestüm und rau, und sie hatten ihr Junge geschenkt. Der Honig war nie besser gewesen als wenn sie ihn sich mit den wütenden Bienen teilen musste.
Der Turm war perfekt. Die Bärin stützte sich mit ihren Vordertatzen auf den knurrenden Wasserspeier und betrachtete die Straßen unter sich. Ihr Tee war kalt geworden. Auf der Spitze ihres Turms saß ein Eichelhäher mit einem Zweig im Schnabel. Sie grüßten sich freundlich, dann flog der Vogel davon, dorthin, wo im Abenddunst weit hinten die Wälder langsam einschliefen und raschelnd ihre dunklen, grünen Träume träumten.
Die Bärin öffnete ihr Maul und rief nach den Flüssen, den Eichen und Kiefern und dem Nachthimmel, und während sie das tat, spürte sie, wie ihre Zähne ein Stück wuchsen. Der Wasserspeier zischte überrascht. „Oh“, sagte er, „deine Zeit hier geht zu Ende!“ Die Bärin reckte sich, streckte ihre Hintertatzen und atmete die Nachtluft ein. Sie schmeckte Libellen und Glühwürmchen auf ihrer Zunge und schrie ein Bärenbrüllen. Alle ihre Nachbarn antworteten ihr, und während sie ihnen zuhörte, flüsterte sie: „Ja.“

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Evita

In die letzten Töne legte sie noch einmal allen Schmerz, den das Lied in sich hatte, verwob ihn mit ihrer Stimme zu einem Teppich aus Emotionen und ließ die Noten dann sanft ausklingen. Perfekt. Sie hatte es immer noch drauf. Sie drückte ihre Hände bebend an ihren Busen, ein bisschen Theater gehörte schließlich dazu, und öffnete die Augen. Die Frau mit der schrecklichen Lockenfrisur legte gerade ihr Handy auf den Tisch, wahrscheinlich hatte sie sie gefilmt. Sehr gut. Publicity, egal wo, hatte noch niemandem geschadet. Hinter ihr wurde sparsam geklatscht, aber ansonsten war ihr Publikum heute ein undankbares Pack, Bier und Wein waren wichtiger als ihr zuzuhören. Gott, wie sie diese Geburtstagsfeiern verachtete… die immergleichen, dunklen Lokale mit den Pokalen an der Wand, den Muff von Generationen ungewaschener Mäntel und Hüte in den Garderoben, das Publikum ungebildet und fern jeglicher Kultur. Sie warf ihre Kunst den Schafen zum Fraß vor, so sah es aus. Sie nahm das Kinn hoch, drückte den Rücken durch und lächelte mit schmerzenden Wangen. Niemals würde sie hier, in diesem Kaff, vor diesen Leuten zusammenbrechen, sie nicht. Sie war Künstlerin durch und durch, ließ sich beflügeln von der Musik, emportragen von reiner Schönheit, die sie hervorbrachte, sie allein. Sie würde die Leute hier aus ihrer Lethargie reißen, oh ja, das würde sie tun. Ohne sich umzudrehen, zischte sie ihren Gitarristen „A New Argentina“ zu und hörte, wie Klaus einatmete. „Herta, bitte“, sagte er, „wir haben eine Playlist!“
Sie kniff die Augen zusammen und drehte sich halb um. „Na und?“ flüsterte sie eisig, „dann werfe ich sie eben um. Dieses Publikum braucht etwas anderes!“
Klaus verdrehte die Augen, der neue Gitarrist blickte auf seine Hände. Sie warf den Kopf in den Nacken und sog Evitas Leben in sich ein, bevor sie die ersten Töne sang. Was machte das schon. Dann suchte sie sich eben neue Musiker, Gitarristen gab es wie Sand am Meer, solche Stimmen wie ihre aber nicht. Sie hatte ein ganzes Leben zu verteidigen und alle Entscheidungen, die sie hierhergebracht hatten, an diesen nach Bier stinkenden Ort in der tiefsten Provinz. Niemals würde sie aufgeben. Und dann sang sie.

Das war ein Beitrag zur Impulswerkstatt von Myriade. Ja, ich weiß, dass das vermutlich eine Fado-Sängerin ist, die weiß, was sie tut und sehr gut ist, aber ich musste sofort an die dunklen Lokale meiner Kindheit denken, voll mit rustikaler Eiche und Trockenblumensträußen auf den Fensterbänken, mit den Musikern, die ein paar Stunden lang die Gäste amüsieren sollten und vermutlich lieber etwas ganz anderes gemacht hätten. Auch, wenn die Mitternachtsbuffets meistens gut waren. 😊

Ent-Einschüchterung im Institut für experimentelle Lebensberatung

Die Beraterin beugt sich soweit nach vorne, dass der schwarze Stoff ihres Kostüms an den Schultern spannt. „Na los! Entscheiden Sie sich! Wie lange wollen Sie noch überlegen? Wir wollen nicht hier übernachten, oder?“ Ihre Augen glitzern, die verschiedenfarbigen Fingernägel glänzen. Es macht ihr Spaß, eindeutig.
Ich zögere. Ich kann mich nicht entscheiden. „Vielleicht… vielleicht doch alles mehr nach links? Nein! Lieber nach rechts! Oder… wir lassen alles wie es ist?“
„Meine Güte!“ Die Beraterin haut mit der Faust auf den Tisch. „Entscheiden Sie sich endlich! Das kann doch nicht so schwer sein!“
Ich zucke zusammen. Das war grob. Ich kann mit Grobheit nicht umgehen, etwas in mir schrumpelt dann wie verbranntes Papier zusammen. „Ich weiß nicht…“, hauche ich, „ist es denn nicht egal, wie…“
„Nein!“ brüllt die Beraterin, „Sie MÜSSEN sich jetzt entscheiden! Jetzt! Los!“ Sie starrt mich an, und ich fühle, wie meine Unzulänglichkeit mich immer kleiner macht. Und dann, als ich mit gebeugtem Rücken da sitze und auf den Boden starre, unfähig, mich zu entscheiden, ploppt ein kleines Fünkchen Aufsässigkeit in mir auf. Was passiert hier gerade? Langsam hebe ich den Kopf und sehe die Beraterin an. Grinst sie etwa gerade? Ich richte mich auf. „Wir müssen heute gar nichts entscheiden“, sage ich leise.
„Was?“ brüllt die Beraterin, „warum flüstern Sie so? Können Sie nicht lauter reden?“
„Nein“, sage ich und stehe auf. „Und ich denke, wir beenden das jetzt.“
Die Beraterin atmet durch, richtet ihr Kostüm und sieht sehr zufrieden aus.
„Das macht Ihnen Spaß, oder?“ frage ich. Das Erstaunen über meine Widerworte rinnt warm durch meine Adern.
Die Beraterin nickt. „Es ist noch besser, als Lehrerin zu sein, und das will was heißen“, sagt sie und grinst genauso breit wie die Grinsekatze, als sie Alice begegnet.
„Sie sind gut“, sage ich.
„Ich weiß“, antwortet sie.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Alles, was man wissen muss, steht oben im Bild mit der wunderbaren Tafel mit der schrecklichen, für mich völlig unverständlichen Formel. 😁 Organisiert wird alles von Christiane und die Wortspende kommt von Gerhard und seinem Blog Kopf und Gestalt. Und falls jemand die anderen zwei Beiträge zum Institut für experimentelle Lebensberatung lesen möchte, bitteschön:

Termin im Institut für experimentelle Lebensberatung
und
Beratungszimmer Nr. 3 im Institut für experimentelle Lebensberatung

Wilbert

Lustlos bohrte Wilbert mit dem Zahnstocher im ersten der fünf Schlösser herum. Natürlich öffnete es sich nicht, und er stieß noch einmal heftiger zu. Prompt brach der Zahnstocher ab und blieb zur Hälfte im Schloss stecken. Jetzt hatte er nur noch zwei Zahnstocher für vier Schlösser.
Nebenan hörte er die anderen hektisch herumlaufen und schreien, das bis eben noch versteckte Geheimzimmer schien eine Vielzahl neuer Aufgaben zu bieten. Von Anfang an hatte er keine Lust zu diesem Escape-Room-Spiel gehabt, aber natürlich war er überstimmt worden. Er konnte froh sein, wenn sie ihn mitnahmen, so war das. Er war langsamer als die anderen, sein Kopf schaltete einfach nicht so schnell und wenn jemand einen Witz erzählte, lachte er immer ein wenig später als alle anderen. So war er nun mal, das war ok, aber zu diesem blöden Escape-Room hätte er einfach nein sagen sollen.
Stirnrunzelnd piekste er mit dem zweiten Zahnstocher in Schloss Nr. 2 und 3 herum. Nichts. Natürlich wussten die anderen um seine Schwächen und hatten ihm eine überschaubare Aufgabe zugewiesen: ‚Versuch die Schlösser aufzukriegen, Wilbert, vielleicht ist was im Schrank, was wir noch brauchen!‘ Klar. Das sah doch jeder, dass der Schrank eine Attrappe war. Er hätte gern in das Geheimzimmer geguckt, da drin ging die Post ab, aber er würde auf seinem Posten bleiben und seine Aufgabe erledigen. Er versuchte es mit Schloss Nr. 4, brach den zweiten Zahnstocher ab und bekam einen Splitter in den Finger. Wilbert seufzte unhörbar und versuchte, das Gejohle von nebenan zu ignorieren. Noch eins übrig. Ganz sachte schob er es in das fünfte Schloss und tastete nach einem Widerstand, einer Lücke, nach irgendetwas. Nichts. Genervt schüttelte er den Kopf, versuchte sich zu beherrschen und verlor. Heftig schlug er mit der Faust gegen die Schrankattrappe und die ganze Vorderfront schwang nach innen auf und ließ einen dunklen Tunnel zum Vorschein kommen.
Wilbert blinzelte. Er sah noch einmal hin. Das ergab keinen Sinn. In vielem war er langsamer als die anderen, aber sein Orientierungssinn war immer gut gewesen. Hier hätte kein Tunnel sein dürfen. Hier war die Außenwand des Gebäudes, soviel stand fest. Hatten sie sowas wie eine Rutsche angebaut? Aus dem Tunnel kam ein kühler Luftzug. Von nebenan hörte er die anderen schreien und lachen. Nun, er hatte den Schrank, der eigentlich eine Attrappe war, geöffnet, seine Aufgabe war erledigt, also konnte er doch jetzt etwas Neues tun, oder? Entschlossen schob er sich mit den Beinen in den Tunnel hinein. Seine Füße baumelten in der Dunkelheit, kalte Luft wehte von unten an seinen Beinen entlang, dann stieß er sich ab und verschwand.
Hinter ihm schloss sich leise die Schranktür. Eine kleine Weile später erschien ein verschwitzter Mädchenkopf aus dem Geheimzimmer und sah sich erstaunt um. „Wilbert? Wo bist du?“ rief sie, aber alles blieb still.

Beratungszimmer Nr. 3 des Instituts für experimentelle Lebensberatung

Im Beratungszimmer Nr. 3 des Instituts für experimentelle Lebensberatung flattert ein aufgeregtes „Nein!“ durch die Luft. Ab und zu klatscht es gegen eine Wand oder die Decke, fällt zu Boden und fliegt ein paar Sekunden später wieder auf. Ein zweites „Nein“ wälzt sich mattgrau auf dem Boden herum und seufzt von Zeit zu Zeit laut.
Ich betrachte beide „Neins“ und schüttele entschlossen den Kopf. „Keines von beiden“, sage ich.
Die Beraterin nickt. Ihre vielfarbigen Fingernägel klopfen ein kleines Muster auf den riesigen Tisch. „Wie müsste es denn aussehen?“ fragt sie.
„Ich weiß auch nicht“, sage ich, „aber so nicht.“ Ich kann gerade noch ausweichen, als das erste „Nein“ frontal auf mich zufliegt.
Die Beraterin macht eine Handbewegung und die beiden „Neins“ lösen sich mit einem Zischen in Luft auf.
„Es müsste“, sage ich langsam, „luftig sein. Leicht. Vielleicht mit einem grünen Klingeln. Es soll entschlossen sein, aber nicht zu entschlossen. Aber trotzdem eindeutig. Nicht misszuverstehen. Und freundlich. Ja. Ein leichtes, freundliches, unmissverständliches „Nein“.“ Ich strahle. Das ist es!
Die Beraterin faltet die Hände. Ihre vielfarbigen Fingernägel leuchten, ihr schwarzes Kostüm sitzt tadellos, trotzdem wirkt sie ein klein wenig angespannt. „Gut, gut“, sagt sie, „dann üben wir weiter. Ich bitte um Konzentration! Wir wollen doch nicht wieder Klatscher produzieren!“
Ich zucke zusammen. Die waren wirklich unangenehm, ich war einen Moment lang abgelenkt, habe an meinen Chef gedacht und schon war es zu spät. Ich nicke mit schlechtem Gewissen und versuche, nicht auf die kleine Beule auf der Stirn der Beraterin zu gucken.
„Dann los!“ ruft sie spannt einen Regenschirm auf.
„Nein!!“ schreie ich, so laut ich kann.

Ja, es geht voran mit mir – hier starte ich, falls ihr es wissen wollt 😊.

Möwen

„Na los“, sagte seine Mutter und schob ihn nach vorn, „du schaffst das!“
Der Junge umklammerte das Abschiedsgeschenk seiner Tante. Der Schein fühlte sich dünn und feucht in seiner Hand an, und er ballte die Finger, um ihn ja nicht zu verlieren. Die Ladentür schloss sich mit einem Klicken hinter ihm. Drinnen war es hell und blau, weiße Regale voller Leuchttürme, Ministrandkörbe und Kerzen umgaben ihn wie Hochhäuser. Er wusste, wo die Schneekugeln standen und dass er alleine nicht herankam. Also ging er zur Kasse.
Die Frau hinter der Kasse musterte ihn ohne zu lächeln. „Na?“ sagte sie auffordernd.
Der Junge spürte den Schein in seiner Hand. „Ich möchte die Schneekugel mit den Möwen drin. Da hinten!“ Er zeigte auf das Regal.
„Hm“, sagte die Frau. Sie rührte sich nicht. „Hast du Geld dabei?“
„Ja“, sagte der Junge und hielt ihr den zerdrückten Schein hin. Die Frau nickte, nahm den Schein, faltete ihn auseinander und sah ihn prüfend an. Dann ging sie zum Regal, der Junge folgte ihr. „Nein, nicht die“, sagte er, als die Frau eine Kugel in die Hand nahm, „die daneben, mit den zwei Möwen.“
Die Frau zog die Augenbrauen hoch und stellte die erste ins Regal zurück. „Aber die hier ist größer“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte der Junge, „aber die Möwe da drin ist einsam. Ich möchte lieber eine mit zwei Möwen, dann können sie sich unterhalten.“
Etwas im Gesicht der Frau schmolz. Zum ersten Mal blickte sie den Jungen freundlich an. „Da hast du recht“, sagte sie und nahm die kleinere Kugel mit den zwei Möwen aus dem Regal. „Ich packe sie dir ein.“
Der Junge strahlte, als er mit einer kleinen Tüte in der Hand aus dem Laden kam. „Na, glücklich?“ fragte seine Mutter. Er nickte heftig. Die Tüte war schwer. Die Frau hatte ihm noch einen Wetteranzeiger geschenkt, der die Farbe wechselte, wenn das Wetter sich änderte. Er war ein bisschen verstaubt und der Meerjungfrau fehlte eine Hand, aber das war nicht schlimm. Der Tag fühlte sich süß an.

Tratschmöwen