Gesangbuch

Im Bücherregal steht ein kleines Buch mit Goldschnitt.
Seine dünnen Seiten sind bedruckt mit Leidenschaft und komprimierten Liebeserklärungen.
Ich habe es selten geöffnet.
Jetzt drehe und wende ich es, der Goldschnitt glänzt in der Sonne.
Würde etwas passieren, wenn ich es öffne und lese?

Philosophierereien

Die Dinge, die am einfachsten zu bekommen sind, haben ein schlechtes Image. Angetrocknetes, geschnittenes Brot zum Beispiel. Es ist da, aber ist es verlockend oder nur der bequemste Weg, satt zu werden? Luxusfragen, ich weiß.
Oder Kirchen: Nehme ich den Raum und die Akustik wahr? Oder das komplexe System aus Glaube, Hoffnung, Liebe, das auch im Raum schwebt?
Das Wort Paradies ist in meinem Sprachschatz fest mit dem Wort Perfektion verbunden. Alles ist perfekt, alles funktioniert, nichts muss. Und dann frage ich mich, ob ich eigentlich jemals nachdenke? Perfektion ist Vollendung, Abgeschlossenheit, alles ist fertig. Wenn aber alles fertig ist, wo bin ich da drin? An mir ist gar nichts vollendet. Da stelle ich mir lieber vor, dass das Paradies entweder ein Ort ist, an dem es immer etwas Sinnvolles, Schönes zu tun gibt oder dass es so weit außerhalb meines Vorstellungsvermögens liegt, dass ich nicht weiter darüber nachdenken muss.
Oft taucht in meinem Kopf das Paradies aka „der Himmel“ als verbesserte Version der Erde auf. Vermutlich lacht Gott jedes Mal, wenn ich wieder darüber nachdenke, wer im Himmel eigentlich das Bad putzt. Einerseits ist der Gedanke surreal, andererseits: Wer bin ich, dass ich bestimme, dass niemand gern Bäder putzt? Ich kenne genau mich und dann noch etwa 45 weitere Menschen. Alle anderen kenne ich nicht. Die Frage, wessen Glück darin liegen könnte, Bäder zu putzen, habe nicht ich zu beantworten.
Überhaupt, die Frage nach dem Glück. Glück ist flüchtig wie Seifenblasen. Gerade da, schon wieder weg. Aber ich sehne mich nach dem Moment der perfekten (da haben wir es schon wieder!), schillernden Blase, bevor sie zerplatzt und produziere immer neue Blasen. Was, wenn die Erinnerung an den glücklichen Moment genauso gut ist wie der Moment selbst? Denn selbst im Moment des größten Glücks ist es angegriffen durch das Wissen um seine Vergänglichkeit.
Man könnte sich Orte suchen, an denen das Glück wohnt. Sehnsuchtsorte, an denen etwas an einem zerrt und an denen man gleichzeitig gestreichelt wird, an denen die Ruhe wohnt und von denen aus man wieder in die Welt aufbrechen möchte. Glücksorte. Sie sind gut versteckt. Man muss nach ihnen suchen wie nach Ostereiern. Sie haben etwas paradiesisches und das ist gut. Es bedeutet nämlich, sie haben eine Pforte, durch die man eintreten kann.

Was ich mag und was ich nicht mag

Ich mag die Momente zwischen Aufbruch und Ankommen. Die schwebende Leichtigkeit des Unterwegsseins. Noch nicht da, aber schon weg. Der Aufbruch an sich ist nicht meins, die Hektik, die kleinen Momente der Lustlosigkeit und des doch nicht Aufbrechenwollens, die Angst, das Entscheidende zu vergessen – Stress pur. Und das Ankommen ist mit unangenehm viel Realität verbunden, so also ist es, so wird es werden, ob schön, mittel oder ach Gott, wär ich doch nie losgefahren: Ich mag das Unterwegssein.
Ich mag kurze Texte, schön pointiert, mit überlegten Sätzen. Ansonsten, als Leserin, mag ich auch lange Geschichten. Sehr lange. Oder Gedichte, die mag ich auch sehr. Komprimiertes Leben in fünf Zeilen, mit offenem Ende und Frage zum Schluß – perfekt.
Ich mag Schokocreme auf Brötchen. Ich mag definitiv keine gesunden, veganen Brotaufstriche zum Frühstück. Schwarzen Tee mag ich, aber er muss mit Milch sein. Kuhmilch, bitte. Haferflöckchen im Morgentee lassen den Morgen ins Stolpern kommen.
Ich mag es, Regentropfen auf Glasdächern zu hören. Es erinnert mich daran, wie trocken, warm und geschützt ich bin und wie gut es mir geht. Das Geräusch lässt mich auch an den Geruch nach nasser Erde denken. Den Geruch von nassen Menschen und Hunden in der Straßenbahn mag ich nicht. Die beschlagenen Scheiben lassen mich an Gewächshäuser denken, die Frage ist nur, was dort wächst.
Ich mag rohen Kohlrabi und Erbsen frisch aus der Schale. Tomaten in Maßen sind ok. Gurken sind überflüssig, ich esse sie, aber ohne Begeisterung oder Elan. Sie sind einfach zu gurkig. Sie erinnern mich an Wasser in grüner Schale mit merkwürdigem Aroma.
Ich mag Orangenöl. Sein Duft erinnert mich an Sommer. Ich mag Vanille und Kardamom und frisch gemörserten Pfeffer. All diese Düfte! Ich mag es, riechen zu können. Rapsfelder riechen mag ich nicht. Der Raps frisst sich direkt durch die Nase ins Hirn und zersetzt dort meine Sommerträume. Rapsfelder aus der Ferne dagegen sind toll.
Ich mag keine Spaziergänge. Und die ohne Ziel und Zweck mag ich noch viel weniger. Warum sollte ich sinnlos durch die Gegend laufen? Meistens dabei angetrieben von wohlmeinenden Freunden, die gern schneller und viel weiter laufen würden als ich und immer einen imaginären Spazierrekord im Kopf haben, den sie mit mir zusammen nie erreichen werden. Ich mag keine Wanderungen. Ab und zu mache ich irgendjemandem zuliebe doch eine, und es endet immer etwa zwei bis drei Kilometer vor dem Ziel mit Unlust, Müdigkeit und der Erkenntnis, dass ich jetzt nicht abbrechen kann, weil ich irgendwo im Nirgendwo bin. Und nein, ich habe nie einen plötzlichen Ehrgeiz, weiter zu wandern.
Ich mag es, Wege zu Fuß zu erledigen. Stundenlang durch eine fremde Stadt zu laufen, hier und da ein Eis zu essen, einen Kaffee zu trinken und weiterzulaufen, Dinge zu entdecken, der Kopf leer und frei für neue Eindrücke.
Ich mag es nicht, mit anderen zusammen eine Kirche zu besichtigen. In Kirchen muss man allein gehen, offen für die Stille und den Raum und vielleicht für ein Flüstern Gottes. Das geht nicht mit anderen, die einem die eigenen Entdeckungen mitteilen möchten und mich zerfusseln lassen in viele kleine Wahrnehmungsfetzchen. Komplett zerstört ist die Stille, wenn ein Selfie vor dem Altar gemacht werden soll.
Ich mag Stille. Ich mag Handys nur im Lautlosmodus. Ich mag keine Handygespräche, weder eigene noch fremde. Ich mag es nicht, fremden Handygesprächen zuzuhören, außer, es sind außerordentlich spannende. „Wo bist du? Wo bin ich?“-Gespräche gehören nicht dazu.
Ich mag Bahnfahren. Ich mag keine Mitreisenden. Irgendwann packt jeder sein Fischbrötchen, seine Äpfel oder Chips aus und fängt an zu essen, und dabei klingelt das Handy. Ich mag keine Kaugeräusche.
Ich mag Picknicks. Draußen mit anderen auf einer Decke zu essen ist wundervoll, trotz Ameisen und Wespen. Im Idealfall wehen Gräser und Butterblumen im Wind und nebenan fließt ein Bach vorbei. Das Paradies auf Erden!

Und ihr so?

Zankäpfel

Wenn man nun alle Zankäpfel einsammeln würde, die rauen, die harten, die wütenden, die ungerechten, die meinungshaltigen, die aus alten Verletzungen, und sie einkochen würde, mit viel Zucker und Liebe, und sie sehr lange kochen ließe, dann würden all die Gemeinheiten und der Unfriede sich auflösen wie Dampf über dem Kochtopf. Und übrig bliebe reinstes Apfelmus, und dann würden wir Pfannkuchen backen und zu Abend essen.

Ich gehöre dazu

Ich gehöre selbstverständlich dazu.

Diese verrückte Welt mit ihren Absurditäten, den rosa Flamingos und den Teppichen, unter die so gerne gekehrt wird, mit den Möglichkeiten und Begrenzungen und den endlos samtigen Nachthimmeln: Ich gehöre dazu, solange meine Zeit hier dauert.

Traumerkenntnisse sind die besten.

Kleine Liebeserklärung

Heute ist der Welttag des Buches – ein Grund, diesen Text von 2017 noch einmal zu posten. Es hat sich nichts geändert. 🥰

Zu Weihnachten habe ich ein Buch geschenkt bekommen. Es sind lauter kleine Schnipsel von Astrid Lindgren, Sätze aus ihren Büchern, Interviewabschnitte, Leserbriefe, die sie geschrieben hat, Erinnerungen aus ihrem Leben.

Es gibt in dem Buch ein Kapitel über das Lesen, und darin stehen alle Gründe, aus denen ich angefangen habe zu lesen und seitdem nie wieder damit aufgehört habe. Als Kind liest man anders, und die Intensität, mit der ich damals die Geschichten verschlang, ist heute so nicht mehr da. Was bleibt, ist die Erinnerung daran, wie es sich anfühlte, gemeinsam mit den fünf Freunden bei Blitz und Donner Zuflucht in einer Felsenhöhle zu finden, naß bis auf die Haut, um dann Dosenpfirsiche zu essen. Oder zu wissen, wie ein Sommerabend riechen muß, wenn man mit Kalle Blomquist unterwegs war: Nach warmem Teer unter den Füßen und lauer Luft, in der eine Spur Heuaroma liegt.

Ich weiß auch noch ganz genau, wie neue, ungeöffnete Bücher sich mir in die Hände schmiegten, voller Verheißungen, Abenteuern und noch unbekannten Freunden, die ich bald genauso gut kannte wie mich selbst. Ein solches ungeöffnetes Buch war immer von einem leisen Zauber umgeben. Ich erinnere mich, wie ich nichtsahnend den ersten Band vom Herrn der Ringe öffnete, anfing zu lesen und verschlungen wurde vom Auenland und den Elben, verloren für alle Zeit an sagenhafte Welten, in denen alles möglich ist.

Mittlerweile habe ich sehr, sehr viele Bücher gelesen. Vielleicht bin ich heute manchmal zu schnell, weigere mich, konsequent einzutauchen, aber das ist keine Katastrophe. Es gibt Bücher, die haben das Potential, und dann passiert es ganz von selbst, das Eintauchen.

Ich bin immer noch begeistert. Wie für Astrid Lindgren sind Bücher auch für mich Brot und Salz, und ich glaube nicht, dass sich das in diesem Leben noch einmal ändern wird. Und deswegen werde ich mutig, entschlossen und unbeirrt weiterlesen, Romane, Fantasy, Krimis, immer auch Jugendbücher und Kinderbücher und Gedichte, ja, Gedichte ganz unbedingt. Nichts kann einen so ins Herz treffen wie die richtigen Worte, wenn sie kompakt und auf ganz bestimmte Art und Weise aneinandergereiht sind. Am Anfang war das Wort. Und in meinem Himmel muss es eine Bibliothek geben. Es kann sonst einfach nicht der Himmel sein.

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Glück ist wie Ohropax

Manchmal ist alles zuviel. Das Telefon klingelt. Auf dem Flur klappern Absätze. Deine Kollegin ißt einen Apfel. Dein Chef monologisiert nebenan. Telefonate hallen an den Wänden entlang. Die Flurtür geht alle fünf Minuten auf und zu. Der Kopierer rauscht. Ein zoom-Meeting findet im Büro neben dir statt. Vor dir stapeln sich die unerledigten Aufgaben, aber in deinem Kopf rauscht es. Und dann kommt das Ohropax. Wie verheißungsvoll es sich zwischen deine hektischen Finger schmiegt und jede Form annimmt, die du willst! Der Moment, wo du es am Rande deiner Kräfte erst ins eine Ohr, dann ins andere drückst. Und dann: Das pure Glück, wenn es sich ausdehnt und die Aussenwelt draussen hält, wenn die himmlische Stille langsam in deinen Kopf sickert und sich ausbreitet wie weicher Nebel. Die unglaubliche Stille, der Friede. Ja. Glück ist definitiv wie Ohropax.

So fühlt sich Stille an.

Schlafen

Als Kind wollte ich abends nicht schlafen gehen. Die wachen Stunden waren so kostbar! Das Lesen am Abend war kostbar. Solange ich nicht eingeschlafen war, war der Tag nicht vorüber und der neue Tag konnte nicht kommen. Der neue Tag war unvorhersehbar, er fing mit dem Aufstehen an, und das war schmerzhaft. Ich war so müde, immer und überall. Trotzdem wollte ich abends nicht schlafen gehen.
Der Abend hatte etwas Magisches, die dunkle Jahreszeit noch viel mehr als Frühling und Sommer. Im Herbst schrumpfte meine abendliche Welt auf mein Bett und das jeweilige Buch zusammen, alles andere verschwand. Ich war in einem Kokon aus Zeitlosigkeit, Nachttischlampenlicht und Papierwelten eingesponnen, und das war alles, was ich wollte. Schlafen wollte ich auf jeden Fall nicht.
An besonderen Tagen, vor Weihnachten, Geburtstagen oder Nikolaus, war ich hin- und hergerissen zwischen Schlafen und Wachbleiben. Die Vorstellung, dass zwischen meinem Einschlafen und dem Aufwachen viele Stunden lagen, endlose, mäandernde, sich ausdehnende Stunden, in denen ich nichts tat als daliegen, verursachten mir fast körperliche Schmerzen. Es war kaum auszuhalten, wie lange ich schlafen würde, ohne es zu merken, bis es endlich Morgen wäre. Wenn ich allerdings nicht schlief, würde es noch viel länger dauern, bis es endlich Morgen wäre. Nichts davon war damals ein Widerspruch.
Meine Eltern fanden es weniger schön, dass ich nicht schlafen wollte. Es war ein immerwährender Kampf, und wenn im Türspalt unten am Teppichboden noch Licht zu sehen war, gab es Ärger. Also legte ich eine Decke vor den Türspalt und sperrte das Licht ein, damit es nicht unkontrolliert im Haus herumwanderte. Das Licht trickste mich aus und wanderte durch das Schlüsselloch hinaus und wieder gab es Ärger. Auch meine Taschenlampe wurde entdeckt und für die Nacht konfisziert.
Trotzdem schlief ich nicht. Ich ging immer zu spät schlafen, jeden Abend, und ich war tagsüber immer müde. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte meines Lebens. Auf einmal war der Preis eines müden Tages höher als der der gestohlenen Stunden in der Nacht. Vielleicht ist das der Preis, den man für das Erwachsenwerden zahlt.

Als ich aus der Tür trete

Als ich aus der Tür trete, versperrt ein Satz mir den Weg.
„Wo kommst du her und wo willst du hin?“
Ich bleibe irritiert stehen, die Türklinke in der Hand. „Äh“, stammle ich, denn der Satz verlangt Beantwortung. Mehr fällt mir allerdings erst mal nicht ein. Dann versuche ich es mit „von oben und zur Arbeit?“. Ich mache einen winzigen Schritt nach vorn. Mir ist, als ob der Satz die Arme verschränkt und streng guckt.
„Ok, ok“, sage ich hastig und überlege. Wo komme ich her? Und wo will ich eigentlich hin? Ich lehne mich in die offene Tür und knibbele an meiner Unterlippe. Als es mir endlich klar ist, lächle ich. „Ich komme aus der Enge und möchte in die Weite“, sage ich und bin mir sicher.
Der Satz verneigt sich leicht und löst sich auf. Der Morgen ist hell. Ich mache mich auf den Weg.

Definitionen á la Stachelbeermond

Erschöpfung ist eine leergetrunkene Quelle, die nur langsam nachfließt. Kann für sehr kurze Zeit mit einem Schokocappuccino ausgetrickst werden. Bewegt sich ungern. Ist nachtragend.

Ohnmacht ist ein Zwilling. Der kleinere verhalf Frauen in früheren Zeiten kurz zu einer Auszeit. Der größere Bruder sieht gern aus tiefen, dunklen Brunnenschächten zu einem hinauf und erschreckt mit seiner hohlen Echostimme. Hat keinerlei Humor, ist aber befreundet mit dem Sarkasmus.

Verachtung hält sich selbst für die Größte und die Klügste. Hat immer Recht. Es ist einsam um sie herum, aber ganz oben ist es halt einsam. Das nimmt sie in Kauf.

Ratlosigkeit würde gern so vieles, aber es sind immer alle Wege verbaut. Sie lebt in einem lebenslangen Labyrinth, aber sie weiß es nicht.

Vertrauen streckt die Hände aus, wenn es nach ihr ginge, liefen immer alle Hand in Hand. Sie leuchtet von innen heraus. Ihre dunkle Schwester ist die Enttäuschung, die ihr oft vorwirft, die Realität zu verleugnen. Vertrauen sieht sie dann liebevoll an und fragt, ob sie mit zum Schaukeln kommt.