Gott sticht mit der Gabel vorsichtig in die Zitronentorte und angelt nach einem Stückchen Amalfizitrone, die so schön sauer ist zwischen all der Süße. Die Berge zu machen war gut und notwendig, keine Frage, aber jetzt muss noch etwas mit dem Wasser passieren. Es müsste größere Stellen geben, an denen es sich sammeln und ausruhen kann, denkt Gott, immer unterwegs sein kann ja niemand. Jeder braucht Pausen. Ich nicht, flüstert der Heilige Geist und weht, wohin er will. Aber ich, brummt Gott und überlegt, ob er einen Ruhetag einführen sollte.
Während er über den Wassern schwebt, denkt Gott an Tiefe. Wasser müsste tief sein dürfen, ruhig und klar, und nicht zu warm. Die Oberfläche müsste weit sein, damit kleine Wellen entstehen können und damit die Sonne Kringel darauf malen kann. Während er denkt, wirft die Erde sich ihm zu Füßen und bildet einen tiefen Krater. Der nahe Fluss stürzt sich ohne Nachdenken hinein und Gott stupst seine Fingerkuppen aneinander und lächelt. Ein See! Das ist es.
Als Gott angefangen hat, kann er nicht wieder aufhören. Er macht große Seen, kleine Tümpel und solche, die fast so groß sind wie das Meer. Am liebsten würde er überall Seen haben, aber das geht nicht, das wäre ja schon wieder langweilig, also lässt er es und verstreut stattdessen Mangrovenwälder an den Küsten, füllt ein paar Vulkankrater und streut Quellen wie Konfetti über das Land. Wasser ist Leben, denkt er, und es ist wie das Leben, quecksilbrig, immer in Bewegung, aber auch immer bereit, zur Ruhe zu kommen, wenn man es lässt.
Gott sitzt am See und atmet tief ein. Hier kann man ausruhen. Die Dinge der Welt sammeln sich über der weiten Fläche und ordnen sich neu. Der Heilige Geist hat genug Platz, und überhaupt, es ist Platz über dem See! Nichts, was das Auge aufhält, nur die Ufer. Das Wasser mischt sich neu, strömt umeinander, bevor es den See wieder verlässt, bereit zu neuen Taten. Wunderbar, denkt Gott, so ist es gut, aber der Luft fehlt etwas, und das Wasser fühlt sich allein. Vielleicht sollte ich etwas machen, das fliegen kann? Wie ich?, flüstert der heilige Geist. Gott nickt. Auf jeden Fall. Und etwas, das schwimmen kann. Und danach machen wir Menschen, sagt Gott in die Luft. Die Worte prickeln wie Brausepulver.
Als Gott fertig ist mit Himmel und Erde und Seen, lehnt er sich zurück, nimmt einen Schluck Cappuccino und betrachtet sein Werk. Doch, ganz hübsch, denkt er und betrachtet all das Blau und Grün und Braun, nicht übel, mein Alter, gar nicht übel. Ein bisschen unbelebt vielleicht. Aber das ändern wir ja noch. Wird auch Zeit. Immer nur zu dritt ist auf die Dauer auch nichts. Er blinzelt und blickt in die Sonne, die warm auf seinen Kopf scheint, dann schaut er geradeaus, dann nach links und dann nach rechts. Flaches Land, soweit das Auge reicht. Da fehlt was. Aber was?
Gott verstreut einen weiteren Löffel Zucker auf seinem Cappuccino und schiebt sich eine knusprige Wolke Milchschaum in den Mund. Es müsste irgendwie… welliger sein, denkt er, damit man nicht sofort alles sieht. Beim Gucken muss es Geheimnisse geben, Unerwartetes. Man muss weiterwollen, damit man das nächste Geheimnis entdeckt. Er steht auf, Cappuccino hin, Cappuccino her, das hier ist wichtiger, einen Schaffensprozess sollte man nie stoppen. Ich muss Berge machen!, denkt er und die Freude schießt ihm bis in die Fingerspitzen.
Als Gott einmal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören, so schön ist es, die Erde aufsteigen zu lassen, immer höher und steiler, bis sie fast an den Himmel stößt. An anderen Stellen formt er sanfte Hügel und Täler, die Flüsse fließen ganz von selbst an die richtigen Stellen. So muss es sein, denkt er, während er Wälder die Abhänge emporwachsen lässt und Wasserfälle erfindet. Überall muss es etwas Neues zu entdecken geben, Langeweile ist für niemanden gut. Hab ich immer schon gesagt, flüstert der Heilige Geist und weht, wohin er will. Jaja, brummt Gott und schnipst noch ein paar Felsbrocken über die Bergflanken.
Gott steht auf dem Gipfel des höchsten Berges und ist sehr zufrieden. Vor ihm dehnt sich die Erde weiß, blau und grün, in jeder Erdfalte gibt es Schönheit zu entdecken, die Bäume wiegen sich im Wind und singen leise Lieder, duftige Wolken schweben vorbei und bleiben an den Hängen kleben. Keine Langeweile mehr, denkt er, und wenn man will, kann man beim Spazierengehen über das Auf und Ab des Lebens nachdenken. Wenn nicht, freut man sich einfach über alles, was in einem funktioniert beim Gehen, das Herz, der Wadenmuskel links unten und die Lunge, die die frische Luft atmet, während die Schweißdrüsen auf Hochtouren arbeiten. Ich weiß schon genau, wie sie sein werden, die Menschen, denkt Gott und freut sich, aber noch sind sie nicht dran. Vorher muss ich mich noch um das Wasser kümmern.
Nein. Du schlägst das Buch zu. Du hast dir wirklich Mühe gegeben, geforscht, studiert und soviel gelesen, dass dir die Augen tränen, aber jetzt ist Schluß. Es ist vorbei. Du lehnst dich zurück und verschränkst die Arme hinter dem Kopf. Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung steigt in dir auf. Erleichterung, weil dieses seltsam trockene Gefühl von Hoffnung nun endgültig aufgehört hat, Enttäuschung, weil es schön gewesen wäre, einen Beweis zu finden. Aber du hast keinen Beweis gefunden, nur endlose Theorien und Mutmaßungen. Und nun? Was machst du nun? „Sie könnten einfach die Tür öffnen.“ Du drehst dich erschrocken um. Da sitzt ein mittelalter Mann im weißen Anzug hinter dir. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, ein Arm liegt über der Sessellehne, in der anderen Hand hält er eine Pfeife. Seine Socken sind blau. „Was tun Sie hier?“ fragst du irritiert. „Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Engel Nr. 265 und Ihnen heute zugeteilt.“ Der Mann verbeugt sich im Sitzen leicht nach vorn. „Darf ich?“ Er zeigt mit dem Kopf auf die Pfeife. Du nickst verwirrt. „Danke.“ Der Mann zieht ein Päckchen Pfeifentabak aus seiner Tasche und fängt an, die Pfeife zu stopfen. „Wenn Sie über den Begriff „Engel“ stolpern sollten, ich bevorzuge „Hüter des himmlischen Lichts“. Klingt viel eleganter, oder? Obwohl, heutzutage muss man immer alles endlos erklären, obwohl manche Dinge ohne Erklärung viel verlockender sind. Leser von Fantasyromanen wissen in der Regel schneller, was gemeint ist. Tja. Wie auch immer, die meisten können mit „Engel“ mehr anfangen, obwohl man auch da manchmal mit längeren Diskussionen rechnen muss. Das ist heutzutage ja ein weitgefasster Begriff. Aber ich schweife ab, entschuldigen Sie bitte.“ Er hält ein Zündhölzchen an die Pfeife und zieht vorsichtig. Ein Duft nach Vanille und Lavendel steigt in deine Nase und du atmest unauffällig tief ein. Das duftet… so real. „Und… was tun Sie hier?“ fragst du vorsichtig. „Na, Sie haben doch gefragt, was Sie tun sollen. Ich bin hier, um Ihnen die Antwort zu geben. Öffnen Sie die Tür.“ „Welche Tür?“ fragst du irritiert. Der Mann zieht an der Pfeife. Eine kleine blaue Wolke steigt über seinem Kopf auf. „Sie suchen doch Beweise?“ Du nickst. Die Enttäuschung von eben wabert noch um dich herum. „Ja. Alle Welt berichtet von dem Draußen, den Farben, Gerüchen, den Gefühlen, die man draußen haben soll. Aber es gibt kein Draußen. Ich habe es überprüft. Es gibt nur Gerüchte, Mutmaßungen und endlose Theorien darüber, aber niemand weiß genau, wie es sich anfühlt. Weil noch niemand jemals da war. Weil es das Draußen gar nicht gibt.“ Du fühlst dich leer, als du das sagst. Der Mann mustert dich. „Sie könnten die Tür öffnen. Das würde die Dinge in Bewegung bringen.“ Du ärgerst dich. Dich bewegen existenzialistische Fragen und du bekommst idiotische Vorschläge. „Welche Tür?“ fragst du etwas lauter als notwendig. „Na, die da hinten.“ Der Mann zeigt auf eine der Wände. Du blickst dich um, obwohl du es besser weißt. Da ist nämlich keine Tür. Da war noch nie eine, genausowenig wie es Fenster in deinem Raum gibt. Oh. Du kneifst die Augen zusammen. Da ist eine Tür. Du siehst den Mann an, dann wieder die Tür. Der Mann lächelt und stößt eine Lavendelrauchwolke aus. „Was…?“ rufst du. „Oh, das ist keine Zauberei. Sie war schon immer da. Sie haben sie bloß nicht wahrgenommen, weil Sie so beschäftigt waren mit Forschen.“ „Aber…“ sagst du hilflos. „Das macht nichts“, sagt der Mann sanft, „alles hat seine Zeit. Wissen Sie, Sie sind ein Mensch. Da dauern die Dinge manchmal ein wenig länger.“ „Das heißt… ich könnte hinausgehen?“ „Jederzeit.“ „Und dann bin ich draußen?“ Der Mann nickt. Du bist fassungslos. „Aber… ich dachte, das Draußen gibt es nicht!“ rufst du aus. „Das ist ja auch kein Wunder. Sie haben es noch nie gefühlt, nicht betastet, nicht gerochen. Sie haben nur darüber gelesen. Das ist ein Unterschied.“ Der Mann zieht noch einmal an seiner Pfeife, eine Wolke aus Vanille und Lavendel steigt unter die Decke. „Aufgeraucht“, sagt der Mann befriedigt, „alles geht einmal zu Ende, aber nicht heute. Wollen wir?“ Du spürst, wie du blass wirst, du hast schreckliche Angst vor dem Draußen, aber du willst es unbedingt sehen. Also nickst du zitternd. Der Mann hält dir seine Hand hin. „Kommen Sie, wir gehen zusammen.“ Er zieht dich vom Stuhl und gemeinsam geht ihr auf die Tür zu, die du noch nie vorher gesehen hast. Der Anzug des Mannes leuchtet weiß im Halbdunkel deines Raumes. Dann drückt er die Tür auf. Es ist hell. Warm. Es duftet nach etwas Grünem. Und nach etwas Süßem. Etwas berührt deine Haut und du erschreckst dich, aber es fühlt sich gut an. Vorsichtig machst du einen Schritt. Und dann noch einen. Und dann bist du im Draußen. Der Mann im weißen Anzug lacht. Es ist ein dröhnendes, zufriedenes Lachen, es rinnt dir den Rücken hinunter wie zuvor nichts auf der Welt. Und zum ersten Mal im Leben fühlst du dich vollständig.
In letzter Zeit kommt mehr bei ihm an, mehr Gebete, mehr Angst, Lärm von Kanonen. Und auch das Schweigen der Ratlosigkeit klingelt in seinen Ohren wie Donner. Darunter in einem stetigen Strom die Alltagsgebete, ein bisschen wie das Rauschen der Autobahn. Dazwischen immer wieder Musik, denn Gott singt seit ein paar Wochen sehr viel mehr als sonst, er braucht das als Aufmunterung zwischen all den dunklen Geräuschen und all den unerfüllbaren Bitten aus allen Lagern. Manchmal möchte er sich die Ohren zuhalten, nur kurz, aber er tut es dann doch nie.
abseits der großen Seligkeiten leben die kleinen der Moment Geduld das halbe Lächeln nach dem Streit der eine zurückgetretene Schritt das standfeste Trotzdem! beim siebten Versuch das aufgegebene Recht vorsichtiges Verständnis Liebe trotz allem selig sind, die weitermachen sie lassen die Hoffnung steigen wie Drachen im Herbst
sie gingen leichtfüßig wie Löwenzahnsamen warfen die Wörter aus vollem Herzen mit fliegenden Armen erzählten es allen fassten die Klagenden an beiden Händen umarmten die Weinenden verteilten die Wörter wie Löwenzahnsamen liessen zurück leuchtende Spuren der Hoffnung
„Hör mal“, sagst du. „Ja?“ sagt Gott. „Ich habe gehört, dass du alles über mich weißt. Stimmt das?“ „Ja“, sagt Gott. „Oh“, sagst du. „Alles? Wirklich?“ Gott nickt. „Das ist… ziemlich viel“, sagst du und fühlst dich unbehaglich. Gott nickt wieder. Er hat seine Hände gefaltet vor sich auf den Tisch gelegt. „Kann ich mein Veto einlegen?“ fragst du. Gott schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt er. Du überlegst, an was du heute morgen schon alles gedacht hast. Eieiei. „Das gefällt mir nicht“, sagst du. „Ich weiß“, sagt Gott und lächelt. Du bist empört. „Aber ich habe doch wohl ein Recht auf Privatsphäre!“ „Bei mir nicht“, sagt Gott. „Das geht doch nicht! Du darfst nicht die ganze Zeit in meinen Gedanken rumwühlen!“ rufst du wütend, „ich tue das bei dir doch auch nicht!“ Du lässt großzügig unter den Tisch fallen, dass du das gar nicht kannst. Hier geht es schließlich um Grundsätzliches. „Ich habe dich gemacht“, sagt Gott und blickt dir in die Augen, „natürlich kenne ich alle deine Gedanken. Was wäre ich für ein Schöpfer, wenn ich nicht an dir interessiert wäre?“ „Aber… aber…“ stammelst du, „… trotzdem!“ „Und glaub mir, meine Gedanken willst du gar nicht kennen. Dein Kopf würde explodieren“, fügt Gott sachlich hinzu. Er lehnt sich zurück und nimmt einen Schluck Kaffee. „Ändert sich für dich was, wenn du weißt, dass ich deine Gedanken kenne?“ Du holst tief Luft. „Natürlich! Was glaubst du denn! Ich kann doch nie wieder in Ruhe denken, wenn ich weiß, dass du mitliest!“ Gott lacht laut los, verschüttet Kaffee und setzt seine Tasse zurück auf den Tisch. „Meinst du, ich würde peinlich berührt erröten? Es gibt absolut nichts, was du denken könntest, was ich nicht schon gedacht habe. Glaub mir!“ Du merkst, dass du rot wirst. „Du hast gut reden! Mir ist das peinlich! Ich will vieles gar nicht denken, aber es passiert einfach, da kann ich überhaupt nichts gegen tun!“ Gott legt kurz seine Hand auf deine und nimmt sie wieder weg. „Mach dir keine Sorgen. Es ist ok, wirklich. Solange wir miteinander reden, ist alles gut.“ Du bist nicht überzeugt. „Ich finde das unfair. Manchmal braucht man doch eine Auszeit! Um ganz bei sich zu sein!“ „Du bist doch ganz bei dir, oder etwa nicht?“ Gott sieht dich an. Dann schüttelt er den Kopf. „Ich kann es nicht ändern. Du bist bei mir und ich bin bei dir. So ist es.“ Du erinnerst dich. „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer… „ „… so würde ich dich auch dort halten und bei dir sein“, antwortet Gott. Du überlegst. Auf den Flügeln der Morgenröte reisen, klingt verlockend. Das wolltest du schon immer mal tun, aber du hattest Angst. So weit weg, ganz allein. Wenn Gott dabei wäre… vielleicht ist dieses Konzept des alles Wissens und immer da seins doch nicht komplett übel. „Naja…“ sagst du schließlich widerwillig, „aber ich hasse es, wenn man mir ein schlechtes Gewissen macht!“ „Ich weiß“, sagt Gott. „Ich kann ja versuchen, mir Mühe zu geben mit meinen Gedanken“, sagst du steif. „Ach, lass das. Mir ist lieber, du bist ehrlich“, sagt Gott. Dann zwinkert er dir zu. „Und es ist viel interessanter, wenn du nicht versuchst, heilig zu sein. Weißt du noch, deine Franziskus-Phase vor ein paar Jahren? Das war anstrengend.“ Er schüttelt den Kopf. „Menschen sind nicht heilig, so habe ich euch nicht gemacht. Fürs Heiligsein habe ich meine Engel, das reicht mir völlig.“ Du atmest tief ein und wieder aus. Na gut. Dann wirst du eben weitermachen wie bisher. „Genau“, sagt Gott. „Morgen, selber Ort, selbe Uhrzeit?“ Du nickst. Und Gott ist verschwunden.
„Ich sag dir, Andreas, du hast wirklich was verpasst heute, stell dir vor, ich war auf dem Weg zum Markt, um Öl zu kaufen, du weisst ja, wir hatten keines mehr, weil Abigail es vorgestern umgekippt hat, ungeschickt, wie sie ist, ich war also auf dem Weg zum Markt. Und wen sehe ich da? Rebekka! Mit fünf oder sechs Männern, wütend waren die, geschubst haben sie sie, ihr Mann war auch dabei, und soll ich dir was sagen? Sie war fast nackt! Ich wusste doch die ganze Zeit, dass da was läuft mit Ismael, und sie hatten sie wohl auf frischer Tat ertappt, vielleicht hatte ihr Mann ihr eine Falle gestellt, auf jeden Fall waren sie auf dem Weg zum Markt, und dann saß da dieser neue Rabbi, weißt du, dieser Mann, der so seltsame Dinge sagt, und sie haben sie vor ihm zu Boden geworfen und gefragt, was auf Ehebruch steht! Ehebruch! ich wusste es doch, hab ich´s nicht gesagt? Und weisst du was? Er hat gar nichts getan, irgendwas hat er gesagt, ich hab´s nicht verstanden, und dann hat er auf der Erde herum gemalt, ich meine, wer macht denn sowas, auf der Erde rummalen? Und dann sind sie alle gegangen, einer nach dem anderen, und zum Schluss saß nur noch Rebekka da, dann haben sie irgendwas gesprochen und dann ist sie auch gegangen! Wo gibt´s denn sowas? Ehebruch und nichts passiert? Was ist denn das für ein Rabbi? Da schicken wir unseren Sohn aber nicht hin, hörst du? Ich möchte wissen, wo Rebekka jetzt ist, zurück konnte sie ja wohl nicht mehr. Oder? Andreas? Hörst du mir überhaupt zu? Das Öl? Das habe ich vergessen.“
Frau Möllendiek ist empört. Deswegen bestellt sie das größte Stück Sahnetorte aus der Theke und dazu einen doppelten Cappuccino. Wie kann die Schmidt es wagen? Ihr in ihre innersten Angelegenheiten reinzuquatschen! Wenn das jeder tun würde! Nie wieder wird sie zu dieser Kaffeerunde gehen! Wozu auch? Besseren Kuchen gibt es sowieso überall, und auf den langweiligen Filterkaffee kann sie erst recht verzichten. Etwas heftiger als notwendig sticht sie mit der Gabel in die Sahnetorte. „Ist hier noch frei?“ Unwillig sieht sie auf. Auch das noch. Dabei hatte sie so auf etwas Frieden gehofft. Vor ihr steht eine ziemlich runde, ältere Frau mit grauen Wallehaaren. Oh Gott, denkt Frau Möllendiek, ein Öko! Das hat ihr gerade noch gefehlt. „Danke“, sagt die Frau mit den Wallehaaren, zieht einen Stuhl vom Nachbartisch heran und setzt sich. „Sie sahen aus, als ob sie Gesellschaft brauchen können.“ „Ach ja?“ sagt Frau Möllendiek spitz. „Wie kommen Sie denn auf diese Idee? Mir geht es sehr gut hier.“ Frechheit! Was bildet diese Person sich ein? Sie stopft sich die Gabel mit der Torte in den Mund und kaut grimmig. Die Frau hat das milde Lächeln schon auf den Lippen und holt Luft, als sie es sich anders überlegt. Sie sieht Frau Möllendiek streng an. Frau Möllendiek umfasst ihre Kuchengabel etwas fester. „Wissen Sie was, meine Liebe?“ fragt die Frau mit einem leise drohenden Unterton, „ich bin Ihre letzte Chance. Sie sind mein Auftrag, und ich beiße mir an Ihnen die Zähne aus!“ Frau Möllendiek will etwas sagen, aber die Frau redet einfach weiter. „Haben Sie eine Ahnung, was es mich gekostet hat, Sie in diese Kaffeerunde zu bringen? Ich musste alle meine Gefallen einfordern und trotzdem noch endlose Verhandlungen führen! Und das alles, damit Sie nach zwei Besuchen alles hinschmeißen? Wollen Sie einsam sein? Bitte! Nur zu! Vergraulen Sie ruhig alle um sich herum! Ich habe meinen Teil getan.“ Die Frau verschränkt die Arme und sieht sie finster an. Frau Möllendiek ist erstarrt, die Zinken der Kuchengabel zeigen wie zufällig auf die graue Frau. „Woher wissen Sie, dass ich aus einer Kaffeerunde komme?“ fragt sie mit aufgerichteten Häärchen an den Unterarmen. „Ach“, wedelt die grauhaarige Frau die Frage weg, „viel wichtiger ist, warum Sie auf Frau Schmidt so sauer reagieren? Sie sind doch viel schlimmer.“ „Was?“ Ungläubig lässt Frau Möllendiek die Gabel sinken. „Ja, was?“ Die graue Frau legt die Hände auf die Armlehnen des Stuhls und beugt sich vor. „Oder haben Sie Frau Schmidt etwa nicht gefragt, ob Sie beim Tanzen mit Herrn Bollenpieper ihren Mann nicht vermissen würde?“ Frau Möllendiek läuft rot an. „Und was war das mit der Bemerkung über Frau Schulzes Gewicht? War das etwa taktvoll? Und was Sie da über den Hund von Frau Wunderlich gesagt haben?“ Die Frau schüttelt den Kopf. Ihr graues Haar wallt bedrohlich. „Ich wette, nachher gehen Sie nach Hause und bedauern sich, weil Sie allein vorm Fernseher sitzen. Jedes Mal dasselbe: Ich baue Ihnen Brücken und Sie reißen sie ein. Wissen Sie was? Ich bin es leid. Ich kündige. Ich will jemand anderen. Soll der Chef sich doch persönlich um Sie kümmern!“ Die Frau schiebt den Stuhl zurück und steht auf. „Und übrigens: Ich bin kein Öko!“ Frau Möllendiek sieht der Frau fassungslos hinterher. Was war das denn? Eine Verrückte. Ja. Es muss eine Verrückte gewesen sein. Aber woher wusste sie das alles? Hat sie, Frau Möllendiek, etwa laut gesprochen? So muss es sein. Was bedenklich ist. Vielleicht geht es bergab mit ihr. Aber das hat sie ja schon immer gewusst, früher oder später musste das passieren. Sie rührt in ihrem lauwarmen Cappuccino herum und schiebt den schlaffen Schaum von links nach rechts. Vielleicht hätte sie das mit Frau Schmidts Mann nicht aussprechen sollen. Aber warum darf die tanzen gehen und sie nicht? Das Leben ist ungerecht. „Ganz genau. Darf ich?“ Frau Möllendiek sieht irritiert hoch. Was ist denn heute bloß los? Was kommt jetzt, noch jemand, der ihr sagt, was sie alles falsch macht? „Nun, ich würde mich eher als Ratgeber bezeichnen. Darf ich?“ Frau Möllendiek hält die Luft an. Dann nickt sie langsam und der schlanke, ältere Herr setzt sich. „Ich bitte, meine Kollegin zu entschuldigen, sie ist noch neu im Geschäft und Sie waren ihr erster, schwerer Fall. Aber jetzt bin ich ja hier.“ Der Mann lehnt sich zurück und Frau Möllendiek kann nicht anders, sie fühlt sich komisch. So geborgen. „Schwerer Fall?“ fragt sie zögernd. „Lassen Sie uns plaudern“, sagt der ältere Herr. „Ist der Cappuccino hier gut?“ „Wenn man dazu kommt, ihn zu trinken, doch, ja.“ Frau Möllendiek zieht einen spitzen Mund. „Schön. Das ist doch ein Anfang“, sagt der ältere Herr und lächelt.