Fräulein Honigohr und die Liebe

Fräulein Honigohr lehnt sich aus dem Fenster. Es ist ein schöner Tag, die Vögel fliegen halsbrecherisch wie selten und sie hat etwas Seltsames gehört. Da! Ganz leise und von weit über ihr klingt es wie „Iii… ebt… Iii…“ Was ist das? Neugierig läuft sie hoch auf den Dachboden, öffnet eins der schrägen Fenster und sieht hinaus.
Ein kleiner Mann steht in der Dachrinne. Er hat Flügel, aber sie sehen ziemlich kläglich aus. Er flackert wie eine gesprungene Neonröhre, ein grüner Schimmer umgibt ihn wie Brechreiz. „Gebt mir ein L! Gebt mir ein I! Gebt mir ein E!“ ruft er mit heiserer Stimme über die Dächer, aber seine Stimme trägt nicht weit. „Gebt mir ein B! Gebt mir ein E!“
„Ach so“, murmelt Fräulein Honigohr, dann beugt sich sie aus dem Fenster. „He! Du! Geht´s dir gut?“
Der kleine Mann zuckt zusammen und dreht sich um. „Hast du mich gehört?“ fragt er hastig. Fräulein Honigohr nickt.
Der kleine Mann bricht in Tränen aus. Seine Flügel sinken herab. „Du hast mich gehört!“ schluchzt er, „niemand hat mir zugehört seit Ewigkeiten!“
Fräulein Honigohr zieht ganz leicht die Augenbrauen hoch. „Naja“, sagt sie, „du buchstabierst. Aus einer Regenrinne im vierten Stock. Klar hört dich da keiner.“
Der kleine Mann legt die Hände vors Gesicht. „War das falsch?“ flüstert er.
Fräulein Honigohr seufzt unhörbar. Himmel. Was bringen sie den Neuen heutzutage eigentlich bei? „Willst du einen Kaffee? Ich glaube, du könntest einen brauchen, oder?“ Sie lächelt einladend.
Der kleine Mann fliegt fast, so schnell läuft er die Dachziegel hoch. Seine Flügel schleifen hinter ihm her. Er stürzt sich in Fräulein Honigohrs Arme.
„Du bist aber anschmiegsam“, quetscht sie hervor und spuckt eine Feder aus. „Ist gar nicht so einfach, heutzutage Liebe zu verkünden, was?“
„Du hast ja keine Ahnung“, flüstert der kleine Mann.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Sie laufen wieder, hurra, die Sommerpause ist vorbei! Vielen Dank für die Organisation, Christiane, ich freu mich. Wortspender war Ludwig Zeidler, die drei unterzubringenden Worte waren Brechreiz, anschmiegsam und buchstabieren, und es durften nicht mehr als 300 Worte sein. Ich habe 298. 😊

26 Gedanken zu „Fräulein Honigohr und die Liebe

  1. Ich liebe diese sanfte Abgeklärtheit und das große Herz, das Fräulein Honigohr allen Wesen entgegenbringt! 🧡
    Wie schön, dass die Etüden wieder laufen! 😉 Mehr davon!
    Vergnügte Morgenkaffeegrüße (ohne Regen) ☁️🌳☕🍪🌼👍

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    • Dankeschön! 😀
      Ich hatte das Problem vor ein, zwei Wochen auch überall, plötzlich ging weder Besternderln (SO ein hübsches Wort!) noch Kommentieren mehr. Ich musste mich ein paarmal dauernd überall neu anmelden und seitdem funktioniert es wieder. Ich nehme an, es ist ein Cookieproblem (obwohl man ja mit Keksen eigentlich generell überhaupt keine Probleme haben kann. Oder? 😀).

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      • Ja – is bestimmt ein Keksiprob. Ich hab ja alle abgeschaltet, soweit nur möglich. Das Lustige: manchmal sehe ich alles, kann ich alles, dann wieder nicht; daß NICHT normal ist, verstehe ich ja – doch kann ich deinen Blog nicht abonnieren und das finde ich blöd, auch im Sinn von WP, denn sowas gehört naturgemäß zur minimalen Grundausstattung einer Blogfunktion…
        Mit Keksis IRL hab ich als Richtiger Mann selbstverständlich keine Probsis; momentan probiere ich verschiedene Arten von Golubstis durch … 😉

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      • Dem Debian (ein Linux Derivat) waren sie gewogen – schaumamal wie lange diesmal: ich hab deinen Blog nun zum 3. Mal abonniert und habe selbst mehrere Verfolger, die mich niemals erreichen dürften 😉 … oups: ein neuer Eintrag, eben angekommen … *kicher*

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      • DAS erklärt ein Rätsel! Ich habe ein paar Follower, die entfolgen, dann wieder folgen, dann wieder entfolgen… aha! Daran liegts. Ich hab schon gedacht, sie entfolgen jedes Mal, wenn ihnen ein Beitrag nicht gefällt… 😊

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      • Nö. Unsinn. Wer würde freiwillig entfolgen, wenn er dann die Abenteuer des Fräulein Honigohr nicht mehr lesen würde können ;-?
        Zu vermuten ist, daß nach einem Firmwareupdate oder Probs nach einem Neustart des betreffenden Servers, dieser private Einstellungen nicht übernimmt bzw nur jene des Bezahlpublikums… legitime, kapitalistische Geschäftspolitik würde ich sagen … 😉

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    • Nene, um die Flügel muss er sich schon selbst kümmern, Flügel hat sie schon immer als komplett überflüssig betrachtet. Am besten, man legt sie ab, allein die Federpflege! Was das an Zeit kostet! Und man kommt so schlecht ran an die Dinger! Du merkst, ich habe mir schon einige Vorträge über Federn und Flügel angehört. 😁

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  2. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 38.39.22 | Wortspende von nellindreams | Irgendwas ist immer

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