Nichtigkeiten

Der Nichtigkeitenbär füllt den Tag mit Wahrheit. Du siehst ihm zu, während er Tee kocht, auf dem Balkon Vertrocknetes über die Brüstung schnipst und dein Handyspiel zockt. „Willst du auch mal?“ fragt er freundlich und du nickst eifrig. So schwer kann das doch nicht sein! Bei ihm sieht alles so leicht aus.
Du versuchst, genauso entspannt wie er das nächste Level zu knacken, versagst aber jämmerlich: Als du die dreißig rosa Rosen anklickst, hast du ein schlechtes Gewissen, beim Teekochen fragst du dich schon wieder, ob du deine Zeit nicht sinnvoller verbringen solltest.
Der Nichtigkeitenbär klopft dir auf den Rücken. „Nicht aufgeben, du schaffst das!“ sagt er aufmunternd und isst einen Schokokeks. „Dein Tag hat 24 Stunden. Du kannst nicht jede Minute davon sinnvoll verbringen, das klappt nicht.“
Du nickst. Du bist ja noch in der Ausbildung. Aber einfach wird das nicht.

Was schön am blauen Sofa war

  • 26 Jahre zusammen und nie ein böses Wort zwischen uns
  • es stand immer bereit für mich
  • ob Erkältung, Grippe oder Bandscheibe, alles war besser mit ihm (obwohl, bei der Bandscheibe… da ist ein Erinnerungsloch)
  • das Sofa hat sich aufopferungsvoll an mich angepasst (was zu seinem jähen Ende führte)
  • jede Deckenfarbe passte zu seinem Königsblau (fand ich)
  • es hat sich jahrelang gegen den Stoffverschleiß gestemmt und länger durchgehalten als ich gedacht habe
  • über ihm haben die Worte „wo ich bin, ist Zuhause“ geschwebt
  • die leisen Quietsch-und Knarzgeräusche waren Versuche, eine gemeinsame Sprache zu finden, ganz bestimmt
  • ich vermisse es – sein Nachfolger wird sich anstrengen müssen, soviel steht fest
Snief.

Die Neue VIII

Die Petunie ging, das hier kam. 😊

„Tja. Weg ist sie.“ Die Stachelbeere verschränkt ihre Stacheln. Gestern Abend wurde die Petunie abgeholt. Es war auch Zeit, das Heimweh hatte sie fest in ihren Klauen. Die Stachelbeere mag sich gar nicht vorstellen, wie sie sich fühlen würde, wenn sie auswandern müsste. Trotzdem, bei allem Verständnis, sie findet, die Petunie hätte sich etwas mehr zusammenreißen können, denn man findet doch wohl nicht jeden Tag so eine Gesprächspartnerin wie sie, die Stachelbeere! Und außerdem vermisst sie sie. Die Tomaten sind mit sich beschäftigt, sie stemmen jeden Tag Gewichte, um die Muskelstränge auf ihren Früchten hübscher hervortreten zu lassen und reden nur noch über Sonneneinstrahlung, Nährwerte und Wasserzufuhr. Das Mönchskraut ist beschäftigt mit hunderten Schwebfliegen, die es umfliegen wie Indiana Jones den heiligen Gral und die beiden Schnittläuche sind in den letzten Tagen blaß und durchscheinend geworden und flüstern nur noch. Die wilde Schale ist zu weit weg, ihr Stimmendurcheinander verwirrt die Stachelbeere, und der Mohn ist Geschichte, vor nächstem Jahr wird das nichts mit Gesprächen. Es ist schrecklich langweilig auf dem Balkon. Sie seufzt. Dann schläft sie ein, während der Grapefruitmond ruhig seine Bahn zieht.
Am nächsten Morgen wird sie von seltsamen Tönen geweckt.
„Ey, was geht ab hier, Bro?“
„Was ´ne geile Location!“
„Lass mal schütteln und rütteln und strecken und recken, ich weiß nicht, was soll das bedeuten, all das Grün hier, is ja unglaublich schön hier!“
„Gestern noch im schwarzen Container, heute kannste quarzen und gamen, oben Sonne satt, unten ´nen Container mit Naß, das Leben ist schön, darauf geb ich dir zehn!“
„Joooooohh!!“
Die Stachelbeere blinzelt ungläubig. Da stecken zwei neue Schnittläuche in den Hängetöpfen und rappen. „Hallo?“ sagt sie vorsichtig.
„Ja, hallo, meine Schöne, ich hab keine Töne, so stachelig grün, da kannste mal sehn, wir sind aus der Provinz, da gab´s nur Kräuter und Leute, aber du, du bist die Königin, darf ich dein Prinz sein?“
„So tiefdunkelrot deine Früchte, das weckt in mir Süchte, zieh ein deine Stacheln, lass mich das nur machen, du wirst schon bald sehn, das wird extrem schön!“
Die Stachelbeere räkelt sich. Interessant. Sehr interessant. Wenn sie sich nicht sehr irrt, wird das vermutlich der Sommer ihres Lebens. Tja. Wenn das die Petunie hören könnte!

Rappender Schnittlauch No. One 😁

Die Neue VII

Die Petunie lässt ihre zahllosen Köpfe hängen. Nichts kann sie aufmuntern, nicht einmal die Teenagertomaten, die ihr die grünen Muskeln zum Bewundern hinhalten. „Was ist los?“ fragt die Stachelbeere.
„Ich hab Heimweh“, flüstert die Petunie und ihre zahllosen Köpfe beugen sich noch tiefer herunter.
„Ach du je“, sagt die Stachelbeere und raschelt mit ihren Zweigen, aber nur vorsichtig, denn sie hängen jetzt voller tiefdunkelroter Früchte.
„Das kenne ich!“ piepst die Erdbeerminze, die dieses Jahr nur sehr mäßig auf dem Balkon vertreten ist, denn letztes Jahr erlitt sie eine schwere Dürre aufgrund der Pflichtvergessenheit der Wasserträgerin. „Ich habe letztes Jahr unseren alten Balkon vermisst, da war es immer feucht und sonnig, ich hatte einen kompletten Kasten für mich alleine, es war wie im Paradies…“ Sie seufzt schwer und reckt ihre drei Stängel entschlossen zum Licht.
„Hm“, sagt die Stachelbeere. Ihr gefällt es auf diesem Balkon entschieden besser als auf dem alten, Heimweh hat sie noch nie gehabt. „Was vermisst du denn genau?“
„Die Einfahrt, da war immer was los, hier kommt ja nie jemand vorbei.“ Die Petunie seufzt schwer.
„Naja“, sagt die Stachelbeere, „wir sind im zweiten Stock, da ist das schwierig.“
„Trotzdem“, sagt die Petunie weinerlich, „und ich vermisse meine Wasserträgerin, sie hat immer so liebevoll meine verblühten Köpfe abgepflückt, das war wie eine Massage, und ich mochte das Wasser zuhause viel lieber, es war süßer und erfrischender als hier, und überhaupt schien die Sonne da ganz anders!“ Sie schluchzt laut auf.
Die Stachelbeere zieht die Stacheln hoch. Große Güte! Was kann man da tun? Die große Trösterin ist sie ja nicht gerade. Hilfesuchend sieht sie sich um, als das Bischofskraut sich meldet. Das Bischofskraut hat vorgestern etwas von seiner Autorität eingebüßt, als die Wasserträgerin sich laut darüber ausließ, dass sein Zweitname ‚Zahnstocher-Knorpelmöhre‘ sei und dann laut gelacht hat, aber mittlerweile hat es sich von dieser Frechheit erholt. „Wir singen dir was“, bestimmt es und der ganze Balkon kichert entzückt. „Wir singen ‚Schön war die Zeit‘, das kennt ihr doch, oder?“ Das Mönchskraut sieht sich auffordernd um. Natürlich kennen alle das Lied, sie haben es von der Wasserträgerin etwa 47mal vorgespielt bekommen, als sie für irgendetwas geprobt hat. Freddy forever! Das Mönchskraut singt den Bass und alle stimmen ein: ‚So schön, so schön war die Zeit, breeeeeeennend heißer Wüstensand!…‘
Die Petunie lauscht. Gesungen hat noch niemand für sie. So übel ist es hier doch nicht. Und bestimmt wird sie morgen abgeholt, oder? Allerspätestens übermorgen. Bis dahin hält sie es noch aus. Und dann versucht sie mitzusingen.

Falls es jemanden gibt, der das Lied wirklich noch nicht kennt 😁.

Die Neue VI

„Herrje!“ beschwert sich die Petunie, „niemand hat mir gesagt, dass es in der Sommerfrische so viele Blutsauger gibt!“ Sie schüttelt ihre zahllosen Köpfe und raschelt mit ihren Blättern.
„Tja“, sagt die Stachelbeere mitleidlos, „so ist das in einer WG: Hat sie einer, haben sie alle.“
„Ja, aber dich scheinen sie nicht zu stören, oder?“ fragt die Petunie anklagend.
„Nö. Meine Stacheln halten alles ab“, erklärt die Stachelbeere selbstzufrieden. „Aber weisst du was? Du musst mal genauer hinhören, die Blutsauger führen seit ein paar Abenden ein kleines Drama auf, das ist ganz unterhaltsam.“
„Was?“ fragt die Petunie irritiert, aber weil sie gerade nichts besseres zu tun hat und weil sie sich dringend vom Juckreiz ablenken muss, spitzt sie ihre Blütenblätter.
„Oh, Bella!“ hört sie es ganz leise von ihren Blättern rufen, „du meine Einzige! Bleib bei mir, verlass mich nicht!“
„Niemals werde ich dich verlassen, vertrau mir! Nur deine Essgewohnheiten, die sind wirklich schlimm…“
„Ich weiß, es ist beklagenswert, und ich werde mich ändern, ich verspreche es, aber es ist schwer, so schwer…“ Ein tiefes, langes Seufzen hallt über die Petunienblätter.
„Edward, ich weiß, du schaffst das! Ich bin bei dir! Aber bitte versprich mir, trinke nie wieder Wirtsblut, es muss einen anderen Weg geben…“
„Oh, du meine Einzige, mein Licht in der Finsternis, ich werde mich zurückhalten, aber es ist schwer, so schwer…“
„Mein Liebling, ich bewundere deine Stärke, nimm meine Hand und küß mich!“
„Oh Bella…“
„Oh Edward…“
Die Petunie ist verwirrt. „Was machen sie denn da bloß?“ fragt sie die Stachelbeere.
„Neulich stand die Balkontür auf und unser Wasserträger hat einen Film geguckt, irgendwas mit Vampiren. Seitdem sind die Blattläuse im Bella-und-Edward-Rausch, weil sie doch auch saugen.“
„Ach so“, sagt die Petunie, aber wenn sie ehrlich ist, hat sie es immer noch nicht verstanden.
„Du musst einfach weiter zuhören“, sagt die Stachelbeere, „es gibt ein Happy End mit allem Drum und Dran, es lohnt sich.“
Die Petunie zieht die Blütenkelche zusammen, aber dann hört sie doch wieder hin.
„Oh Bella, ich beschütze dich mit meinem Leben…“
„Oh Edward, du Schöner, ich weiß, ich würde dasselbe für dich tun…“
Die Petunie seufzt leise. Die Blattläuse sind eindeutig verrückt geworden. Aber solange sie ein Drama aufführen, saugen sie nicht, und wer weiß? Vielleicht stellen sie ihre Essgewohnheiten ja tatsächlich um.

Zu meinem Bedauern gibt es heute kein Dienstags-Gedicht, denn ich musste das hier schreiben, es gab keinen anderen Ausweg, der Text wollte geschrieben werden und ich hatte keine Möglichkeit, dem auszuweichen. 😊

Die Neue V

(kleine Lesung mit Regengeräuschhintergrundatmosphäre 🥰)

Die Petunie guckt misstrauisch nach oben. „Was ist das?“ flüstert sie der Stachelbeere zu.
„Du hast einen Regenschutz bekommen. Das ist so ein Plastikding, in das die Hausbewohner ihren Müll tun. Schreckliches Zeug, aber es ist wasserdicht, zumindest eine Zeitlang.“ Die Stachelbeere betrachtet den leuchtend gelben Regenschutz und ist sich nicht ganz sicher, wie sie das findet. Einerseits ist so ein gelbes Zeug natürlich nur was für Schönwetter-Weicheier wie die Petunie, sie selber ist da aus anderem Holz geschnitzt, sie braucht so einen neumodischen Kram selbstverständlich nicht, aber andererseits… andererseits… wieso bekommt sie keinen Regenschutz? Sie ist die Ältere, sie ist schon länger hier und hat sie nicht in den letzten Jahren so viele Früchte produziert wie möglich? Gut, sie hat sie nicht freiwillig hergegeben, aber das wäre ja nun wohl auch zuviel erwartet. Oder? Ein kleiner Groll steigt in ihr hoch, und das ist kein gutes Zeichen, denn mit Groll in den Zweigen ist sie immer besonders stachelig.
„Was ist ein Regenschutz?“ flüstert die Petunie beunruhigt.
Die Stachelbeere schüttelt ihre Zweige im Wind. „Na, etwas, das dich vor Regen schützt“, sagt sie spöttisch.
„Ja, aber was ist Regen?“ fragt die Petunie. Das gelbe Plastik knistert in den Windböen, und die Petunie findet das gar nicht lustig.
Die Stachelbeere vergisst ihren Groll. „Du weisst nicht, was Regen ist?“ fragt sie ungläubig. Die Petunie schüttelt ihre zahllosen Köpfe. Die anderen Balkonbewohner, die gar nicht, überhaupt gar nicht gelauscht haben, kichern, dann ruft es aus der wilden Schale: „Er kommt von oben und massiert dir die Blätter!“
„Er wäscht die Vogelhinterlassenschaften von dir ab!“ sagt der einsame Löwenzahn.
„Und die Blattläuse und die schwarzen Läuse, und er kühlt und der Juckreiz geht weg!“ singt die Kapuzinerkresse und schüttelt ihre lausübersäten Blätter und Blüten.
„Er schlägt dir die Blütenblätter ab“, haucht der Mohn schicksalsergeben, aber seine Samenkapseln sind dieses Jahr sehr gut gefüllt, eigentlich braucht er seine Blätter nicht mehr.
„Er drückt dich nieder, wenn er kann“, rufen die Wicken und klammern sich vorsichtshalber fester an ihr Gitter.
„Ja, und er ist befreundet mit dem Wind, und zusammen können sie üble Raufbolde sein“, warnen die Margeriten, deren kahle Köpfe im Wind wippen.
„Manchmal macht er braune Beulen in die Blätter“, jammern die Teenagertomaten, denn Aussehen geht ihnen gerade über alles.
„Oh“, sagt die Petunie und klingt gar nicht glücklich.
„Tja“, sagt die Stachelbeere, „aber du hast einen Regenschutz. Guck, sie hat sogar den Balkontisch über dich geklappt.“
Die kleinen gelben Petunien sagen gar nichts, aber sie drücken sich so nah an die lila Petunie, wie es geht, und sie fühlen sich sehr geborgen an ihrer Seite, denn auch über ihnen wacht der Balkonklapptisch.
Und dann geht es los. Die Millionen Ameisen überall auf dem Balkon zischen verärgert, dann gehen sie in Deckung.
„Siehst du?“ schreit die Stachelbeere und juchzt vor Freude, „das ist der Regen!“ Und als die Tropfen auf ihre Arme klatschen, hat sie all ihren Groll vergessen.

Luxusbehausung auf dem Balkon. 😁

Die Neue IV

Die Stachelbeere wedelt langsam mit ihren stacheligen Ästen. Ihre kleinen, grünen Früchte glucksen begeistert, endlich gibt es etwas anderes zu sehen als immer nur grüne Blätter und lange Stacheln! „So“, sagt die Stachelbeere, „du bist also neu hier, was?“
Die Neue beugt ihre zahllosen lila Köpfe, da sonnenklar ist, wer hier das Sagen hat. „Ja, ich bin für ein paar Tage hier in der Sommerfrische. Einen entzückenden Balkon habt ihr hier, das muss ich sagen!“
Die Stachelbeere reckt ihre Äste. „Ja, doch, es ist ganz annehmbar hier oben. In der Sommerfrische, soso…“ Niemals würde sie zugeben, dass sie keine Ahnung hat, was eine Sommerfrische ist. Aber die Petunie hat den siebten Sinn im Umgang mit anspruchsvollen Persönlichkeiten.
„Ja, ich mache ein paar Tage Urlaub, weil mich zuhause niemand gießen kann.“
„Urlaub! Standortwechsel! Eine grauenhafte Vorstellung! Ich weiß noch, ich musste einmal umziehen, dafür wurden mir die Äste gestutzt und ich bekam einen Sack über den Kopf, dann wurde mir schlecht, weil alles so schaukelte und ich musste mir zahllose Schimpfwörter anhören, weil ich versucht hatte, mit meinen Armen den Sack aufzureißen…“ Die Stachelbeere hält inne und schüttelt sich. „Du Arme! Urlaub, wie grauenvoll…“ Sie klingt sehr viel freundlicher als zu Beginn ihrer Unterhaltung.
Die Petunie will etwas sagen, aber im letzten Moment hält sie inne. Dann nickt sie und versucht, urlaubsleidend auszusehen. Es gelingt ihr nur teilweise.
Die Stachelbeere betrachtet sie eindringlich, und die Petunie hält den Atem an. „Sag mal“, fragt die Stachelbeere, „wie bekommst du deine Blüten so wunderbar lila? Das ist ja eine sagenhafte Farbe!“
Die Petunie atmet aus und entspannt sich. „Ich denke, es ist der Spezialdünger, den ich zuhause bekomme. Und ich trinke sehr viel, das lässt die Farbe leuchten und ich versuche, immer positiv zu denken!“
Die Stachelbeere nickt.
„Deine Stacheln sind aber auch nicht zu verachten, das muss ich sagen“, schiebt die Petunie noch schnell hinterher.
Die Stachelbeere lächelt geschmeichelt. Auf ihre Stacheln ist sie ganz besonders stolz. Das werden sehr interessante Tage werden, auch, wenn sie die Petunie sehr bedauert. Die muss schließlich noch einmal verurlaubsreisen, wenn sie nach Hause will.

die Neue III

„Und? Wer seid ihr?“ fragt die Neue noch einmal. Ihre zahllosen lila Köpfe wippen im Wind.
Plötzlich sind alle schüchtern, obwohl sonst wenig Schüchternheit auf dem Balkon zu spüren ist. Die Tomaten kichern vor sich hin, sie sind gerade in der schlimmsten Anfangspubertät, mit fremden, hübschen Blumen zu sprechen liegt momentan außerhalb ihrer Fähigkeiten. Und die unter ihnen, die schon voll in der Pubertät sind, haben sich zart rot verfärbt und vergessen, dass sie jemals sprechen konnten. Die Kapuzinerkresse will auf keinen Fall den Anfang machen, sonst werfen die anderen ihr wieder vor, sie würde ohne Sinn und Verstand nach vorne preschen. Dabei kann sie doch nichts dafür, dass sie so schnell wächst! Und wenn die anderen so langsam sind… nein, sie wird nicht anfangen.
Der Mohn würde sich gerne vorstellen, aber er ist unablässig damit beschäftigt, nicht seine roten Blätter im Wind zu verlieren und gerade unabkömmlich.
Also ergreift das Wiesengras die Gelegenheit. Es spricht immer in der Mehrzahl, mit einem leisen Rauschen in der Stimme. „Wir sind das Wiesengras. Hier oben! Du musst nach oben gucken! Siehst du?“ Und es weht mit seinen langen Halmen und lässt die zarten Blütenstände malerisch wippen.
Die Neue dreht ihre zahllosen lila Köpfe nach oben. „Oh! Hallo! Schön, dich kennenzulernen! Sowas wie dich habe ich noch nie gesehen!“
„Danke, danke“, rauscht das Wiesengras geschmeichelt, „wir lieben die Sonne und den Wind, und du?“
„Naja“, sagt die Neue, „ich liebe Wasser von unten, und ich mag es, wenn die Sonne kleine Flecken auf mich malt, aber nicht zuviele bitte, davon bekomme ich Sonnenbrand.“
Die gelben Petunien könnten zustimmen, aber sie reden ja immer noch nicht mit der Neuen. ‚Ganz schön anstrengend, eingeschnappt zu sein‘, denkt einer der gelben Köpfe, aber er würde es nie laut aussprechen.
„Wir sind die Wicken!“ rufen die Wicken von rechts oben, „erzähl uns doch bitte was über deinen Hauseingang, ist er groß und schattig oder klein und sonnig, was für eine Farbe hat die Tür und gibt es Sprossenfenster und wer wächst da noch und gibt es Rankgitter da, wo du herkommt?“ Keine von ihnen hat auch nur einmal Luft geholt in diesem Schlangensatz.
„Ähm“, sagt die Neue, die sich bisher noch nie Gedanken über Türfarben und Rankgitter gemacht hat, „ich muss kurz nachdenken…“ Und es kehrt eine lange Stille ein. Nachdenken gehört nicht unbedingt zu ihren Kernkompetenzen.
Das Mönchsgras ist erleichtert. Bislang war Nachdenken seine Domäne, aber es wäre natürlich bescheiden einen Schritt zurückgetreten, wenn die Neue das hätte übernehmen wollen. Es will gerade zu einem gewichtigen Satz anheben, als ein pikiertes „So!“ ertönt. Alle Köpfe auf dem Balkon drehen sich zur Stachelbeere, die bisher verdächtig still war. „So!“ sagt sie noch einmal und piekst mit ihren Stacheln kleine Löcher in die Luft. „Du bist also neu hier, was?“
Gespannte Erwartung liegt in der Balkonluft.

Die Neue II

„Guten Morgen!“ ruft die Neue und raschelt mit ihren riesigen lila Blüten. „Wer seid ihr denn alle?“
Die Balkongemeinschaft rauscht aufgeregt mit den Blättern, nur die gelben Petunien wenden sich beleidigt ab. Sie versuchen es zumindest, denn die Sonne zieht ihre Köpfe automatisch in Richtung der Neuen.
Das Bischofskraut ergreift gewichtig das Wort. „Wir sind die Balkongemeinschaft. Wer bist du und wo kommst du her?“
Die Neue beugt ihre Köpfe. „Ich bin Lila und komme vom Dorf. Ich lebe sonst vor einem Hauseingang und mache zwei Wochen Urlaub bei euch!“
‚Vom Dorf!‘ wispert es aufgeregt aus der wilden Schale, das Dorf ist der Ort ihrer wilden Träume, Milch und Honig und endlose Wiesen gibt es dort. ‚Ein Hauseingang!‘ seufzen die Wicken, die sich nie in einem Balkonkasten gesehen haben, sondern immer um Türen und Fenster rankelnd. ‚Im Urlaub!‘ flüstern die gelben Petunien und sehen plötzlich viel weniger Gelb aus, ‚Urlaub bedeutet, sie geht wieder!‘
Eine kleine Stille kommt auf. Ein Dutzend Fragen schwebt in der Luft.
„Und wer seid ihr nun?“ fragt die Neue und schwenkt ihre Köpfe neugierig hin und her.

Die Neue

„Habt ihr gesehen? Wir haben ’ne Neue!“ zischen die gelben Petunien zur wilden Schale hinüber. „Das kann ja was werden! Guckt sie euch an, wie hochnäsig sie da rumblühen!“ Die gelben Petunien recken sich entrüstet. Bisher waren sie die hellsten Farbtupfer hier.
„So schlimm wird’s schon nicht werden“, sagt das Bischofskraut und nickt gewichtig im Wind. „Keine vorschnellen Urteile“, fügt es hinzu, aus irgendeinem Grund fühlt es sich immer verpflichtet, für Ausgleich zwischen allen zu sorgen.
„Ach, du immer“, meckern die gelben Petunien, aber sie zischeln jetzt nur noch untereinander. „Hast du gesehen, wie protzig sie blüht? Wenn das alle machen würden! Und dann auch noch DREI verschiedene Farben, wer braucht denn sowas! Die ist bestimmt ’ne Vielwasserverbraucherin, ihr werdet sehen! Ne, wir sprechen nicht mit ihr!“ Beleidigt wenden die gelben Petunien sich ab, auch, wenn es ihnen sehr schwer fällt, denn die Sonne scheint genau aus dieser Richtung, aber wo ein Wille ist, da ist ein Weg!
Die Neue raschelt mit ihren Blüten und reckt sich. „Guten Morgen!“ ruft sie. Auf dem Balkon herrscht gespannte Stille.