Der Junge

Der Junge wippte vor und zurück, vor und zurück, die Ungeduld pulsierte ihm in Armen und Beinen und kullerte ihm durch den Kopf. Der heftige Wind zerrte an seinen Haaren und fuhr ihm unter die Jacke, aber der Junge war immun gegen die Kälte. Es gab endlose Dinge zu tun, es war wichtig, sie zu tun, sie brannten ihm in den Handflächen und unter den Fußsohlen und flüsterten ihm Dinge in die Ohren. Er wusste, jetzt war noch nicht der Zeitpunkt, und die Spanne zwischen dem Jetzt und später erschien ihm unendlich, eine nicht zu erfassende schiere Masse an unbestimmbarer Zeit. Der Himmel war grau und unfreundlich, der Wind hatte ein eigenes Leben, er schrie von Drachen, Möwenflügen und Sandverwehungen, und dem Jungen schien jeder Windschrei wie eine eigene, verheißungsvolle Verlockung. Die Erwachsenen waren weniger begeistert über den Wind, der kalt in ihre T-Shirts und unter ihre zu dünnen Jacken fuhr und die Frisuren durcheinanderbrachte.
Die Tante beugte sich hinunter und umarmte den Jungen, er erwiderte die Umarmung nur halbherzig, obwohl er seine Tante mochte, aber die Ungeduld in ihm war zu laut und lenkte seine Aufmerksamkeit fort vom Bahnhof und dem Abschied, der jetzt schon endlos anhielt, wie ihm schien.
Seine Mutter sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf, und den Jungen durchzuckte ein Anflug von schlechtem Gewissen. Er umklammerte als Wiedergutmachung kurz die Beine seiner Tante. Sie lächelte ihn an und er wusste, alles war gut. Er ließ los und rannte in einer kleinen, explosionsartigen Entladung ein paar Schritte nach vorn, sprang in die Luft und um ein paar Koffer herum. Die Erwachsenen umarmten sich jetzt und sprachen letzte Worte, dann stieg die Tante in den Zug, der sie zur Fähre bringen würde.
Der Junge winkte und dachte an die Schlammburg, die er heute bauen würde, an durchsichtige Krebse und an kalte, hastige Wellen zwischen seinen Zehen. Er spürte die Drachenschnüre in seinen Handflächen brennen, als der Zug hinter einer Kurve verschwand und sah die leuchtend bunten Drachenschwänze in der Luft Salto schlagen. Die Dringlichkeit, all diese Dinge zu tun, wuchs in einer großen Welle in ihm an und versperrte alles andere. „Können wir jetzt zum Strand gehen?“ fragte er und versuchte, nicht allzu ungeduldig zu klingen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es dann meist viel länger dauerte oder gar nicht passierte.
Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Wir müssen zuerst zur Wohnung, uns umziehen und die Taschen packen, und dann gucken wir, wie das Wetter wird. Es ist frisch heute, und ich will nicht, dass du dich erkältest.“
Die Unterlippe des Jungen zuckte. Er sah, wie die kleinen durchsichtigen Krebse im Sand verschwanden und wie der Drachen zu Boden trudelte. Er schluckte krampfhaft und begrub das „ABER!“ in sich unter den Sandwällen der einstürzenden Schlammburg.
„Komm“, sagte sein Vater, „heute nachmittag sehen wir weiter. Vielleicht mit Gummistiefeln und Regenjacke, und wir nehmen den Käscher mit, ok?“ Seine Mutter seufzte, aber sie sagte nichts.
Der Junge spürte, wie die Krebse sich wieder ausgruben, ein halbes Lächeln huschte über sein Gesicht. Heute nachmittag war eine Unendlichkeit weit entfernt, fast ungreifbar, schlecht vorstellbar, aber ein Versprechen. In seinen Ohren zischten die kleinen Wellen und erzählten Geschichten von Piraten und Meerjungfrauen, von grauen Seehunden und Bernsteinbrocken.

Was ich heute hörte

  • da ist die Insel!
  • ich seh nichts
  • doch, da, das weiße
  • jetzt sind wir gleich da!
  • das dauert noch
  • lasst uns auf Deck 2 gehen, da geht’s gleich schneller!
  • lass uns mal hierbleiben, da sind wir direkt am Ausstieg
  • oh, guck mal, wie schön
  • da sind nur alte Häuser und Büsche
  • iiiihhh, eine Riesenmonsterspinne!
  • Mama, wie weit ist es noch?
  • ich will auch auf der Mauer laufen!
  • eine Möve!!
  • das sind Riesenlummen. Oder so ähnlich.
  • boah, die stinken, die Viecher!
  • stinkt das hier!
  • was stinkt denn hier so?
  • Guano soll ja gut für den Garten sein
  • und das Gestein hier ist ganz weich und dazwischen sind härtere Schichten, deswegen bröckelt das so…
  • Mama, der große Stein da steht aber schief
  • ich will jetzt was essen!
  • komm jetzt Ronja und lass das
  • wuff!
  • die Sonne brezelt aber ganz schön
  • wie viel Wellen die Kaimauer wohl abhält?
  • das Schiff kommt!
  • wir müssen den Tisch freimachen
  • ne, bestell noch zwei Kaffee
  • fast hätte ich auf deinen Kopf geascht
  • wo bleibt denn das Schiff?
  • Hunger hab ich wie ein Schwein
  • ich glaub, ich hab Sonnenbrand
  • ist das das Schiff?
  • tbc

Was ich unter Küstenschönheiten verstehe

  • die schnurgerade Linie aus Strandkörben
  • das knallorangene Küstenschutzboot
  • jede Menge dicke Pötte
  • Möven mit Ziel
  • der blauweiß gestreifte Hut auf dem Kopf neben mir
  • Alte Liebe
  • alle Blaus (helles, graues, sahneblaues)
  • die hübschen Küstenschwalben
  • das Schiff unter mir
  • Aussichten

Der Dienstag dichtet heute in Urlaubslaune. 😊

Der Dienstag dichtet!  
Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Dienstag ist Gedichtetag. Wer sich anschließen will, ist herzlich willkommen! Mit dabei sind:

Mutigerleben
Wortgeflumselkritzelkrams
Werner Kastens
Gedankenweberei
Erinnerungswerkstatt
Dein Poet
Geschichte/n mit Gott
Wortmann
Traumspruch
Voller Worte
Zielstrebig
Puzzleblume
wolkenleer
Querfühlerin

Was besser ist, als das Treppenhaus sauber zu machen

  • spontan beschließen, einen Ausflug zu machen
  • ans Meer fahren
  • wie der Nordwind an den Haaren zupft
  • wie das Watt im Wind knistert
  • wie die kleinen Wellen flüstern
  • Schlamm zwischen den Zehen haben
  • einen Batman-Drachen bewundern
  • mit der Flut an Land gespült werden
  • dösen mit der Sonne im Rücken
  • nach Hause fahren, ohne den Tag wie eine Zitrone ausgequetscht zu haben
  • glücklich durchs unsaubere Treppenhaus gehen

schwarm

ich schwimme
im unendlichen
über und
unter mir
unermesslicher raum
ich schwimme allein
mit vielen
alle sind wir
auf demselben weg
ich atme leicht
leben ist einfach
wir wissen wohin
nach vorn
immer nach vorn
ich schwimme
allein
mit vielen
wir bewegen uns
leicht
im einklang
zusammen
allein in den vielen
wir schwärmen
in der unendlichkeit
nach vorn
immer nach vorn

Der Dienstag dichtet!  
Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Dienstag ist Gedichtetag. Wer sich anschließen will, ist herzlich willkommen! Mit dabei sind:

Mutigerleben
Wortgeflumselkritzelkrams
Werner Kastens
Nachtwandlerin
Gedankenweberei
Erinnerungswerkstatt
Lebensbetrunken
Dein Poet
Geschichte/n mit Gott
Suses Buchtraum
Wortmann
Traumspruch
Lyrik trifft Poesie
Voller Worte

Zimmerreise – der Leuchtturm in der Küche

Bei puzzleblume habe ich neulich die Zimmerreisen entdeckt, die ich sehr verführerisch finde. So eine Wohnung ist unentdecktes Land, hinter jedem Gegenstand lauert eine Geschichte darauf, erzählt zu werden. Daher gibt es hier meine erste Zimmerreise zum Buchstaben B wie Bild.

In meiner Küche hängt ein Bild von einem Leuchtturm mit einer Badewanne auf der Aussichtsplattform. Sie hat ein Sonnensegel. Die Badewanne, nicht die Aussichtsplattform. Und unter dem Sonnensegel sitzt jemand mit blonden Haaren und badet, vor sich die blaue See mit ein paar weißen Schafswolken und einer absolut beneidenswerten Aussicht. Ein Geschoss tiefer stehen die Fenster offen, ein paar Möwen nutzen den Schatten, ansonsten: Nichts. Nur sehr viel Sand und Meer. Man kann die Stille hören und das Salz riechen, die Wärme fühlen, die über die Haut streicht, dazu das leise Rauschen der See.
Dieses Bild musste ich haben, und entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten habe ich tatsächlich nach dem glücklichen Kauf sofort nach einem Rahmen dafür gesucht und ihn auch noch gefunden. Nirgendwo sonst in meiner Wohnung gibt es etwas Silbernes (naja, Besteck schon), und schon gar keine Rahmen in Silber. Aber hier musste es genau dieser sein, weil er die Leichtigkeit und die Helligkeit und den Sommer transportiert, die mir aus dem Bild entgegenquellen. Und das Bild musste in die Küche, weil ich mich dort sehr oft aufhalte und weil mein Blick vom Küchentisch immer fast direkt auf das Bild fällt, und ich einen kleinen Moment innehalte und mich freue, weil der Sommer entweder gerade da ist oder irgendwann wieder kommt. So ein Leuchtturm als Sommerresidenz, das wäre was, aber wenn, dann natürlich nur mit Badewanne auf der obersten Plattform, man hat ja seine Vorstellungen, vor allem, wenn sie einem so direkt vor Augen gemalt werden. Ach ja, und an der Seilwinde rechts sollte bitte das Frühstück hängen, das vorbei gebracht wird. Mit Croissant, bitte. Wenn schon, denn schon.
Ich kenne die Malerin und bin (immer noch) der Meinung, sie hat sich selbst da direkt hineingemalt, das ganze Bild ist sie, es passt eins zu eins zu ihr, als ob es ihr direkt aus den Fingern geflossen wäre. Im übertragenen Sinn, natürlich, in Form von Aquarellfarben, wir wollen hier ja keine Assoziationen von Dornröschen, Spinnrädern, Blutstropfen und hohen Türmen wecken. Mit Dornenhecken will ich zumindest auf diesem Bild nichts zu tun haben.
Neben meinem Sehnsuchtsbild von Meer, Leuchttürmen und einsamen Stränden befindet sich übrigens eine Pinnwand, an der in normalen Zeiten (also nicht in Corona-Zeiten) lauter kleine Dinge hängen, die auf schöne Dinge in der Zukunft verweisen: Eintrittskarten, zu kaufende Bücher oder CDs, Ausflugsüberlegungen, Gutscheine usw.. Eine Terminnotiz von meinem Schornsteinfeger hängt da auch, aber das macht nichts, er ist immer nett, auch, wenn er meist um 07.10 Uhr bei mir klingelt, wenn ich noch gar nicht genau weiß, wer ich bin. Neben der Schornsteinfegernotiz hängt ein kleiner Zettel, auf dem ich Namen von zukünftigen Protagonisten notiert habe. Sie existieren schon, sind aber bisher noch namenlos. Nicht, dass ihnen das etwas ausmachen würde. Sie wissen ja noch nicht, was ihnen fehlt. Höchste Zeit, mich ihnen wieder mal zu widmen.

Ein Sehnsuchtsbild von Katja Priebe, hier leider farblich eher unterirdisch wiedergegeben. In echt strahlt es und duftet nach Sommer.

10 Arten, einen Urlaub zu beenden

10 Arten, einen Urlaub zu beenden

1. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, nach Hause fahren.
2. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, sich ins Auto setzen, ein bisschen weinen, nach Hause fahren.
3. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, sich auf die Terrasse setzen, ein herzzerreissendes Requiem schreiben.
4. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, den Strandkorb in der Eingangshalle umarmen und nie mehr loslassen.
5. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, zum Strand gehen, sich einbuddeln lassen und hoffen, dass einen niemand findet.
6. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, den Lottogewinn sinnvoll einsetzen, das Haus kaufen und ans Meer ziehen.
7. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, ein Baumhaus im Kiefernwald bauen und Selbstversorger werden.
8. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, am Strand im Wasser herumplantschen und Pläne schmieden, das Meer in die Mitte Niedersachsens umzusiedeln.
9. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, soviele Möwen anfüttern wie möglich, sie einspannen und mit ihnen davonfliegen.
10. die letzte Mahlzeit essen, sich verabschieden, nach Haus fahren und den nächsten Urlaub buchen.

mehr!

mehr!

so wellig
so spritzig
so silbrig
so Meer!
so fischig
so algig
so muschlig
so Meer!
so dämmrig
so salzig
so kühl
so Meer!
so zischend
so riesig
unendlich
so Meer.
mehr!

Der Dienstag dichtet! 🙂  Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Jeden Dienstag wird ein Gedicht aus eigener Herstellung veröffentlicht. Auch WortgeflumselkritzelkramMutigerlebenWerner KastensFindevogel, die WortverzauberteLyrikfederDer BerlinAutorNachtwandlerinLindas x Stories, Myriade, Gedankenweberei, MynaKaltschneeWortverdreher und
Lebensbetrunken sind mit von der Partie. Schaut doch mal bei ihnen vorbei, der Dienstag fängt besser an mit ein bisschen Wortzauberei!

10 unterseeische Geheimnisse

10 unterseeische Geheimnisse

  1. Meerpferde wiehern nicht, sie blubbern. Laut.
  2. Muscheln sind schlimme Tratschtanten. Gerüchte verbreiten sich bei Ihnen schneller als eine Flunder über die Muschelbank schwimmen kann.
  3. Meer und Sturm sind streitende Liebende. Zum Schluß versöhnen sie sich immer wieder.
  4. Quallen sind fast immer schlecht gelaunt.
  5. Luftbläschen kichern, wenn sie im Wasser nach oben steigen. Sie sind furchtbar kitzlig.
  6. Haie sind unfassbar eitel. Sie haben immer einen Kamm hinter ihren Kiemen für ihre seegrünen Mähnen.
  7. Walmänner werden immer freundlicher, je dicker sie werden.
  8. Sprottenschwärme sind die Mückenplagen der flachen Gewässer. Sie können es nicht lassen, alles und jeden anzuknabbern.
  9. Leuchttürme sind Riesenstecknadeln, die das Land festpinnen, damit es nicht wegschwimmt.
  10. Flamingofische mögen ihre rosa Schuppen nicht. Sie tragen jeden Morgen wasserfestes, grünes Make-Up auf.