Fräulein Honigohr und der Fingerhut

Fräulein Honigohr stuppst den lila Fingerhut mit dem Zeigefinger an. Er nickt und setzt die Blüten an der Dolde in zitternde Bewegung. Ein süßlicher Duft breitet sich aus. „Wir hatten das doch besprochen“, sagt Fräulein Honigohr, „du hast Wohnrecht am Fluss, in allen kinderlosen Gärten und an der Autobahn. Aber nicht hier.“ Sie stuppst ihn erneut, dieses Mal etwas nachdrücklicher.
Der Fingerhut grollt. Ein Beben geht durch das lila Feld, wütende Parolen steigen auf, untermalt mit Glöckchenklang. „Nein“, sagt Fräulein Honigohr und sie klingt streng, „ihr wart nicht zuerst hier. Zufällig weiß ich, dass der Kindergarten vor euch da war.“
Der Fingerhut zuckt mit den Blättern.
„Meinetwegen“, sagt Fräulein Honigohr, „dann ist eben der Wind schuld. Trotzdem haben wir ein Abkommen. Also!“ Sie blickt auffordernd um sich. Die Fingerhüte fluchen glöckchenhell und neigen sich zusammen. Dann richten sie sich auf und weigern sich, Fräulein Honigohr anzusehen. Sie schüttelt den Kopf. „Wenn ihr das Abkommen brecht, garantiere ich für nichts. Ich kenne einen Gärtner, der in einer Stunde hier sein kann.“
Der erste Fingerhut erstarrt. Alles ist still, kein Blatt rührt sich. Fräulein Honigohr bekommt fast ein schlechtes Gewissen, aber wenn sie nicht durchgreift, ist nächstes Jahr der gesamte Kindergarten umschlossen von Fingerhut und dann kommt erst recht der Gärtner. „Du hast die Wahl“, sagt sie und streicht dem Anführer über die Blüte, „Umzug heute nacht an die Flussauen und ihr lasst bis dahin keinen einzigen Samen frei. Oder den Gärtner in einer Stunde.“
Blütenschweres Schweigen antwortet ihr, dann steigen lila Flüche empor, die Dolden reiben sich aneinander und bemitleiden sich. Fräulein Honigohr ist unnachgiebig. Schließlich nickt der Anführer widerwillig.
„Geht doch“, sagt Fräulein Honigohr. „Wir sehen uns um Mitternacht.“ Als sie aufbricht, zischt es giftig hinter ihr her. Tja, denkt sie, man kann nicht mit jedem befreundet sein.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Die Regeln sind maximal 300 Wörter und im Text unterzubringen ist die Wortspende, dieses Mal gespendet von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Sie ist auch die Organisatorin der abc-Etüden – vielen Dank dafür!

Frau Möllendiek sucht Heimat

Beim Abendbrot fragt Frau Möllendiek sich, warum sie sich eigentlich so oft heimatlos fühlt.
„Es sind die Menschen, meine Liebe“, sagt die Ökofrau und beißt knackend in ein Gürkchen.
Frau Möllendiek wundert sich schon längst nicht mehr, warum die Ökofrau dauernd ihre Gedanken kennt, bevor sie sie laut ausgesprochen hat.
„Menschen machen Heimat“, sagt die Ökofrau und schluckt den Rest des Gürkchens hinunter.
Frau Möllendiek zieht zweifelnd die Stirn kraus. Was ist mit ihrem Lieblingssessel, den Ritualen und ihren Hausschuhen?
„Die natürlich auch“, sagt die Ökofrau, „mit den Menschen zusammen ergibt das Heimat.“ Sie lehnt sich zurück, ihre grauen Locken wallen über ihre Schultern. „Sie haben die Menschen ein wenig vernachlässigt in den letzten Jahren.“
Frau Möllendiek schnauft. Ihr Leberwurstbrot liegt vergessen auf dem Teller. „Die Menschen haben mich vernachlässigt, so sieht das doch wohl aus!“
„Mag sein. Ist immer eine Frage der Perspektive“. Die Ökofrau trinkt seelenruhig einen Schluck Tee. Frau Möllendieks Adrenalinpegel steigt.
„Wollen Sie heute abend auszeichnen?“ fragt die Ökofrau. Richtig. Die Kleiderbörse. Frau Möllendiek will ihren Kleiderschrank ausmisten, aber ihre Sachen sind zu gut für die Kleidersammlung, also kommt nur etwas so suspektes wie eine Kleiderbörse in Frage. Immerhin ist es nachhaltig. Sie nickt widerwillig.
„Sehr gut“, sagt die Ökofrau. „Da gibt´s ein Cafe. Sie könnten sich mit den anderen Kundinnen unterhalten.“
Frau Möllendiek seufzt laut. Immer diese anstrengenden Interaktionen. „Meinetwegen.“ So schlimm wird es wohl nicht werden. Oder?
„Es sind nur Menschen, meine Liebe“, sagt die Ökofrau, „sie schaffen das.“

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, organisiert von Christiane – vielen Dank! Die Wortspende stammt von Puzzleblume und ihrem Blog puzzle ❀. Sie lautet:

Abendbrot, heimatlos, auszeichnen. Alle anderen Regeln sind im Bild zu finden.

Frau Möllendiek rechnet

Frau Möllendiek sitzt auf ihrem Sofa und versucht sich zu entspannen, aber es klappt nicht. Die Unterwürfigkeit, die geht ihr am meisten auf die Nerven. Sie ist schließlich keine Tyrannin, oder? Sie hat ein Vertragsverhältnis, so ist das. Wer einen Vertrag eingeht, ist gebunden, da gibt es nichts zu rütteln. Mit Unterwürfigkeit kommt man da nicht weiter, so leid es ihr tut. Wobei, es tut ihr eigentlich nicht leid. Sie kann ja schließlich nichts dafür, wenn andere ihr Geld verjubeln. Sie verlangt nur das, was ihr zusteht!
Neulich hat sie sich mit der Ökofrau gestritten, die ihr kapitalistische Ausbeutung vorgeworfen hat, weil sie zwei Wohnungen besitzt. Hallo? Sie kann doch nichts dafür, dass sie ein bisschen Eigenkapital geerbt hat! Die Wohnung ist für ihre Altersversorgung, also für jetzt, und sie möchte die Miete bitteschön pünktlich haben, nicht erst dann, wenn ihr Mieter seine Schulden abbezahlt hat. Obwohl sie das Geld nicht unbedingt braucht, wenn sie ehrlich ist. Aber es geht ums Prinzip! Auch wenn ihr Mieter bislang immer pünktlich gezahlt hat.
Frau Möllendiek verschränkt die Arme. Da könnte ja jeder kommen! Wehret den Anfängen! Sie hat sich noch nie verschuldet! Sie hört die Stimme der Ökofrau in ihrem Kopf, obwohl sie versucht wegzuhören: ‚Kein Wunder, Sie hatten ja auch noch nie ernsthafte Geldprobleme, da ist es leicht, über andere zu meckern…‘ Sie muss zugeben, da ist was Wahres dran, aber das tut nichts zur Sache, und überhaupt: Sie würde ihren Zahlungverpflichtungen immer nachkommen, Ehrensache. Schließlich bricht man ein Vertragsverhältnis nicht. Oder?
Eigentlich mag sie ihren Mieter. Er ist ernsthaft, stets korrekt und hat bislang nie versucht, sie übers Ohr zu hauen. Er flirtet auch nicht auf diese peinliche Art. Frau Möllendiek reckt das Kinn. Vielleicht kann sie doch ein oder zwei Wochen warten. Schließlich ist sie keine kapitalistische Ausbeuterin! Oder?

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, wie immer organisiert von Christiane – vielen Dank dafür! Die Beitragbedingungen gibt es oben im Bild zu lesen. Wortspender war Werner Kastens mit seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Fiese Worte dieses Mal, echt jetzt! 😁

Frau Möllendiek bekommt Besuch

Frau Möllendiek liegt faul unter ihrer Wolldecke und zappt zwischen dem Traumschiff und Bingo hin und her, als es an der Tür klingelt. Augenblicklich schaltet sie in den Krisenmodus, macht den Fernseher aus, wirft die Wolldecke in ihr Schlafzimmer, versteckt die Schokopralinen unter der Fernsehzeitung und rennt zum Spiegel. Mist, denkt sie, ich hätte duschen sollen. Sie fährt sich mit beiden Händen durchs Haar und öffnet die Tür. Die Gesichtszüge entgleisen ihr. Draußen steht die Ökofrau mit den grauen Wallehaaren. „Sie!“ ruft sie.
„Auch einen schönen Tag“, sagt die Ökofrau. „Darf ich reinkommen?“
Frau Möllendiek verschränkt die Arme. „Warum?“ Es klingelt so selten bei ihr, und jetzt ist es ausgerechnet die besserwisserische Ökofrau.
„Ist in Ihrem Interesse“, sagt die Ökofrau, „aber ich kann auch wieder gehen.“
„Kommen Sie rein“, sagt Frau Möllendiek, „wenn Sie schon mal da sind.“ Die Ökofrau ist besser als gar kein Besuch.
„Sehr freundlich“, sagt die Ökofrau, „ich will gar nicht lange bleiben, ich wollte Ihnen nur empfehlen, die Garagen Ihrer Nachbarn wieder aufzuschließen. Ich möchte Sie ungern im Krankenhaus besuchen müssen.“
„Das… das… wie kommen Sie auf die Idee, dass ich das war? So eine Unverschämtheit!“
Die Ökofrau lächelt matt. „Sie haben alle Schlüssel, Sie regen sich auf, wenn jemand das Garagentor unter Ihrem Schlafzimmer öffnet, Sie sind der Meinung, alle sollten weniger Auto fahren, weil das gut fürs Klima ist und Sie haben sich schon mit jedem einzelnen der Garagenmieter gestritten.“
Frau Möllendiek schnauft. „Das ist kein einziger Beweis!“
Die Ökofrau mustert sie nachdenklich. „Haben Sie schon mal im Krankenhaus gegessen?“
Frau Möllendiek schüttelt den Kopf und denkt an Frikassee, Schweinspastete und selbst eingelegte süßsaure Gurken. „Möchten Sie einen Kaffee?“ fragt sie dann. Es klingt kleinlaut.
Die Ökofrau nickt. „Mit Milch und Zucker“, sagt sie, „und eine von Ihren Pralinen nehme ich auch.“

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, auch in 2024 organisiert von Christiane, vielen lieben Dank dafür. Die Wortspende kam von Ludwig Zeidler, der seinen Blog aufgegeben hat. Die Regeln: Maximal 300 Wörter, drin sein müssen Krisenmodus, faul und empfehlen. Frau Möllendiek dankt, sie freut sich, mal wieder zu Wort kommen zu dürfen, schließlich wird ihr sonst oft genug das Wort abgeschnitten, was eine große Frechheit ist, und die Leute werden schon noch sehen, wohin das…

Ent-Einschüchterung im Institut für experimentelle Lebensberatung

Die Beraterin beugt sich soweit nach vorne, dass der schwarze Stoff ihres Kostüms an den Schultern spannt. „Na los! Entscheiden Sie sich! Wie lange wollen Sie noch überlegen? Wir wollen nicht hier übernachten, oder?“ Ihre Augen glitzern, die verschiedenfarbigen Fingernägel glänzen. Es macht ihr Spaß, eindeutig.
Ich zögere. Ich kann mich nicht entscheiden. „Vielleicht… vielleicht doch alles mehr nach links? Nein! Lieber nach rechts! Oder… wir lassen alles wie es ist?“
„Meine Güte!“ Die Beraterin haut mit der Faust auf den Tisch. „Entscheiden Sie sich endlich! Das kann doch nicht so schwer sein!“
Ich zucke zusammen. Das war grob. Ich kann mit Grobheit nicht umgehen, etwas in mir schrumpelt dann wie verbranntes Papier zusammen. „Ich weiß nicht…“, hauche ich, „ist es denn nicht egal, wie…“
„Nein!“ brüllt die Beraterin, „Sie MÜSSEN sich jetzt entscheiden! Jetzt! Los!“ Sie starrt mich an, und ich fühle, wie meine Unzulänglichkeit mich immer kleiner macht. Und dann, als ich mit gebeugtem Rücken da sitze und auf den Boden starre, unfähig, mich zu entscheiden, ploppt ein kleines Fünkchen Aufsässigkeit in mir auf. Was passiert hier gerade? Langsam hebe ich den Kopf und sehe die Beraterin an. Grinst sie etwa gerade? Ich richte mich auf. „Wir müssen heute gar nichts entscheiden“, sage ich leise.
„Was?“ brüllt die Beraterin, „warum flüstern Sie so? Können Sie nicht lauter reden?“
„Nein“, sage ich und stehe auf. „Und ich denke, wir beenden das jetzt.“
Die Beraterin atmet durch, richtet ihr Kostüm und sieht sehr zufrieden aus.
„Das macht Ihnen Spaß, oder?“ frage ich. Das Erstaunen über meine Widerworte rinnt warm durch meine Adern.
Die Beraterin nickt. „Es ist noch besser, als Lehrerin zu sein, und das will was heißen“, sagt sie und grinst genauso breit wie die Grinsekatze, als sie Alice begegnet.
„Sie sind gut“, sage ich.
„Ich weiß“, antwortet sie.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Alles, was man wissen muss, steht oben im Bild mit der wunderbaren Tafel mit der schrecklichen, für mich völlig unverständlichen Formel. 😁 Organisiert wird alles von Christiane und die Wortspende kommt von Gerhard und seinem Blog Kopf und Gestalt. Und falls jemand die anderen zwei Beiträge zum Institut für experimentelle Lebensberatung lesen möchte, bitteschön:

Termin im Institut für experimentelle Lebensberatung
und
Beratungszimmer Nr. 3 im Institut für experimentelle Lebensberatung

Eroberungen

Seit einer halben Stunde sitze ich vor meinem Notebook und starre den Bildschirm an. Der Wind weht lau, der Himmel ist milchweiß überzogen und ab und zu röhrt auf der Hauptstraße hinter den Häusern ein Motorrad vorbei. Ansonsten: Stille. Ich stütze die Ellenbogen auf dem Tisch ab und mache nur ganz kurz die Augen zu, sie sind heute irgendwie viel schwerer als sonst… und höre ein Kichern. Ich öffne die Augen. Neben meinem Notebook hocken drei Ameisen und machen sich über mich lustig.
„Guck sie dir an, faul wie eine ganze Schar Blattläuse kurz vor dem Melken!“
„Die hat heute überhaupt noch nichts gemacht, oder?“
„Nö. Nur rumgesessen und gegessen und in so einem Buchdings geblättert.“
„Ob ich es in ihre Nasenlöcher schaffen würde?“
„Igitt! Aber heute hättest du gute Chancen. Wollen wir wetten?“
„Top! Ich setze den Tropfen Apfelkompott von heute morgen!“
Ich blinzele. Dann lächle ich grimmig. „Top!“ rufe ich, „ich wette drei zerquetschte Ameisen dagegen!“
„He! Was denn! Soviel Aggression!“ ruft die erste Ameise.
„Lasst uns stiften gehen!“ schreit die zweite, rührt sich aber nicht vom Fleck.
„Welche Ameisen meint sie?“ fragt die dritte. Ohje. Ein Schnellmerker.
„Tja, welche wohl?“ frage ich und beuge mich sehr dicht über den Tisch. Aus der Nähe betrachtet sehen sie aus wie drei kleine Aliens.
„Wir können doch über alles reden!“ ruft die Anführerin.
„So? Wie kommt ihr dazu, euch über mich lustig zu machen? Ich bin hier schließlich die Giesserin, die Pflanzerin und Betreuerin, ohne mich gäbe es hier keine Margariten, auf denen ihr eure Blattläuse weiden könnt!“ sage ich und haue mit der Faust auf den Tisch. Die drei Ameisen hopsen hoch.
„Du meine Güte“, sagt die erste, „du bist heute aber empfindlich. Du musst doch zugeben, dass du wirklich noch nichts vollbracht hast, oder?“
Ich schnaube. „Natürlich habe ich heute schon was gemacht, ich bin aufgestanden, habe gefrühstückt, wichtige Level in meinem Spiel geschafft, geduscht, ein Nickerchen gemacht… also, was jetzt?“
Die drei starren mich an. Die zweite Ameise fängt an, im Kreis herumzulaufen und zu deklamieren. „Arbeiten, arbeiten, arbeiten, das ist der Lebenssinn, vorwärts, nach oben, nach unten, immer für das Volk, arbeiten, arbeiten, arbeiten, das ist der Lebenssinn, graben, sammeln, jagen, arbeiten, arbeiten, arbeiten…“
Ich habe keine Lust mehr zuzuhören und haue nochmal mit der Faust auf den Tisch. „Klauen, stehlen und belagern meint ihr wohl, was? Was ist mit meinem Apfelkompott, das ihr heute morgen übernommen habt? Gestern habe ich eine von euch in der Schaumkrone meines Rhabarberbiers gefunden! Nicht mal Wasserflaschen sind vor euch sicher!“
Die dritte Ameise richtet sich auf. Sie sieht empört aus. „Wenn bei uns Dürre herrscht und du so dumm bist, Wasser stehen zu lassen, bedienen wir uns, das ist doch wohl klar, oder?“
Ich zische irgendwas vor mich hin.
„Und das mit der Schaumkrone war ein Malheur, wenn Nr. 1268 gewusst hätte, dass man im Schaum einsinkt, wäre er wohl vorsichtiger gewesen.“ Die drei Ameisen senken die Köpfe und lassen die Fühler hängen. „Friede seinen Beinen, möge er für immer arbeiten“, murmeln sie im Chor.
Ich zucke mit den Schultern. „Wieso das? Ich habe ihn nur über das Geländer geschnipst, da war er bei bester Gesundheit“, erkläre ich.
„Das war Nr. 1743. Der ist heute auf Patrouille am Nachbarbalkon.“
„Und wo ist… oh.“ Entsetzt schlucke ich. Die drei Ameisen verziehen keine Miene und ich reiße mich zusammen. „Auf jeden Fall habe ich heute wichtige Dinge erledigt, Menschendinge, und wenn ihr arbeitssüchtigen Landplagen das nicht versteht, selbst schuld.“ Zufrieden lehne ich mich zurück. Damit ist die Diskussion wohl beendet.
„Du wolltest die Hühnergötter wieder aufhängen, schon letzte Woche hast du davon geredet, wir haben dich gehört! Und? Wo sind sie?“ Die zweite Ameise richtet sich auf und stemmt das erste Paar Beine in die Seite.
„Keine Ahnung, ich bin halt noch nicht dazu gekommen, und wozu braucht ihr überhaupt Hühnergötter, die sind doch total nutzlos für euch! Kein Zucker, kein Bier, nichts zu holen auf den Dingern!“ frage ich genervt.
„Die schaukeln so schön“, flüstert die dritte Ameise und bekommt sofort Seitenhiebe von den zwei anderen. Sofort redet die erste weiter: „Und du wolltest wieder Johanniskraut pflanzen, das hast du auch nicht gemacht. Faul, du bist einfach faul!“
„Das Johanniskraut hat sich ausgebreitet wie eine Plage, es hätte den ganzen Balkon übernommen, wenn ich es gelassen hätte.“ Wieso verteidige ich mich eigentlich?
„Der ganze Balkon voller Johanniskraut“, murmelt die dritte Ameise mit glasigen Augen, „ich könnte endlich mal schlafen…“ Die anderen zwei wirken auch etwas benommen. Aha. Soviel zum Thema ‚arbeiten, arbeiten, arbeiten‘. „Und überhaupt!“ rufe ich, „wieso seid ihr auf meinem Balkon? Im zweiten Stock? Was wollt ihr hier?“
Sofort stellen die drei sich auf wie ein kleines Bataillon und fangen an zu singen: „Wir besiedeln, wir erobern, wir arbeiten, arbeiten, arbeiten, immer weiter, immer voran, alle zusammen, niemals allein, wir besiedeln, wir erobern…“
„Schluss jetzt!“ schreie ich und donnere noch einmal mit der Faust auf den Tisch. „Ihr macht euch jetzt davon, oder ihr endet wie Nr… Nr. eintausenzweihundertirgendwas! Lasst euch hier nicht mehr blicken!“
„Ist ja schon gut“, sagt die erste Ameise kühl, „wir sind schon weg.“
„Und kommen niemals wieder…“ ruft die zweite.
„Aber lass ja keinen Kuchen herumstehen, ich garantiere für nichts“, kräht die dritte und dann marschieren sie über den Balkontisch davon und verschwinden in einer Holzlücke. Kurz bevor sie weg sind, höre ich, wie die erste zur zweiten sagt: „Meinst du, sie hat bemerkt, dass Nr. 388 und Nr. 2954 in den Lüfter ihres Notebooks gekrochen sind?“
„Nö. Sie ist einfach… tja, ein Mensch. Kann sie ja nichts für.“
„Morgen erobern wir dann das Wohnzimmer, ok?“
„Jaaa! Wir erobern, wir besiegen, wir besiedeln…“ singen alle drei einstimmig und sind verschwunden.
Ich spitze meinen Mund. Im Lüfter, ja? Ich hebe mein Notebook an, schüttele es kräftig und höre Gejohle aus seinem Inneren. Wütend schüttele ich noch ein …

Das war ein Beitrag zum Etüdensommerpausenintermezzo 2023! Sieben von zwölf Wörtern müssen im Text enthalten sein, und ich habe sieben ausgewählt und strategisch verteilt. 😊Außerdem sollte eine Konversation enthalten sein, und die ist aber sowas von enthalten, meine Güte… 😁 organisiert wird das Ganze von Christiane mit ihrem Blog Irgendwas ist immer, vielen Dank dafür!

Kiefernglanz

Kiefernglanz

jetzt tanzen sie wieder
zu klirrend kalter Mondmusik
bauen frostige Lager
in Astgabeln
Flügelpaare leuchten
im blauen Licht
Nestbau zwischen Sternen
und Morgenglanz
der erste kleine Frühling
erwacht im Januarmond

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden und ein Beitrag zum dichtenden Dienstag! Jahreszeitlich nicht ganz passend, aber was soll man machen, wenn da „frostig“ als Vorgabe steht! 😊 Die Vorgaben für die Etüden siehe Bild, organisiert wird das ganze von Christiane – vielen Dank!

Nestbau

Fräulein Honigohr kuschelt sich tiefer ein. Die roten Blütenblätter leuchten. „Weißt du noch“, fragt sie schläfrig, „wie ich dir ein Nest gebaut habe? Es war kalt, und naß, aber dir hat das nichts ausgemacht, du warst so schön… rund und braun und du hast nach Frühling gerochen…“
Die Tulpe summt im warmen Wind.
„Genau“, sagt Fräulein Honigohr, „so ist es, meine Liebe. Ich habe mir ein paarmal Sorgen gemacht, weißt du das? Es war so frostig draußen, und ungemütlich. Aber das hätte ich gar nicht tun müssen, oder?“
Ein Leuchten wie ein Lachen rauscht über die roten Blätter.
„Ich wusste es“, murmelt Fräulein Honigohr und blinzelt träge in den Himmel. Die Sonne glüht durch das tiefe Rot und wirft Feuerwirbel über ihr Gesicht. Die Tulpe dehnt sich der Sonne entgegen, ihre Blätter tanzen im leichten Wind.
„Nächstes Jahr werde ich Nestbau für dich betreiben“, murmelt Fräulein Honigohr, bevor sie einschläft. „Dann kannst du im Schwarm tanzen.“
Die Tulpe singt.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden (Bedingungen siehe Bild oben), und organisiert werden die Etüden von Christiane – vielen lieben Dank! 😊

Rufus und der Dichter

Mit langen Schritten lief sie den Pfad am Waldrand entlang, hielt sich im Schatten der Kiefern und sah in den übertrieben blauen Himmel hinauf. Eine Dichterlesung! Was hatte sie sich dabei gedacht? Lyrik war noch nie ihr Ding gewesen, sie bevorzugte Liebesromane, und zwar die, bei denen man schon am Anfang wusste, wer am Ende zusammensein würde. Trotzdem hatte sie sich überreden lassen, mitzukommen, und was war das für ein Abend gewesen! Experimentelle Lyrik! Selbst nach zwei endlosen Stunden hatte sie immer noch keine Ahnung, was der Dichter ihr zu sagen versuchte, außer, dass er nicht nur sich, sondern auch sie unwiderstehlich fand. Er flirtete sie dermassen hemmungslos an, dass sie sich fast ducken musste, um nicht weggeblasen zu werden von all den stürmischen Blicken. Ihre Freundin hatte gegrinst. Natürlich!
Sie lehnte sich auf das sonnenwarme Gatter vor ihr und rief nach Rufus. Er hob den Kopf, I-Ahte laut und trabte auf sie zu. Esel! Die waren genügsam, sie brauchten fast nichts, außer ein bisschen Kraftfutter ab und zu und eine kraulende Hand unter den Ohren. Sie war genauso, oder? Zäh und genügsam. Sie musste nicht verkuppelt werden. Mit beiden Händen strich sie Rufus über den Kopf, er lehnte sich schmachtend an das Gatter und atmete laut. Naja. So ganz stimmte das auch nicht. Ganz hinten in der Ecke der Koppel stand Iris, die Eselin, die sie für Rufus gekauft hatte, und betrachtete sie mit misstrauischen Blicken. So handzahm wie ihr Lieblingsesel war sie nicht, aber Rufus war deutlich glücklicher.
Und so hatte sie nun heute abend ein Date mit einem Dichter für experimentelle Lyrik. Was Rufus konnte, konnte sie schon lange! Immerhin hatte sie ein paarmal laut gelacht während der Lesung. Und lachen war fast so gut wie ein I-Ah von Rufus, wenn sie ihm die Ohren massierte, oder?

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, organisiert (immer noch, glücklicherweise) von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Die Wortspende stammt dieses Mal von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Die einzufügenden Wörter waren Dichterlesung, genügsam und verkuppeln in maximal 300 Worte.

Der Schweinehund ist krank

Dein Schweinehund liegt dir gegenüber, er auf der einen Seite des Sofas, du auf der anderen. Er röchelt dramatisch und legt einen Arm über die Augen, dann richtet er sich mühsam auf und fängt an zu husten, als ob es sein letzter Tag mit dir wäre. Nach dem Anfall lässt er sich schwer zurück ins Kissen fallen. Du seufzt und zupfst ein neues Taschentuch aus der Box, die schon wieder fast alle ist, putzt dir die Nase und lässt es auf den Taschentuchberg neben dir fallen.
„Erzähl mir was“, fordert der Schweinehund mit geschlossenen Augen, „mir ist langweilig.“
„Mir fällt nichts ein“, sagst du matt und schniefst.
„Ach komm“, sagt dein Schweinehund, „mir zuliebe.“ Seine Schnauze zuckt, bis ein mächtiger Nieser dich anbrüllt. Er schüttelt sich und streckt die Pfote aus. „Ich brauch ein Taschentuch.“
Während du ihm eines reichst, überlegst du kurz, aber die 37,8 Grad in deinem Kopf verstopfen alle Gehirnwindungen. Trotzdem, ein Versuch schadet ja niemandem. „Also“, beginnst du, „es war einmal ein Drache. Der entführte ein edles Fräulein. Das war so schrecklich unglücklich, dass es immerzu weinte. Der Drache fragte, was er tun könne, damit es ihr besser ginge, und das Fräulein sagte, es würde so unglaublich gern häkeln, denn das sei ihre größte Leidenschaft, und ohne sie sei sie quasi nichts.“
Dein Schweinhund jault leise.
Du ignorierst ihn. „Und weil der Drache ein netter Drache war, besorgte er Nadel und Garn und ließ sich das Häkeln beibringen. Und wenn sie nicht gestorben sind, sitzen sie noch heute in der Drachenhöhle und häkeln gemeinsam.“
Dein Schweinehund guckt dich an. „Ernsthaft?“ fragt er.
„Sorry“, sagst du, „mehr ist gerade echt nicht drin. Frag mich morgen nochmal.“ Du lässt den Kopf zurücksinken und schließt die Augen.
Dein Schweinehund seufzt. „Das werde ich“, murmelt er, „das werde ich.“

Die Wortspende für die Textwochen 04/05 des Jahres 2023 stammt von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Sie lautet: Drache, edel und häkeln. Falls jemand aufgrund dieser Etüde auf die Idee kommen sollte, ich sei vielleicht krank: Ja! Die Grippe hat mich mal wieder erwischt, und dieser Text ist zu meiner Freude der erste seit längerer Zeit frisch geschriebene. Darauf einen Tee und ein Taschentuch! 😊