Nichtigkeiten

Der Nichtigkeitenbär füllt den Tag mit Wahrheit. Du siehst ihm zu, während er Tee kocht, auf dem Balkon Vertrocknetes über die Brüstung schnipst und dein Handyspiel zockt. „Willst du auch mal?“ fragt er freundlich und du nickst eifrig. So schwer kann das doch nicht sein! Bei ihm sieht alles so leicht aus.
Du versuchst, genauso entspannt wie er das nächste Level zu knacken, versagst aber jämmerlich: Als du die dreißig rosa Rosen anklickst, hast du ein schlechtes Gewissen, beim Teekochen fragst du dich schon wieder, ob du deine Zeit nicht sinnvoller verbringen solltest.
Der Nichtigkeitenbär klopft dir auf den Rücken. „Nicht aufgeben, du schaffst das!“ sagt er aufmunternd und isst einen Schokokeks. „Dein Tag hat 24 Stunden. Du kannst nicht jede Minute davon sinnvoll verbringen, das klappt nicht.“
Du nickst. Du bist ja noch in der Ausbildung. Aber einfach wird das nicht.

Herzklopfen

Sie sah in ihre Notizen und bekam schlechte Laune. Soviel zu tun und so wenig Zeit. Sie hatte gleich gewusst, dass sie es nicht schaffen würde, von Anfang an war ihr das klar gewesen. Sie hätte auf sich hören sollen, aber wie immer hatte sie sich überreden lassen. Typisch. Genervt warf sie ihren Bleistift auf den Tisch und lehnte sich zurück. Ganz einfach. Sie würde aufhören. Es war ihr Projekt, sie allein bestimmte, wann sie was tat.
Ihr Bleistift kullerte langsam über die Heftseite und zeigte mit der Spitze auf ein Wort, das sie geschrieben hatte: „aufhören„. Das passte ja. Sie lehnte sich zurück, unzufrieden bis in die Knochen.
Die Sonne kam hervor, das erste Mal an diesem Tag. Sie ließ die Bleistiftwörter aufleuchten. Nach „aufhören“ stand da „ist zu einfach„.
Ihr stockte der Atem. Das Herzklopfen spürte sie bis in die Fingerspitzen.

Frau Möllendiek bekommt Besuch

Frau Möllendiek liegt faul unter ihrer Wolldecke und zappt zwischen dem Traumschiff und Bingo hin und her, als es an der Tür klingelt. Augenblicklich schaltet sie in den Krisenmodus, macht den Fernseher aus, wirft die Wolldecke in ihr Schlafzimmer, versteckt die Schokopralinen unter der Fernsehzeitung und rennt zum Spiegel. Mist, denkt sie, ich hätte duschen sollen. Sie fährt sich mit beiden Händen durchs Haar und öffnet die Tür. Die Gesichtszüge entgleisen ihr. Draußen steht die Ökofrau mit den grauen Wallehaaren. „Sie!“ ruft sie.
„Auch einen schönen Tag“, sagt die Ökofrau. „Darf ich reinkommen?“
Frau Möllendiek verschränkt die Arme. „Warum?“ Es klingelt so selten bei ihr, und jetzt ist es ausgerechnet die besserwisserische Ökofrau.
„Ist in Ihrem Interesse“, sagt die Ökofrau, „aber ich kann auch wieder gehen.“
„Kommen Sie rein“, sagt Frau Möllendiek, „wenn Sie schon mal da sind.“ Die Ökofrau ist besser als gar kein Besuch.
„Sehr freundlich“, sagt die Ökofrau, „ich will gar nicht lange bleiben, ich wollte Ihnen nur empfehlen, die Garagen Ihrer Nachbarn wieder aufzuschließen. Ich möchte Sie ungern im Krankenhaus besuchen müssen.“
„Das… das… wie kommen Sie auf die Idee, dass ich das war? So eine Unverschämtheit!“
Die Ökofrau lächelt matt. „Sie haben alle Schlüssel, Sie regen sich auf, wenn jemand das Garagentor unter Ihrem Schlafzimmer öffnet, Sie sind der Meinung, alle sollten weniger Auto fahren, weil das gut fürs Klima ist und Sie haben sich schon mit jedem einzelnen der Garagenmieter gestritten.“
Frau Möllendiek schnauft. „Das ist kein einziger Beweis!“
Die Ökofrau mustert sie nachdenklich. „Haben Sie schon mal im Krankenhaus gegessen?“
Frau Möllendiek schüttelt den Kopf und denkt an Frikassee, Schweinspastete und selbst eingelegte süßsaure Gurken. „Möchten Sie einen Kaffee?“ fragt sie dann. Es klingt kleinlaut.
Die Ökofrau nickt. „Mit Milch und Zucker“, sagt sie, „und eine von Ihren Pralinen nehme ich auch.“

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, auch in 2024 organisiert von Christiane, vielen lieben Dank dafür. Die Wortspende kam von Ludwig Zeidler, der seinen Blog aufgegeben hat. Die Regeln: Maximal 300 Wörter, drin sein müssen Krisenmodus, faul und empfehlen. Frau Möllendiek dankt, sie freut sich, mal wieder zu Wort kommen zu dürfen, schließlich wird ihr sonst oft genug das Wort abgeschnitten, was eine große Frechheit ist, und die Leute werden schon noch sehen, wohin das…

In fernen Ländern. Der Turm.

Teil 1

Die Bärin überlegte langsam und gründlich, während hinter ihr der Tee abkühlte. Wie lange wohnte sie nun schon in diesem Turm? Waren es zwei oder drei Jahre? Sie hatte in den langen Wintermonaten den Überblick verloren, und vielleicht auch ein wenig ihren Biß, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Der beste Blick der Stadt, hatten die Reiher ihr zugeschrien, als sie heimatlos und mager nach einer Unterkunft gesucht hatte. Sie wäre nicht wählerisch gewesen damals, auch eine Mansarde oder ein trockener Keller hätten ihr genügt, ein wenig nette Nachbarschaft und sie wäre glücklich gewesen. Dann kam der Turm. An so etwas hatte sie nicht einmal in ihren entferntesten Träumen gedacht. Hoch oben, uneinnehmbar, mit einem kleinen Küchengarten, in dem Honigminze wuchs, ein winziger Raum mit einem grünem Sessel für ihre Nickerchen, die Wasserspeier an den vier Ecken bewachten ihre Nächte und unter ihr wohnte Frau Flausch, eine reizende Häsin, mit der sie sich sofort anfreundete. Die Reiher kreisten um den Turm damals, als sie ihr Glück nicht fassen konnte, und schrien „haben wir es nicht gesagt? Haben wir es nicht gesagt?“
Das hatten sie und sie hatten Recht gehabt. Die Bärin summte vergnügt und täschelte die gewundenen Hörner des Wasserspeiers, auf dem sie saß. Er blökte und zischte, er konnte es nicht leiden, wenn man ihn streichelte, das verletze die Würde seines Amtes, wie er der Bärin bei jeder Gelegenheit ausführlich darlegte, und Gelegenheiten gab es oft, denn die Bärin liebte es, den Wasserspeier zu ärgern. Weit unter sich sah sie den Turm der Graukatzen. Auf der Kuppel des Turms schlief Marlo, der große Kater. Die Bärin summte wieder vergnügt. Der Turm war ein gutes Heim. Er erfüllte seine Aufgaben vorbildlich, und wenn am Abend der Nachtwind blies, knisterte die Honigminze und ihre Blätter wuchsen ein kleines Stück dem Himmel entgegen. Und trotzdem war da ein dünner Splitter in ihrer Brust, der sich bewegte, wenn sie atmete. Die Wälder waren so groß gewesen. Die Flüsse wild nach dem Frühjahrsregen. Der Nachthimmel beängstigend schwarz vor der Morgendämmerung. Ihre Gefährten ungestüm und rau, und sie hatten ihr Junge geschenkt. Der Honig war nie besser gewesen als wenn sie ihn sich mit den wütenden Bienen teilen musste.
Der Turm war perfekt. Die Bärin stützte sich mit ihren Vordertatzen auf den knurrenden Wasserspeier und betrachtete die Straßen unter sich. Ihr Tee war kalt geworden. Auf der Spitze ihres Turms saß ein Eichelhäher mit einem Zweig im Schnabel. Sie grüßten sich freundlich, dann flog der Vogel davon, dorthin, wo im Abenddunst weit hinten die Wälder langsam einschliefen und raschelnd ihre dunklen, grünen Träume träumten.
Die Bärin öffnete ihr Maul und rief nach den Flüssen, den Eichen und Kiefern und dem Nachthimmel, und während sie das tat, spürte sie, wie ihre Zähne ein Stück wuchsen. Der Wasserspeier zischte überrascht. „Oh“, sagte er, „deine Zeit hier geht zu Ende!“ Die Bärin reckte sich, streckte ihre Hintertatzen und atmete die Nachtluft ein. Sie schmeckte Libellen und Glühwürmchen auf ihrer Zunge und schrie ein Bärenbrüllen. Alle ihre Nachbarn antworteten ihr, und während sie ihnen zuhörte, flüsterte sie: „Ja.“

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Evita

In die letzten Töne legte sie noch einmal allen Schmerz, den das Lied in sich hatte, verwob ihn mit ihrer Stimme zu einem Teppich aus Emotionen und ließ die Noten dann sanft ausklingen. Perfekt. Sie hatte es immer noch drauf. Sie drückte ihre Hände bebend an ihren Busen, ein bisschen Theater gehörte schließlich dazu, und öffnete die Augen. Die Frau mit der schrecklichen Lockenfrisur legte gerade ihr Handy auf den Tisch, wahrscheinlich hatte sie sie gefilmt. Sehr gut. Publicity, egal wo, hatte noch niemandem geschadet. Hinter ihr wurde sparsam geklatscht, aber ansonsten war ihr Publikum heute ein undankbares Pack, Bier und Wein waren wichtiger als ihr zuzuhören. Gott, wie sie diese Geburtstagsfeiern verachtete… die immergleichen, dunklen Lokale mit den Pokalen an der Wand, den Muff von Generationen ungewaschener Mäntel und Hüte in den Garderoben, das Publikum ungebildet und fern jeglicher Kultur. Sie warf ihre Kunst den Schafen zum Fraß vor, so sah es aus. Sie nahm das Kinn hoch, drückte den Rücken durch und lächelte mit schmerzenden Wangen. Niemals würde sie hier, in diesem Kaff, vor diesen Leuten zusammenbrechen, sie nicht. Sie war Künstlerin durch und durch, ließ sich beflügeln von der Musik, emportragen von reiner Schönheit, die sie hervorbrachte, sie allein. Sie würde die Leute hier aus ihrer Lethargie reißen, oh ja, das würde sie tun. Ohne sich umzudrehen, zischte sie ihren Gitarristen „A New Argentina“ zu und hörte, wie Klaus einatmete. „Herta, bitte“, sagte er, „wir haben eine Playlist!“
Sie kniff die Augen zusammen und drehte sich halb um. „Na und?“ flüsterte sie eisig, „dann werfe ich sie eben um. Dieses Publikum braucht etwas anderes!“
Klaus verdrehte die Augen, der neue Gitarrist blickte auf seine Hände. Sie warf den Kopf in den Nacken und sog Evitas Leben in sich ein, bevor sie die ersten Töne sang. Was machte das schon. Dann suchte sie sich eben neue Musiker, Gitarristen gab es wie Sand am Meer, solche Stimmen wie ihre aber nicht. Sie hatte ein ganzes Leben zu verteidigen und alle Entscheidungen, die sie hierhergebracht hatten, an diesen nach Bier stinkenden Ort in der tiefsten Provinz. Niemals würde sie aufgeben. Und dann sang sie.

Das war ein Beitrag zur Impulswerkstatt von Myriade. Ja, ich weiß, dass das vermutlich eine Fado-Sängerin ist, die weiß, was sie tut und sehr gut ist, aber ich musste sofort an die dunklen Lokale meiner Kindheit denken, voll mit rustikaler Eiche und Trockenblumensträußen auf den Fensterbänken, mit den Musikern, die ein paar Stunden lang die Gäste amüsieren sollten und vermutlich lieber etwas ganz anderes gemacht hätten. Auch, wenn die Mitternachtsbuffets meistens gut waren. 😊

Ent-Einschüchterung im Institut für experimentelle Lebensberatung

Die Beraterin beugt sich soweit nach vorne, dass der schwarze Stoff ihres Kostüms an den Schultern spannt. „Na los! Entscheiden Sie sich! Wie lange wollen Sie noch überlegen? Wir wollen nicht hier übernachten, oder?“ Ihre Augen glitzern, die verschiedenfarbigen Fingernägel glänzen. Es macht ihr Spaß, eindeutig.
Ich zögere. Ich kann mich nicht entscheiden. „Vielleicht… vielleicht doch alles mehr nach links? Nein! Lieber nach rechts! Oder… wir lassen alles wie es ist?“
„Meine Güte!“ Die Beraterin haut mit der Faust auf den Tisch. „Entscheiden Sie sich endlich! Das kann doch nicht so schwer sein!“
Ich zucke zusammen. Das war grob. Ich kann mit Grobheit nicht umgehen, etwas in mir schrumpelt dann wie verbranntes Papier zusammen. „Ich weiß nicht…“, hauche ich, „ist es denn nicht egal, wie…“
„Nein!“ brüllt die Beraterin, „Sie MÜSSEN sich jetzt entscheiden! Jetzt! Los!“ Sie starrt mich an, und ich fühle, wie meine Unzulänglichkeit mich immer kleiner macht. Und dann, als ich mit gebeugtem Rücken da sitze und auf den Boden starre, unfähig, mich zu entscheiden, ploppt ein kleines Fünkchen Aufsässigkeit in mir auf. Was passiert hier gerade? Langsam hebe ich den Kopf und sehe die Beraterin an. Grinst sie etwa gerade? Ich richte mich auf. „Wir müssen heute gar nichts entscheiden“, sage ich leise.
„Was?“ brüllt die Beraterin, „warum flüstern Sie so? Können Sie nicht lauter reden?“
„Nein“, sage ich und stehe auf. „Und ich denke, wir beenden das jetzt.“
Die Beraterin atmet durch, richtet ihr Kostüm und sieht sehr zufrieden aus.
„Das macht Ihnen Spaß, oder?“ frage ich. Das Erstaunen über meine Widerworte rinnt warm durch meine Adern.
Die Beraterin nickt. „Es ist noch besser, als Lehrerin zu sein, und das will was heißen“, sagt sie und grinst genauso breit wie die Grinsekatze, als sie Alice begegnet.
„Sie sind gut“, sage ich.
„Ich weiß“, antwortet sie.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Alles, was man wissen muss, steht oben im Bild mit der wunderbaren Tafel mit der schrecklichen, für mich völlig unverständlichen Formel. 😁 Organisiert wird alles von Christiane und die Wortspende kommt von Gerhard und seinem Blog Kopf und Gestalt. Und falls jemand die anderen zwei Beiträge zum Institut für experimentelle Lebensberatung lesen möchte, bitteschön:

Termin im Institut für experimentelle Lebensberatung
und
Beratungszimmer Nr. 3 im Institut für experimentelle Lebensberatung

Wilbert

Lustlos bohrte Wilbert mit dem Zahnstocher im ersten der fünf Schlösser herum. Natürlich öffnete es sich nicht, und er stieß noch einmal heftiger zu. Prompt brach der Zahnstocher ab und blieb zur Hälfte im Schloss stecken. Jetzt hatte er nur noch zwei Zahnstocher für vier Schlösser.
Nebenan hörte er die anderen hektisch herumlaufen und schreien, das bis eben noch versteckte Geheimzimmer schien eine Vielzahl neuer Aufgaben zu bieten. Von Anfang an hatte er keine Lust zu diesem Escape-Room-Spiel gehabt, aber natürlich war er überstimmt worden. Er konnte froh sein, wenn sie ihn mitnahmen, so war das. Er war langsamer als die anderen, sein Kopf schaltete einfach nicht so schnell und wenn jemand einen Witz erzählte, lachte er immer ein wenig später als alle anderen. So war er nun mal, das war ok, aber zu diesem blöden Escape-Room hätte er einfach nein sagen sollen.
Stirnrunzelnd piekste er mit dem zweiten Zahnstocher in Schloss Nr. 2 und 3 herum. Nichts. Natürlich wussten die anderen um seine Schwächen und hatten ihm eine überschaubare Aufgabe zugewiesen: ‚Versuch die Schlösser aufzukriegen, Wilbert, vielleicht ist was im Schrank, was wir noch brauchen!‘ Klar. Das sah doch jeder, dass der Schrank eine Attrappe war. Er hätte gern in das Geheimzimmer geguckt, da drin ging die Post ab, aber er würde auf seinem Posten bleiben und seine Aufgabe erledigen. Er versuchte es mit Schloss Nr. 4, brach den zweiten Zahnstocher ab und bekam einen Splitter in den Finger. Wilbert seufzte unhörbar und versuchte, das Gejohle von nebenan zu ignorieren. Noch eins übrig. Ganz sachte schob er es in das fünfte Schloss und tastete nach einem Widerstand, einer Lücke, nach irgendetwas. Nichts. Genervt schüttelte er den Kopf, versuchte sich zu beherrschen und verlor. Heftig schlug er mit der Faust gegen die Schrankattrappe und die ganze Vorderfront schwang nach innen auf und ließ einen dunklen Tunnel zum Vorschein kommen.
Wilbert blinzelte. Er sah noch einmal hin. Das ergab keinen Sinn. In vielem war er langsamer als die anderen, aber sein Orientierungssinn war immer gut gewesen. Hier hätte kein Tunnel sein dürfen. Hier war die Außenwand des Gebäudes, soviel stand fest. Hatten sie sowas wie eine Rutsche angebaut? Aus dem Tunnel kam ein kühler Luftzug. Von nebenan hörte er die anderen schreien und lachen. Nun, er hatte den Schrank, der eigentlich eine Attrappe war, geöffnet, seine Aufgabe war erledigt, also konnte er doch jetzt etwas Neues tun, oder? Entschlossen schob er sich mit den Beinen in den Tunnel hinein. Seine Füße baumelten in der Dunkelheit, kalte Luft wehte von unten an seinen Beinen entlang, dann stieß er sich ab und verschwand.
Hinter ihm schloss sich leise die Schranktür. Eine kleine Weile später erschien ein verschwitzter Mädchenkopf aus dem Geheimzimmer und sah sich erstaunt um. „Wilbert? Wo bist du?“ rief sie, aber alles blieb still.

Beratungszimmer Nr. 3 des Instituts für experimentelle Lebensberatung

Im Beratungszimmer Nr. 3 des Instituts für experimentelle Lebensberatung flattert ein aufgeregtes „Nein!“ durch die Luft. Ab und zu klatscht es gegen eine Wand oder die Decke, fällt zu Boden und fliegt ein paar Sekunden später wieder auf. Ein zweites „Nein“ wälzt sich mattgrau auf dem Boden herum und seufzt von Zeit zu Zeit laut.
Ich betrachte beide „Neins“ und schüttele entschlossen den Kopf. „Keines von beiden“, sage ich.
Die Beraterin nickt. Ihre vielfarbigen Fingernägel klopfen ein kleines Muster auf den riesigen Tisch. „Wie müsste es denn aussehen?“ fragt sie.
„Ich weiß auch nicht“, sage ich, „aber so nicht.“ Ich kann gerade noch ausweichen, als das erste „Nein“ frontal auf mich zufliegt.
Die Beraterin macht eine Handbewegung und die beiden „Neins“ lösen sich mit einem Zischen in Luft auf.
„Es müsste“, sage ich langsam, „luftig sein. Leicht. Vielleicht mit einem grünen Klingeln. Es soll entschlossen sein, aber nicht zu entschlossen. Aber trotzdem eindeutig. Nicht misszuverstehen. Und freundlich. Ja. Ein leichtes, freundliches, unmissverständliches „Nein“.“ Ich strahle. Das ist es!
Die Beraterin faltet die Hände. Ihre vielfarbigen Fingernägel leuchten, ihr schwarzes Kostüm sitzt tadellos, trotzdem wirkt sie ein klein wenig angespannt. „Gut, gut“, sagt sie, „dann üben wir weiter. Ich bitte um Konzentration! Wir wollen doch nicht wieder Klatscher produzieren!“
Ich zucke zusammen. Die waren wirklich unangenehm, ich war einen Moment lang abgelenkt, habe an meinen Chef gedacht und schon war es zu spät. Ich nicke mit schlechtem Gewissen und versuche, nicht auf die kleine Beule auf der Stirn der Beraterin zu gucken.
„Dann los!“ ruft sie spannt einen Regenschirm auf.
„Nein!!“ schreie ich, so laut ich kann.

Ja, es geht voran mit mir – hier starte ich, falls ihr es wissen wollt 😊.

Möwen

„Na los“, sagte seine Mutter und schob ihn nach vorn, „du schaffst das!“
Der Junge umklammerte das Abschiedsgeschenk seiner Tante. Der Schein fühlte sich dünn und feucht in seiner Hand an, und er ballte die Finger, um ihn ja nicht zu verlieren. Die Ladentür schloss sich mit einem Klicken hinter ihm. Drinnen war es hell und blau, weiße Regale voller Leuchttürme, Ministrandkörbe und Kerzen umgaben ihn wie Hochhäuser. Er wusste, wo die Schneekugeln standen und dass er alleine nicht herankam. Also ging er zur Kasse.
Die Frau hinter der Kasse musterte ihn ohne zu lächeln. „Na?“ sagte sie auffordernd.
Der Junge spürte den Schein in seiner Hand. „Ich möchte die Schneekugel mit den Möwen drin. Da hinten!“ Er zeigte auf das Regal.
„Hm“, sagte die Frau. Sie rührte sich nicht. „Hast du Geld dabei?“
„Ja“, sagte der Junge und hielt ihr den zerdrückten Schein hin. Die Frau nickte, nahm den Schein, faltete ihn auseinander und sah ihn prüfend an. Dann ging sie zum Regal, der Junge folgte ihr. „Nein, nicht die“, sagte er, als die Frau eine Kugel in die Hand nahm, „die daneben, mit den zwei Möwen.“
Die Frau zog die Augenbrauen hoch und stellte die erste ins Regal zurück. „Aber die hier ist größer“, sagte sie.
„Ich weiß“, sagte der Junge, „aber die Möwe da drin ist einsam. Ich möchte lieber eine mit zwei Möwen, dann können sie sich unterhalten.“
Etwas im Gesicht der Frau schmolz. Zum ersten Mal blickte sie den Jungen freundlich an. „Da hast du recht“, sagte sie und nahm die kleinere Kugel mit den zwei Möwen aus dem Regal. „Ich packe sie dir ein.“
Der Junge strahlte, als er mit einer kleinen Tüte in der Hand aus dem Laden kam. „Na, glücklich?“ fragte seine Mutter. Er nickte heftig. Die Tüte war schwer. Die Frau hatte ihm noch einen Wetteranzeiger geschenkt, der die Farbe wechselte, wenn das Wetter sich änderte. Er war ein bisschen verstaubt und der Meerjungfrau fehlte eine Hand, aber das war nicht schlimm. Der Tag fühlte sich süß an.

Tratschmöwen

Der Junge

Der Junge wippte vor und zurück, vor und zurück, die Ungeduld pulsierte ihm in Armen und Beinen und kullerte ihm durch den Kopf. Der heftige Wind zerrte an seinen Haaren und fuhr ihm unter die Jacke, aber der Junge war immun gegen die Kälte. Es gab endlose Dinge zu tun, es war wichtig, sie zu tun, sie brannten ihm in den Handflächen und unter den Fußsohlen und flüsterten ihm Dinge in die Ohren. Er wusste, jetzt war noch nicht der Zeitpunkt, und die Spanne zwischen dem Jetzt und später erschien ihm unendlich, eine nicht zu erfassende schiere Masse an unbestimmbarer Zeit. Der Himmel war grau und unfreundlich, der Wind hatte ein eigenes Leben, er schrie von Drachen, Möwenflügen und Sandverwehungen, und dem Jungen schien jeder Windschrei wie eine eigene, verheißungsvolle Verlockung. Die Erwachsenen waren weniger begeistert über den Wind, der kalt in ihre T-Shirts und unter ihre zu dünnen Jacken fuhr und die Frisuren durcheinanderbrachte.
Die Tante beugte sich hinunter und umarmte den Jungen, er erwiderte die Umarmung nur halbherzig, obwohl er seine Tante mochte, aber die Ungeduld in ihm war zu laut und lenkte seine Aufmerksamkeit fort vom Bahnhof und dem Abschied, der jetzt schon endlos anhielt, wie ihm schien.
Seine Mutter sah ihn an und schüttelte leicht den Kopf, und den Jungen durchzuckte ein Anflug von schlechtem Gewissen. Er umklammerte als Wiedergutmachung kurz die Beine seiner Tante. Sie lächelte ihn an und er wusste, alles war gut. Er ließ los und rannte in einer kleinen, explosionsartigen Entladung ein paar Schritte nach vorn, sprang in die Luft und um ein paar Koffer herum. Die Erwachsenen umarmten sich jetzt und sprachen letzte Worte, dann stieg die Tante in den Zug, der sie zur Fähre bringen würde.
Der Junge winkte und dachte an die Schlammburg, die er heute bauen würde, an durchsichtige Krebse und an kalte, hastige Wellen zwischen seinen Zehen. Er spürte die Drachenschnüre in seinen Handflächen brennen, als der Zug hinter einer Kurve verschwand und sah die leuchtend bunten Drachenschwänze in der Luft Salto schlagen. Die Dringlichkeit, all diese Dinge zu tun, wuchs in einer großen Welle in ihm an und versperrte alles andere. „Können wir jetzt zum Strand gehen?“ fragte er und versuchte, nicht allzu ungeduldig zu klingen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass es dann meist viel länger dauerte oder gar nicht passierte.
Seine Mutter schüttelte den Kopf. „Wir müssen zuerst zur Wohnung, uns umziehen und die Taschen packen, und dann gucken wir, wie das Wetter wird. Es ist frisch heute, und ich will nicht, dass du dich erkältest.“
Die Unterlippe des Jungen zuckte. Er sah, wie die kleinen durchsichtigen Krebse im Sand verschwanden und wie der Drachen zu Boden trudelte. Er schluckte krampfhaft und begrub das „ABER!“ in sich unter den Sandwällen der einstürzenden Schlammburg.
„Komm“, sagte sein Vater, „heute nachmittag sehen wir weiter. Vielleicht mit Gummistiefeln und Regenjacke, und wir nehmen den Käscher mit, ok?“ Seine Mutter seufzte, aber sie sagte nichts.
Der Junge spürte, wie die Krebse sich wieder ausgruben, ein halbes Lächeln huschte über sein Gesicht. Heute nachmittag war eine Unendlichkeit weit entfernt, fast ungreifbar, schlecht vorstellbar, aber ein Versprechen. In seinen Ohren zischten die kleinen Wellen und erzählten Geschichten von Piraten und Meerjungfrauen, von grauen Seehunden und Bernsteinbrocken.