Termin im Institut für experimentelle Lebensgestaltung: Sonntag, 19.03.2023, 09.30 Uhr

„Guten Morgen“, sagt die Frau, die an einem großen Tisch sitzt. Es ist viel Platz um sie herum, und ich zögere kurz, bevor ich mich ihr gegenüber setze. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Die Frau wirkt nicht experimentierfreudig. Sie trägt einen schwarzen, schlichten Hosenanzug, ist dezent geschminkt und hat ihre Haare zu einem strengen Zopf gebunden. Ziemlich konservativ, denke ich. Und dazu auch noch Perlenohrringe! Das einzig auffällige an ihr sind die Fingernägel. Sie sind kurz geschnitten und jeder Nagel hat eine andere Farbe, rot, grün, blau, lila, gold, schwarz, weiß, pink, gelb und auf dem kleinen Fingernagel links ist ein Gänseblümchen auf grünem Grund gemalt.
„Mein Name ist Schmidt“, sagt die Frau und lächelt. „Was kann ich für Sie tun?“ Sie faltet die Hände vor sich. Ich habe das deutliche Gefühl, sie genießt den Augenblick.
„Äh“, sage ich. Was wollte ich hier?
„Ich denke, Sie möchten experimentierfreudiger werden“, sagt die Frau freundlich.
„Stimmt“, sage ich und versuche, nicht auf die Perlenohrringe zu schauen.
„Haben Sie bestimmte Absichten?“ fragt die Frau.
„Absichten?“ Ich verstumme. Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Vorstellung von dem, was ich will, ich weiß nur, dass ich mit dem Ist-Zustand unzufrieden bin.
„Also keine. Wie sieht es mit Ihrer Voreingenommenheit aus?“
Mein Blick fällt auf die bunten Fingernägel. Sofort gucke ich weg. „Äh…“ sage ich.
„Aha“, sagt die Frau. „Na, dann fangen wir doch mit dem einfachsten an, oder?“
„Dem einfachsten?“ wiederhole ich ratlos.
„Ihr Ist-Zustand. Davon ausgehend arbeiten wir dann weiter. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Doch. Ja.“ Ich richte mich auf. Das kann ich. Mit meinem Ist-Zustand kenne ich mich aus. Die Frau legt ihre Hände vor sich und lächelt. Das Gänseblümchen leuchtet.

(Inspiriert vom Fasten-Schreibexperiment von Susanne Niemeyer. Wobei Fasten und ich eigentlich nicht kompatibel sind. In diesem Experiment allerdings schon. 😊)

Rufus und der Dichter

Mit langen Schritten lief sie den Pfad am Waldrand entlang, hielt sich im Schatten der Kiefern und sah in den übertrieben blauen Himmel hinauf. Eine Dichterlesung! Was hatte sie sich dabei gedacht? Lyrik war noch nie ihr Ding gewesen, sie bevorzugte Liebesromane, und zwar die, bei denen man schon am Anfang wusste, wer am Ende zusammensein würde. Trotzdem hatte sie sich überreden lassen, mitzukommen, und was war das für ein Abend gewesen! Experimentelle Lyrik! Selbst nach zwei endlosen Stunden hatte sie immer noch keine Ahnung, was der Dichter ihr zu sagen versuchte, außer, dass er nicht nur sich, sondern auch sie unwiderstehlich fand. Er flirtete sie dermassen hemmungslos an, dass sie sich fast ducken musste, um nicht weggeblasen zu werden von all den stürmischen Blicken. Ihre Freundin hatte gegrinst. Natürlich!
Sie lehnte sich auf das sonnenwarme Gatter vor ihr und rief nach Rufus. Er hob den Kopf, I-Ahte laut und trabte auf sie zu. Esel! Die waren genügsam, sie brauchten fast nichts, außer ein bisschen Kraftfutter ab und zu und eine kraulende Hand unter den Ohren. Sie war genauso, oder? Zäh und genügsam. Sie musste nicht verkuppelt werden. Mit beiden Händen strich sie Rufus über den Kopf, er lehnte sich schmachtend an das Gatter und atmete laut. Naja. So ganz stimmte das auch nicht. Ganz hinten in der Ecke der Koppel stand Iris, die Eselin, die sie für Rufus gekauft hatte, und betrachtete sie mit misstrauischen Blicken. So handzahm wie ihr Lieblingsesel war sie nicht, aber Rufus war deutlich glücklicher.
Und so hatte sie nun heute abend ein Date mit einem Dichter für experimentelle Lyrik. Was Rufus konnte, konnte sie schon lange! Immerhin hatte sie ein paarmal laut gelacht während der Lesung. Und lachen war fast so gut wie ein I-Ah von Rufus, wenn sie ihm die Ohren massierte, oder?

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, organisiert (immer noch, glücklicherweise) von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Die Wortspende stammt dieses Mal von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Die einzufügenden Wörter waren Dichterlesung, genügsam und verkuppeln in maximal 300 Worte.

Fluchtsieger

Frau Mörgenbörtel schmückt ihren Weihnachtsbaum ab. Zuerst kommen die roten Kugeln mit dem Glitzerstaub wieder in den Karton, dann die goldenen mit den Rentieren. Bei den Holzsternen ist sie schneller, das sind die Unempfindlichsten. Wie jedes Jahr bedauert sie, dass es kein Lametta abzunehmen gibt, die silbrigen Fäden lagen immer so schön kühl und schwer in der Hand. Zum Schluss wickelt sie die zwei Lichterketten auf und schon steht der Baum nackt vor ihr. Jetzt kommt der beste Teil. Sie tippt in ihr Handy und fragt, ob die anderen soweit sind. Die Antworten kommen postwendend. Sie befreit den Baum aus dem Ständer, wuchtet ihn durch die offene Balkontür nach draußen und auf die Brüstung. Auf den Balkonen links und rechts neben ihr tauchen zwei weitere nackte Bäume auf. Einer davon hat bemerkenswert wenig Äste.
„Das ist unfair!“ ruft Frau Mögenbörtel. „Du hast ihn frisiert!“
„Ach was, stell dich nicht so an! Mein Kaninchen liebt Tannenbaumzweige, da musste ich ein paar abzweigen!“ antwortet die Nachbarin zur Linken.
„Reden wir jetzt übers Füttern oder über den Fluchtsieger?“ knarzt der Nachbar zur Rechten und dreht seinen Baum probeweise in den Händen.
„Über den Fluchtsieger! Eins, zwei, drei!“ Frau Mögenbörtel wirft ihren Tannenbaum in einem gewagten Winkel nach unten. Ihre Nachbarn tun das gleiche. Der frisierte Baum macht einen Salto und kommt als letzter unten an. Gewinner dieses Jahr ist Frau Mögenbörtels knarzender Nachbar, der die Faust reckt und triumphierend „Sieg!“ ruft. Sein Baum ist am schnellsten unten angekommen.
Frau Mögenbörtel strahlt. Das Ende von Weihnachten ist wunderbar. „Ich geb einen Eierlikör aus! In fünf Minuten bei mir!“ ruft sie, ihre Nachbarn nicken und verschwinden nach drinnen. Eine Tannennadelspur zieht sich durch Frau Mögenbörtels Wohnzimmer, aber der Eierlikör hat Vorrang. Man muss Prioritäten setzen, denkt sie, und fischt die Eierlikörflasche aus dem Kühlschrank.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, die von Christiane organisiert werden – vielen Dank dafür! Die Regeln: Maximal 300 Worte, enthalten sein müssen dieses Mal Fluchtsieger, füttern und wunderbar. Wortspender war Ludwig Zeidler, der Erfinder der Etüden.

24. Dezember

Heiligabend! Der erste Schluck Tee am Morgen war wie Manna vom Himmel, und vielleicht war es das ja auch. Heute ist das letzte Päckchen dran, und meine Adventsbegleiter können es kaum abwarten.

Ich muss ganz schön knibbeln bei all den Knoten. Währenddessen singt der Schokoengel unablässig „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ leise vor sich hin.

Und was ist drin? Es ist auf jeden Fall ganz leicht und es gibt eine Schriftrolle.

Rot gepunktete, goldene Walnüsse! Und eine Geschichte! Liest du uns vor? fragt der Schokoengel. Wer ist Fräulein Honigohr? fragt das Schwein. Der geflügelte Adventsbegleiter lächelt wissend, sie scheinen sich zu kennen. Und während sich die Kerze in den Walnüssen spiegelt, lese ich vor: „Fräulein Honigohr läuft über die Wiese…“

Für alle nicht-Adventskalender-Besitzer ist die Geschichte unter diesem Beitrag erschienen. Meine Adventsbegleiter und ich wünschen frohe Weihnachten und versprechen, der Schokoengel wird Weinachten überleben. 😊🎄💫

23. Dezember

Ich bin erkältet. Ich möchte ja nicht meckern, aber meine Nase läuft schneller als der gestiefelte Kater. Meine Adventsbegleiter beäugen interessiert den wachsenden Berg Taschentücher, sie haben bemerkenswert wenig Mitgefühl. Das Päckchen! verlangen sie. Richtig, heute ist Nr. 23 dran.

Es ist groß und schwer und blau. Maaaarmelade! singt das Schwein. Und was ist drin?

Winterliches Apfelkompott! Hmmm… meine Adventsbegleiter schwelgen schon im Voraus. Wir brauchen ja höchstens einen Löffel voll, sagt das Schwein, der Rest ist für dich. Das ist bestimmt gesund und seeehr gut für dich! Jede Menge Vitamine, fügt der geflügelte Adventsbegleiter hinzu.

Guck an! Immerhin ein bisschen Mitgefühl! Da geht’s mir doch gleich besser. 😊 Das Apfelkompott wandert jetzt in den Kühlschrank und heute Mittag hat es seinen großen Auftritt.

22. Dezember

Weihnachten nähert sich mit großen Schritten, soviel steht fest. Mein Tannenbaum steht! Meine Adventsbegleiter haben tatkräftig geholfen und mir gesagt, was als nächstes aufgehängt werden soll. Aber jetzt ist erstmal Päckchen Nr. 22 fällig.

Es glänzt teddybäriggolden. Sieht nach ’ner Weihnachtskarte aus, kräht das Schwein. Und? Hat es Recht?

Es hatte Recht. Aber da versteckt sich noch was…

Ein weißer, weicher Stern! Kann der auf den Tannenbaum? fragt das Schwein. Ich denke schon, sage ich, du musst sagen, wo er hin soll. Von oben singt der Schokoengel „Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit…“ Na jetzt! Das Programm für heute: Stern an den Baum, Erkältung pflegen, den Schokoengel nicht essen. Auf geht’s!

21. Dezember

Wir haben Nebelsuppe da draußen, so dick, dass man sie fast mit dem Löffel essen kann. Ich habe eine miese fiese Erkältung und röchle leise vor mich hin, aber für das 21. Päckchen reicht es in jedem Fall. Was haben wir denn heute?

Hübsch verpackt ist es in weiches Geschenkpapier. Und was ist drin?

Oh! Ein Schokoengel! ruft mein Adventsbegleiter. Der Schokoengel sieht sich neugierig um, schlägt die Augen nieder und fängt an zu singen: Von drauß vom Walde komm ich her und ich glaub, es weihnachtet sehr! Das Schwein ist völlig unbeeindruckt von der Singerei. Darf ich den essen? fragt es und schnuppert am runden Bauch des Schokoengels. Nein! rufen mein Adventsbegleiter und ich gleichzeitig aus. Och, sagt das Schwein enttäuscht. Apfel, Nuß und Mandelkern fressen fromme Kinder gern, aber keine Schokoengel nicht! Da üben sie Verzicht, singt der Schokoengel und rückt etwas dichter an meinen Adventsbegleiter heran. Hier wird niemand gefressen, sage ich streng und sehe das Schwein mahnend an. Jaja, mault es. Nichts darf man hier!

Als ich etwas später am Küchentisch vorbeikomme, höre ich, wie Schwein, Adventsbegleiter und Schokoengel gemeinsam Stille Nacht, eilige Nacht singen. Der Text kommt mir verändert vor… der Schokoengel scheint eine interessante Vergangenheit zu haben. Bei Gelegenheit werde ich ihn befragen.

20. Dezember

Fast schon Frühlingstemperaturen heute am dunkelsten Tag des Jahres! Schade um die Eisblumen, aber gut für die Hände. Mein Adventsteam ist heute sehr, sehr müde und außergewöhnlich ruhig. Das heutige Päckchen ist klitzeklein und sehr flach.

Was kann denn das sein, rätselt das Schwein. Mein Adventsbegleiter gähnt. Es sieht ausgesprochen niedlich aus, aber das sage ich ihm lieber nicht. Und was ist nun drin?

Weihnachtskarten mit Motiven aus Stoff! Schlagartig ist mein Adventsbegleiter wach. Kann ich eine haben? Ich würde gern eine schreiben! fragt er. Klar, sage ich. Und ich? mault das Schwein, was soll ich tun? Ich kann nicht schreiben! Du setzt einen Klauenabdruck auf die Karte, sagt der Adventsbegleiter. Ja! ruft das Schwein, in Rot! Ich überlege. Habe ich rote Farbe zuhause? Und wem wollen die beiden die Karte schreiben? Soviele Rätsel. Man merkt, lang dauerts nicht mehr bis zum Fest.

19. Dezember

Montag. Draußen fahren die Streufahrzeuge unablässig, das wird bestimmt eine Herausforderung heute. Wie früh die Streufahrzeugfahrer heute wohl aufgestanden sind? Das neunzehnte Päckchen leuchtet auf jeden Fall in warmem Rot.

Dem Schwein gefällt die Schnur. Und was ist drin?

Kleine Tannenbäume! Was habt ihr nur immer alle mit den Tannenbäumen? fragt das Schwein. Mein Adventsbegleiter und ich sehen uns an und lächeln wissend. Und was heißt das da auf der einen Tanne? fragt es gleich hinterher. Das heißt Joy, Freude, sage ich.

Das ist nett, sagt das Schwein, aber warum steht es auf einer nachgemachten Tanne? Ich hole tief Luft. Das ist eine längere Geschichte, sage ich. Soll ich sie erzählen? Ja! ruft das Schwein. Mein Adventsbegleiter fliegt in Positur, er macht beim Erzählen dieser Geschichte immer einen Lufttanz dazu. Ich fange an: Es begab sich aber zu der Zeit…

18. Dezember

Vierter Advent! Ich bin zu spät aufgestanden, heute ist ein voller Sonntag. Die Sonne scheint und ich habe zwei Paar Socken an, schaun wir, ob das reicht. Aber vor allem anderen gibt’s da das heutige Päckchen! Es sieht ein bisschen nach Hochprozentigem aus, finde ich. Wenn du weg bist, feiern wir ne Party! kräht das Schwein. Mein Adventsbegleiter schüttelt hinter seinem Ringelschwanz leicht den Kopf und ich bin beruhigt.

Und was ist drin?

„Little Freddie“ ist drin! Ich find’s toll, meine Adventsbegleiter sind eher ratlos. Das ist ein Bio-Walnußöl, kläre ich auf, guckt, sogar Babys dürfen das essen. Walnüsse? Das Schwein strahlt. Ich liebe Walnüsse, sagt es, besonders die Schalen, die knacken so schön! Ähm… sage ich, und dann sage ich nichts mehr. Sie werden es herausfinden.