Zurück aus dem Paradies

Ich war im Urlaub. Und bin wieder zurück. Manchmal braucht es etwas Besonderes im Leben, es gibt etwas zu feiern, oder ein Vorher-Nachher ist notwendig, und dann ist es Zeit für eine Reise. Also zumindest in meinem Leben ist das so. Und so fing ich letztes Jahr an zu suchen und fand eine Reise und eine Freundin, die mitwollte, was das Ganze schon mal doppelt so schön gemacht hat, buchte mit viel Herzklopfen und Vorfreude und letzten Samstag ging es los. Wir hatten ja keine Ahnung. Ich sage nur: Amalfiküste. Das blaueste aller blauen Meere, die steilsten aller steilen Küsten, die schönste Straße der Welt, klar, das sagt man so dahin, ist ja allen klar, ich meine, wo hätte Kaiserin Sissi schöner vor sich hin leiden können, in Samt und Seide schwitzend auf einem Krankenlager vor einem sagenhaften Panorama? Genau. Da eben. Wenn man dann tatsächlich dort ankommt und Neapel überlebt, gibt es diesen Moment, wo man sich aus der halb liegenden Haltung aufrichtet, lautlos „Oh!“ sagt und ab dann hellwach ist, weil es diese Art von Straße eigentlich nicht geben kann. Sie windet und schlängelt sich, klebt wie ein ausgetrockneter Regenwurm an den Felswänden, fordert den Automotor heraus und nimmt jede versteinerte Falte im Berg selbstverständlich mit, unter sich das schillernde, gleißende Blau, über sich endloses Gestein, nach innen oder außen gewölbt, am Rand Zitronen-, Oliven- und Orangenbäume wie eine nie endende Kette. Sie schubst weiße Häuser und Terrassen nach außen oder nach oben, bohrt sich in den Fels und kommt wieder hervor, und manchmal, nach einer Kurve, möchte man am liebsten die Flügel ausbreiten und direkt ins Blau fliegen. Was auf dieser Straße einfach wäre. Andererseits gibt es noch keine Autos mit Flügeln, und man würde ja die nächsten siebenundsiebzig Kurven und Schleifen verpassen, was auf gar keinen Fall geht.
Ich mag mir nicht vorstellen, was es bedeutet, dort zu leben und diese Straße jeden Tag befahren zu müssen, aber auch im Paradies muss es den ein oder anderen Nachteil geben. Für Touristen auf jeden Fall ist diese Straße ein Wunder, egal, ob man sie befährt oder vom Meer aus betrachtet. Ich bin schon immer gern Auto gefahren. Diese Straße hat da ganz neue Maßstäbe gesetzt. Es gab der Wunder viele in dieser wunderbaren Woche (die Ausblicke! Die Zitronenbäume! Die endlosen Treppen! Das Gebäck! Die Möwen! Die Sonne! Die Pasta! Und die Ausblicke, die wirklich zweimal erwähnt werden müssen), aber diese Straße ist das größte Wunder unter allen.
Wenn mir noch einmal jemand sagt, es gäbe keine Wunder, werde ich nur stumm mit dem Finger auf die Amalfiküste pieksen und vielsagend gucken, und die Menschen werden schweigen und verstehen und bedächtig nicken. So ist es. Darauf einen Limoncello Spritz. Prost!

Theoretisch hätte man Zitronen pflücken können. Praktisch haben wir das aber natürlich nicht gemacht.

Zimmerreise um das ebook

Bei puzzleblume werden Zimmereisen veranstaltet, und da die echten Reisen zur Zeit ja durchaus Mangelware sind, habe ich beschlossen, daran teilzunehmen und im Gegenzug andere mit auf meine Reisen zu nehmen. Daher gibt es hier meine dritte Zimmerreise zum Buchstaben E wie ebook.

Und wieder ist es Zeit für eine kleine Zimmerreise, dieses Mal zu meinem ebook. Ich hoffe, die ersten Leserinnen und Leser verlassen jetzt nicht fluchtartig diesen kleinen Beitrag, denn wirklich: Das ebook hat auch gute Seiten! Wirklich! Natürlich verstehe ich all die emotionalen Reaktionen, wenn das böse Wort fällt, denn ich habe sie ja auch alle durchgemacht. Ich meine, ernsthaft: Geht irgendetwas über das Gefühl, ein richtiges Buch in der Hand zu halten, seine Seiten sanft mit dem Daumen anzublättern, liebevoll über den hoffentlich irgendwie geprägten Einband zu streicheln? Nein, natürlich nicht. Ich liebe Bücher. Aber, manchmal, in bestimmten Situationen, in den unbequemen Falten des Alltags, da findet man plötzlich ein ebook in einer unerwarteten Ecke und es ist hilfreich. Unfassbar.
Mein ebook also sieht ganz unspektakulär aus, es kann keine Farbe, es bleibt bescheiden schwarzweiß, ab und zu hängt es sich an den endlosen Buchstabenreihen auf, so dass ich es per Stecknadel und ein bisschen Vodoo neu starten muss. Der Akku ist nicht mehr der jüngste und behauptet ständig, er wäre erst fünfzig, dabei ist er schon neunundneunzig. Es muss hinten auf dem Rücken ständig meine Fingerabdrücke ertragen, obwohl ich hingebungsvoll an ihm herumwische, und in den Tiefen seines Speichers sind ein paar Umschlageinbände verschwunden, so dass es beim Schlafen nicht das gerade gelesene Buch anzeigt, sondern irgendeines, das schon gar nicht mehr in ihm ist. Man könnte sagen, es träumt von vergangenen Leben, und das wäre dann ja auch irgendwie richtig, oder?
Es ist mittlerweile nicht mehr ganz uptodate, obwohl es zum Zeitpunkt unseres schicksalhaften Zusammentreffens hip und auf der Höhe der Zeit war. Wie ich früher. Wir passen also wunderbar zusammen.
In meinen Besitz ist es gekommen, weil ich in einem Anfall von Entschlussfreudigkeit beschlossen habe, an der Technik des 21. Jahrhunderts nicht nur in Form von Handy und PC teilzunehmen, sondern auch mit einem ebook. Damals stellte ich mir aufgeregt vor, wie ich gelassen und tiefenentspannt mit einer tausend Bände umfassenden Bibliothek in der Bahn sitzen würde und niemals wieder in die schreckliche Lage kommen würde, nichts passendes zu lesen zu haben.
Mit nonchalanter Geste würde ich mein elegantes ebook aus der Tasche holen und anfangen zu lesen, während um mich herum alle in Verzweiflung angesichts wiederholter Bahnverspätungen ausbrechen würden. Tsja. Ich hatte nur nicht damit gerechnet, dass es mir überhaupt keinen Spaß machen würde, dauernd eine Unzahl von möglichen Büchern um mich herum zu haben und dass das ebook nach und nach zu einem nervzermürbenden Nervzwerg in der Tasche mutieren würde.
Scheinbar gehöre ich zu den Lesern, die lieber nur eine kleine Anzahl noch zu lesender Bücher um sich haben wollen und nicht tausende. Außerdem möchte ich sie selber aussuchen und sie mir nicht von einem Algorithmus vorschlagen lassen.
Was soll ich sagen, das ebook war beleidigt. Es beschloss, für ein paar Jahre in einer staubigen Schublade zu verschwinden und sich seinen Akku fast zu Tode zu grämen ob seiner plötzlichen Unbeliebtheit. Ich fühlte mich ein bisschen schuldig, hatte aber zu viel Freude an den Papierbüchern, bis, ja bis eines Tages ein Urlaub anstand, in den ich nicht die üblichen sieben Bücher mitnehmen konnte – das schreckliche Wort „Übergepäck“ schwebte im Raum. Und da kam mir das verschmähte ebook wieder in den Sinn. Ich holte es aus der Schublade, belebte den Akku wieder (der seitdem behauptet, erst fünfzig sein, aber schon 99 ist), lud etwa zwanzig Bücher drauf und nahm es mit auf große Reise. Plus zwei echten Papierbüchern, man weiß ja nie! Was, wenn das ebook mitten in der Auszeit beschlösse, nun sei es genug, und wenn man schon die Bühne verlassen müsse, solle man das möglichst spektakulär tun und die Leserin in der größtmöglichen Verzweiflung zurücklassen!
Was soll ich sagen, die Papierbücher habe ich umsonst mitgenommen, mein ebook versieht seitdem stoisch seinen Dienst, ab und zu muss ich es aus misslichen Lagen retten. Ich meine, wer will schon mitten in der schlimmsten Thrillerszene ewig festhängen? Nicht mal ein ebook, schätze ich. Und so nutze ich es für Ausflüge, Reisen und in Zeiten des großen C. (der schwarze Herr Covid) für die kontaktlose Ausleihe von Bibliotheksbeständen. Ich hoffe, es bleibt noch lange bei mir, wir sind ein gutes Team geworden, und ich würde es ungern missen.
Das war der Buchstabe E! Zimmerreise beendet, und wenn mein ebook gerade nicht guckt, kann ich nun wieder die guten Papierbücher liebevoll in Händen halten… 😊

Zimmerreise: Das Brot und die Kindheit

Bei puzzleblume habe ich neulich die Zimmerreisen entdeckt, die ich sehr verführerisch finde. So eine Wohnung ist unentdecktes Land, hinter jedem Gegenstand lauert eine Geschichte darauf, erzählt zu werden. Daher gibt es hier meine zweite Zimmerreise zum Buchstaben B wie Brot.

Wie man sieht, sieht man gute Dinge.

Das ist mein Tiefkühlfach. Und das da ist mein Vorratsbrot, fein von Hand in Scheiben geschnitten, damit ich immer die zwei Scheiben Brot, die ich täglich esse, frisch herausnehmen kann. Ich mag nämlich kein Pappbrot, und wenn das Brot anfängt, sich zu krümmen, muss es doch eine schlimme Krankheit haben, und dann sollte man ihm den Gnadenstoß geben anstatt es zu essen. Das widerspricht aber meinem du-sollst-kein-Essen-wegwerfen-Prinzip, und da kommt die Tiefkühleinheit ins Spiel! (Ich könnte auch eine Zimmerreise zum Thema Kühlschrank mit Gefrierschrank schreiben, das wäre ein buchfüllendes Großereignis, aber nein, heute ist nur das Brot an der Reihe. Also zurück.) Wo war ich? Brot, eingefroren. Ich habe im Tiefkühlfach auch Toastbrot (ganz schlimm für alle Vollwertliebhaber, ich weiß, aber da müsst ihr jetzt durch), Aufbackbrötchen (mein Ruf ist eh schon ruiniert) und frische Brötchen vom Bäcker (Landgewinn!). Es gibt als alleinlebender Mensch ja diverse Möglichkeiten, an seine Nahrung zu kommen, und ich gehöre eher nicht zur Sorte „ich kaufe jeden Tag auf meiner vorfrühstücklichen Laufeinheit ein Brötchen und ein Ei“. Ich bin eher der pragmatische Typ, der maximal einmal pro Woche einkaufen geht, und ich mag kein angetrocknetes Brot, das mir morgens vorwurfsvoll ins Gesicht sieht und über die miserable Essrate von Singles herummeckert. Darum der Tiefkühler.
Das alles wollte ich aber eigentlich gar nicht erzählen, ich weiß auch nicht, wie ich auf diese Tiefkühl-Abwege geraten bin, eigentlich sollte es hier um die Brotkauf-Erlebnisse aus meiner Kindheit gehen. Da gab es nämlich in meinem Dorf den Bäckerwagen. Der kam jeden Dienstag, wurde von der Frau des Bäckermeisters gefahren und hupte laut vor unserer Einfahrt. Meist hatte meine Mutter das Geld schon herausgelegt und einen Zettel geschrieben, was zu kaufen wäre: Ein Kastenweißbrot, ein Schwarzbrot und ein Graubrot und meistens noch irgendeinen Kuchen, der gerade da war. Diese neumodischen Dinge wie Körnerbrote mit Sonnenblumenkernen (!) oder Kürbiskernen (!!!) kamen erst etwas später in Mode, und auch die haben wir dann vom Bäckerwagen gekauft. Der Bäckerwagen kam aus einem Nachbardorf, und das war brisant, denn in meinem Dorf gab es natürlich auch einen Bäcker, aber der kam eben nicht bis direkt vor die Haustür. Wir kauften also bei der Konkurrenz ein, und das hatte immer eine kleine, subversive Note, die mir gut gefallen hat. Das Brot war allererste Klasse. Ich mochte nie Schwarzbrot, früher nicht, heute nicht und zukünftig wohl auch nicht, aber die Knüste von einem frischen Schwarzbrot von diesem Bäckerwagen, um die haben wir uns alle gestritten. Der Gewinner wurde jede Woche neu festgelegt. Auch die anderen Knüste waren heiß begehrt, außen knackig, innen weich, duftend, perfekt für Butter und Honig oder im Falle meines Vaters für Leberwurst. Ich mag den Begriff „Knust“ für das Endstück eines Brotes bis heute und verbreite ihn unermüdlich überall. So ein schönes Wort!
Das Brot selbst wurde mit einer alten, in die Küche eingebauten, ausklappbaren Brotschneidemaschine mit Handkurbel geschnitten, die Scheibenstärke war einstellbar und das Geräusch des knackenden Brotes, das durch die scharfen Sägezähne gemahlen wurde, kann ich sofort jederzeit vor meinen inneren Ohr reproduzieren. Jedes Mal ermahnte meine Mutter alle Benutzer der Brotmaschine (so hieß sie bei uns), ja auf die Finger achtzugeben, sie wolle bitte keine Fingerkuppen in ihrem Brot haben. Bis heute hätte ich gerne so eine Brotmaschine mit Handkurbel, aber ach, wo sollte ich sie hinstellen und wo bekäme man so eine her, und überhaupt wäre es nicht dasselbe.
Der Dienstag war bei uns also der Tag des frischen Brotes, und da der Bäckerwagen ja auch Kuchen hatte und wir ihn kaufen durften, auch der Tag des Bäckerkuchens. Ansonsten gab es ausschließlich selbstgebackene, sehr gute Kuchen und Torten, aber einmal in der Woche eben auch den Butterkuchen vom Bäckerwagen. Sehr viele B´s habe ich hier gerade im Text, stelle ich mit Genugtuung fest, aber es ist ja auch die Zimmerreise zum Buchstaben B wie Brot.
Geblieben aus diesen Bäckerwagen-Dienstagen ist meine Vorliebe für frisches Brot. Bei mir gibt es nie solche seltsamen Dinge wie Arme Ritter, Brotkuchen oder Suppencroutons, geschweige denn selbstgemachtes Paniermehl. Woraus sollte ich das herstellen? In meiner Wohnung gibt es kein altes Brot. Nur knackiges Weißbrot, krachende Brötchen und knuspriges Kürbiskernbrot. Guten Appetit! 🙂

Zimmerreise – der Leuchtturm in der Küche

Bei puzzleblume habe ich neulich die Zimmerreisen entdeckt, die ich sehr verführerisch finde. So eine Wohnung ist unentdecktes Land, hinter jedem Gegenstand lauert eine Geschichte darauf, erzählt zu werden. Daher gibt es hier meine erste Zimmerreise zum Buchstaben B wie Bild.

In meiner Küche hängt ein Bild von einem Leuchtturm mit einer Badewanne auf der Aussichtsplattform. Sie hat ein Sonnensegel. Die Badewanne, nicht die Aussichtsplattform. Und unter dem Sonnensegel sitzt jemand mit blonden Haaren und badet, vor sich die blaue See mit ein paar weißen Schafswolken und einer absolut beneidenswerten Aussicht. Ein Geschoss tiefer stehen die Fenster offen, ein paar Möwen nutzen den Schatten, ansonsten: Nichts. Nur sehr viel Sand und Meer. Man kann die Stille hören und das Salz riechen, die Wärme fühlen, die über die Haut streicht, dazu das leise Rauschen der See.
Dieses Bild musste ich haben, und entgegen meiner sonstigen Gewohnheiten habe ich tatsächlich nach dem glücklichen Kauf sofort nach einem Rahmen dafür gesucht und ihn auch noch gefunden. Nirgendwo sonst in meiner Wohnung gibt es etwas Silbernes (naja, Besteck schon), und schon gar keine Rahmen in Silber. Aber hier musste es genau dieser sein, weil er die Leichtigkeit und die Helligkeit und den Sommer transportiert, die mir aus dem Bild entgegenquellen. Und das Bild musste in die Küche, weil ich mich dort sehr oft aufhalte und weil mein Blick vom Küchentisch immer fast direkt auf das Bild fällt, und ich einen kleinen Moment innehalte und mich freue, weil der Sommer entweder gerade da ist oder irgendwann wieder kommt. So ein Leuchtturm als Sommerresidenz, das wäre was, aber wenn, dann natürlich nur mit Badewanne auf der obersten Plattform, man hat ja seine Vorstellungen, vor allem, wenn sie einem so direkt vor Augen gemalt werden. Ach ja, und an der Seilwinde rechts sollte bitte das Frühstück hängen, das vorbei gebracht wird. Mit Croissant, bitte. Wenn schon, denn schon.
Ich kenne die Malerin und bin (immer noch) der Meinung, sie hat sich selbst da direkt hineingemalt, das ganze Bild ist sie, es passt eins zu eins zu ihr, als ob es ihr direkt aus den Fingern geflossen wäre. Im übertragenen Sinn, natürlich, in Form von Aquarellfarben, wir wollen hier ja keine Assoziationen von Dornröschen, Spinnrädern, Blutstropfen und hohen Türmen wecken. Mit Dornenhecken will ich zumindest auf diesem Bild nichts zu tun haben.
Neben meinem Sehnsuchtsbild von Meer, Leuchttürmen und einsamen Stränden befindet sich übrigens eine Pinnwand, an der in normalen Zeiten (also nicht in Corona-Zeiten) lauter kleine Dinge hängen, die auf schöne Dinge in der Zukunft verweisen: Eintrittskarten, zu kaufende Bücher oder CDs, Ausflugsüberlegungen, Gutscheine usw.. Eine Terminnotiz von meinem Schornsteinfeger hängt da auch, aber das macht nichts, er ist immer nett, auch, wenn er meist um 07.10 Uhr bei mir klingelt, wenn ich noch gar nicht genau weiß, wer ich bin. Neben der Schornsteinfegernotiz hängt ein kleiner Zettel, auf dem ich Namen von zukünftigen Protagonisten notiert habe. Sie existieren schon, sind aber bisher noch namenlos. Nicht, dass ihnen das etwas ausmachen würde. Sie wissen ja noch nicht, was ihnen fehlt. Höchste Zeit, mich ihnen wieder mal zu widmen.

Ein Sehnsuchtsbild von Katja Priebe, hier leider farblich eher unterirdisch wiedergegeben. In echt strahlt es und duftet nach Sommer.

An meine wunderbare Schaukel

25. Oktober 2020

Meine wunderbare, geliebte Schaukel,

Du weisst doch hoffentlich, wie ich Dich vermisse? Erinnerst Du Dich, wie wir des Abends unter dem dunklen Samthimmel zusammen langsam hin- und herschwangen? Wie die Spitzen der Tannen bei jedem Aufwärtsschwung den Mond anstachen? Der Wind streichelte sanft meine Wangen, und Deine kühlen Kettenringe lagen gespannt in meinen Händen. Alles war möglich, wir hätten selbst den Abendstern überfliegen können.
Nun bin ich hier, in fremden Lande, und, ach, alles ist anders als erwartet. Niemand kennt hier Wesen wie Dich, den kühnen Schwung Deines Sitzbrettes weiß niemand zu würdigen, und passende Äste für deine langen Ketten gibt es auch nicht. Kein Baum hier könnte Dich tragen. Welch beklagenswertes, armes Königreich!
Im Geiste sehe ich Dich schwingen, Dein entzückendes Quietschen höre ich im Traum des Nachts, und am Morgen brennt die Sehnsucht nach dem wilden Auf und Ab in mir.
Behalte mich im Sinn!
Ich komme wieder!
Sieh keinen anderen Schaukler an bis dahin, ich vergehe sonst wie Schaukelwind im Abenddämmern.
Tausend Küsse und Umarmungen, ich streichle im Geiste jedes Deiner Kettenglieder einzeln! Bleib beweglich und sag Onkel Franz, er möge Dich regelmässig ölen, ich werde es ihm begleichen, wenn ich wieder zuhause bin.

Immer, in Liebe, Dein Schaukler

 Bild von FREE-PHOTOS auf PIXABAY

Ausgelesen: Das grosse Los. Von Meike Winnemuth.

Ich bin mal wieder zu spät. Jeder, den es auch nur halbwegs interessiert, hat dieses Buch vermutlich bereits gelesen. Und sich großartig unterhalten gefühlt. Aber egal: Vielleicht gibt es da draußen ja doch noch die ein oder andere, die noch nie etwas von diesem Buch gehört hat (haha!) und nun von mir auf diese wunderbare Geschichte hingewiesen wird! Also: Man nehme einen 500.000,– Euro Gewinn bei Wer wird Millionär, einen Entschluss und heraus kommt ein fantastisches Jahr voller neuer Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen, und daraus wird dann dieses Buch!

Meike Winnemuth beschließt nach ihrem Glückstreffer, das nächste Jahr in zwölf verschiedenen Städten zu verbringen, in die sie immer schon mal reisen wollte. Sie packt einen Koffer mit dem nötigsten, ihren Laptop, bucht Wohnungen und fliegt einfach los. Das Buch liest sich wie eine Mischung aus Abenteuer-Roman, Sehnsuchtstraum und Mut-Mach-Rezept, man ist fast geneigt zu glauben, man selber könnte so was ja vielleicht auch…

Die Autorin erzählt aber auch von Städten, mit denen sie nicht warm wurde, von Selbstzweifeln, Einsamkeitsgefühlen und der totalen Unlust, wieder nach Hause zu kommen und von der Gewissheit, es kann danach nicht einfach so weitergehen wie vorher – keine Chance. Das Jahr hat mehr verändert als den Kontostand (wobei der gar nicht so viel leerer wurde), es hat viele Fragen nach der Art zu Leben aufgeworfen, ob es sinnvoll ist, in vorgegebenen Routinen zu leben, das zu tun, was alle tun – oder eben nicht.

Dabei ist sicher zu berücksichtigen, dass Meike Winnemuth ein kontaktfreudiger Mensch ist, es fällt ihr leicht, auf andere zuzugehen und ins Gespräch zu kommen, und es ist sicher auch nicht von Nachteil, dass sie als freie Autorin von überall auf der Welt aus arbeiten kann. Aber selbst, wenn man das alles nicht ist oder kann – trotzdem! Vielleicht nicht für ein ganzes Jahr, aber zwei Monate im Jahr so etwas zu machen – hach. Schön wäre das. Sehr, sehr schön. Und das ist das schönste, was dieses bunte, spannende, ermutigende Buch mit einem anstellt: Es macht Lust auf Veränderung. Die ja vielleicht doch gar nicht so unmöglich ist. Man muss sich eben nur trauen…

Miss Liberty II

Da ist es, das Staten Island Ferry Terminal. Und wenn Amerikaner etwas Großes bauen, machen sie es richtig. Eine riesige Eingangsfront mit zahllosen Türen, die in ein mächtiges Foyer führen, in dem es nicht viel mehr als ein paar Ess- und Fressläden gibt. Vom Foyer aus führen eine Treppe und zwei sehr lange Rolltreppen die Menschenmassen hinauf in die noch sehr viel größere Abfertigungshalle. Dort, wo das nächste Schiff ablegt, stellt man sich einfach an und geht aufs Schiff, wenn es da ist. Überall stehen Sicherheitsleute und Wachmänner, Pendler mischen sich mit Touristen, eine Pendlerin muss bei Wendy´s länger warten und ihr fährt ein Schiff vor der Nase davon. Sie beschwert sich bei mir darüber, während wir gemeinsam auf das nächste Schiff warten, und ich habe Schwierigkeiten, ihren Dialekt zu verstehen, aber fürs Gröbste reicht es aus. Außerdem kommen auch noch ein Vater mit erwachsenem Sohn aus San Diego, Kalifornien, ein New Yorker und ich ins Gespräch über die recht radikalen Anwerber für die kostenpflichtigen Fahrüberfahrten nach Liberty Island. Ins Gespräch kommen ist hier leicht, man muss nichts großartiges tun, nur im richtigen Moment etwas fragen und schon redet man miteinander. Nie lange, aber immer freundlich und sehr hilfsbereit, und niemanden stören meine zahllosen nicht vorhandenen Wörter im englischen Wortschatz. Das werde ich mit nach Hause nehmen: Wie glücklich man ist, wenn einem geholfen wird trotz mangelhafter Grammatik und endlosen Umschreibungen des einen Wortes, das einem gerade nicht einfällt.

Die Fähre ist schnell, die Hochhäuser werden rasch kleiner und Miss Liberty wird größer. Das Deck ist voll mit einer wilden Mischung aus Pendlern, Ausflüglern, Familien, Spaziergängern und (unverkennbar) Touristen. Es ist laut und man hört alle möglichen Sprachen, Spanisch, Japanisch, Englisch, amerikanischen Slang, bei dem ich nur jedes fünfte (oder zehnte, das weiß man nicht so genau) Wort verstehe. Zu meinem größten Bedauern gibt es kein Außendeck, man muss also immer durch eine Scheibe gucken. Als wir ankommen, ertönt die Durchsage, dass das Schiff jetzt außer Dienst genommen wird, wir es also alle verlassen und ein anderes zurück nehmen müssen. Naja, dann tun wir das halt. Und auf der Rückfahrt, da haben wir ein Schiff mit Außendeck! Hah! Das ist meins! Und dieses Mal fahren wir auch sehr viel näher an Miss Liberty vorbei, ich kann die Menschen unten am Hafen sehen und oben auf der Krone, sie ist sehr grün und sehr hübsch und von sehr viel Wasser umgeben, von viel mehr Wasser, als ich gedacht hätte.

Der Hafen, ach, alle Häfen sind von hier aus sehr weit weg. Die Stadtsilhouette zieht sich in die Länge und ist immer noch beeindruckend, jetzt sieht man erst, wie groß das alles ist, wie viel Platz New York einnimmt, und das ist nur eine Wasserseite von vielen. Möwen fliegen an mir vorbei, und ich frage mich, wie die das eigentlich aushalten, es ist nämlich geradezu unfassbar kalt auf dem Wasser, mit dem Fahrtwind und den Böen, die von allen Seiten kommen. Es ist so kalt, dass mir die Fingerspitzen taub werden und ich spüre, wie ich unter dem Anorak auskühle. Zusammen mit drei anderen Frauen bleibe ich solange draußen wie es geht, inklusive auf der Stelle hüpfen, zittern und fluchen, aber auf der Hälfte des Weges kapitulieren wir eine nach der anderen und flüchten nach drinnen. Hier braucht es definitiv andere Kleidung als normale Winterkleidung. Aber schön war es. Sehr, sehr schön. Wasser, Sonne, Panorama, Möwen, Himmel und Miss Liberty. Ein perfekter Tag.

Miss Liberty I

Ich bin aufgeregt. Gleich werde ich sie sehen, von Angesicht zu Angesicht. Miss Liberty, die grüne Schönheit, das Symbol für Freiheit, Neuanfang, Chancengleichheit und Offenheit. Bisher konnte nicht mal Mr. Trump an ihr kratzen, und ich hoffe, das bleibt so. In unzähligen Filmen habe ich sie schon gesehen, von vorn, von oben, von ganz nah, während auf ihrer Krone Menschen spektakuläre Stunts vollbrachten, eigentlich kenne ich sie jetzt schon sehr gut. Aber in echt ist das doch noch mal ein gewaltiger Unterschied. Glaube ich zumindest. Ich habe schon beschlossen, Miss Liberty nicht direkt zu besuchen, dafür hätte ich laut Internet Karten vorbestellen müssen (hätte ich nicht müssen, im Januar ist es touristentechnisch sehr entspannt hier, aber das wusste ich vorher nicht), mein Zeitbudget ist knapp bemessen und mein Reisebudget auch, und da die Eintritte hier für meine Verhältnisse überall astronomisch hoch sind, fällt das also aus. Es gibt aber eine Fährverbindung von Lower Manhattan nach Staten Island, und die ist komplett umsonst! Ich trabe also von der Subway Station Battery Park mit einem klitzekleinen Umweg über Starbucks (das musste einfach sein – warmer Bananen-Nuß-Kuchen!) durch den Battery Park zur Südspitze von Manhattan, weiche den zahllosen, sehr überzeugenden Anwerbern für die (kostenpflichtigen) Fährüberfahrten nach Liberty Island und Ellis Island aus und laufe ans Wasser.

Chai Latte und warmer Bananennußkuchen… lagen hier vor etwa fünf Minuten noch…

Auf dem Weg dorthin fällt mir ein runder Pavillon im Park auf, recht klein, rundherum verglast und drinnen bewegen sich merkwürdige Gestalten in Bonbonfarben auf und ab. Was ist das? Neugierig gehe ich näher heran und dann hinein. Ein Karussell! Mit großen, abstrakten Tiefseefischen, in denen man sitzen kann. Die Fische sind alle unterschiedlich gestaltet und aus einem undefinierbaren, durchsichtigen Plastikmaterial in hellgrün, rosa und hellblau, sie drehen sich einzeln, zu viert und alle zusammen zu Walzermelodien vom Band, eine Fahrt kostet fünf Dollar, es sitzen mehr Erwachsene als Kinder in den Fischen und alle sehen sehr, sehr glücklich aus. Niemand, der nicht lächelt, als die Fische sich anfangen zu bewegen, die Musik sanft startet, die Fische von innen zu leuchten beginnen und grünes, wellenförmiges Licht von oben herunter strahlt. Es ist  sehr amerikanisch, unfassbar kitschig und ganz wunderbar. Ich stehe da, gucke zu und lächle. Nach einer Runde verlasse ich das Karussell und gehe weiter, besser kann meine Laune jetzt eigentlich nicht mehr werden.

Lächelnde Gesichter in den Fischen…

Nach ein paar weiteren Metern bin ich am Wasser und da ist sie, Miss Liberty. Das hatte ich mir jetzt anders vorgestellt. Sie ist sehr weit weg. Sehr, sehr klein. Winzig klein. Geradezu mikroskopisch klein. Das sieht in Filmen aber immer ganz anders aus! Da hat man das Gefühl, gleich links von ihr beginnt die Skyline, mit einer unwichtigen kleinen Hafenlinie und vielleicht ein, zwei Kubikmetern Wasser dazwischen. Meine gelernte Lektion für heute: Traue keinem Hollywoodfilm! Die machen sich die Realität so, wie sie gebraucht wird und nicht so, wie sie ist. Aber egal, da ist sie also, zwar klein, aber vorhanden. Und rechts davon, das ist Ellis Island, dort sind zahllose Verwandte von mir in den fünfziger und sechziger Jahren an Land gegangen, um ein neues Leben in Amerika zu beginnen. Meine Babydecke in quietschgrün und pastellgelb habe ich aus New Jersey geschickt bekommen. Es nützt nichts, ich muss näher da ran, also suche ich das Fährterminal der Staten Island Fähre, um an Miss Liberty vorbeizufahren, wenn ich sie schon nicht direkt besuche. Auf geht´s!

Das war schon mit einer Menge Zoom fotografiert – in Wirklichkeit ist sie noch viel, viel weiter weg…

Public Toilet

In der Subway überkommt es mich. Ich muss mal. Verdammt. Das Thema WC in New York ist ein unerfreuliches. Irgendwo habe ich vorher gelesen: Jede mitnehmen, die vorbeikommt, denn es gibt nicht viele, und das war ein wirklich guter Tipp, den ich hiermit weitergebe: Jede mitnehmen, die vorbeikommt, egal, wo sie ist oder wie sie aussieht. Nach persönlichen Reinlichkeitsbedürfnissen kann man gehen, aber dann hat man lange Leidenszeiten vor sich.

Ab sofort halte ich also Ausschau nach einer WC-Gelegenheit und da ist sie auch schon: Ein Schild an einem schwarzen, vergitterten Käfig, in dem ein Wachmann in der Subway-Station sitzt. Ein Blick links, ein Blick nach rechts – kein offener Gang, keine Pforte. Also frage ich, ob ich mal… er nickt und drückt auf einen Knopf, der die schwere Tür mit einem Klicken aufspringen lässt. Dahinter: Ödland. Und ein schwarzer Wachmann, der mit wissendem Blick auf mich zukommt. Irgendwie werden Touristen hier immer sofort erkannt. Freundlich weist er mir den Weg und zeigt auf die unauffällige weiße Tür zwischen weißen Wänden und weiteren vergitterten Türen.

Als ich die Tür aufdrücken will, geht sie nicht ganz auf und ich quetsche mich hinein. Hinter der Tür liegt ein großes Bündel Kleidung, auf der anderen Seite kämmt sich eine Frau die Haare. Ihre Sachen liegen in diversen Taschen um sie herum verteilt auf dem Boden. Hinter mir bewegt sich das große Bündel Kleidung und erschreckt sehe ich, dass in all dem Stoff eine verkrümmte Gestalt steckt. Ohne weiter nachzudenken rette ich mich in die einzige WC-Kabine. Das Schloss lässt sich nicht schließen, aber mittlerweile bin ich sicher: Wenn die eine Frau sich hier wäscht und die andere…  was auch immer tut, werden sie mich wohl nicht bei meinen Verrichtungen stören.

Als ich die Kabine verlasse, steht die verkrümmte Frau immer noch bewegungslos hinter der Tür in der Ecke, sie lehnt an den weißen Fliesen. Die Kleider um sie herum sind wie ein Panzer, unzählige Lagen Stoff übereinander, die Frau ist mit ihnen fast so breit wie hoch, ihr Kopf liegt auf ihrer Brust. Jetzt sehe ich auch, dass hinter ihr ein paar gefüllte Tüten liegen. Die andere Frau räumt ihren Platz am Waschbecken, macht mir Platz und geht sofort wieder zurück ans Waschbecken, als ich fertig bin und fährt fort, sich sehr lange und ausgiebig die Hände zu waschen.

Draußen bleibe ich einen Moment stehen, um zu begreifen, was ich eben gesehen habe. Es gibt hier Menschen, die in öffentlichen Toiletten wohnen. Die sich dort aufhalten, weil es warm ist, es Wasser und WCs gibt. Und sie werden geduldet, sogar bewacht vom Personal der Subway, ein sicherer Ort für Frauen. Ich bin geschockt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich wünschte, ich wäre besser gewappnet gewesen, dann hätte ich ein paar Dollar dagelassen, aber ich war überfordert. Den Rest des Tages verfolgt mich das Bild der Frau im toten Winkel hinter der Tür, wie sie unbeweglich dort ihren Tag verbringt, eingehüllt in vermutlich alles, was sie besitzt. Wie sehen ihre Tage aus? Wie konnte es so weit kommen? Wie lange hält man so was aus?

Brooklyn Bridge

Frohgemut (so ein schönes Wort, das darf nicht aussterben!) wandere ich auf die Brooklyn Bridge zu. Es ist saukalt, der Wind pfeift mir um die Nase und ich bin froh, Leggings und Kniestrümpfe unter der Jeans zu tragen. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau und ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich wirklich hier bin, jetzt, auf einem anderen Kontinent, in einer Stadt, die bisher immer nur ein weit entferntes Vielleicht war. Heute morgen bin ich früh aufgebrochen, was nicht zu meinen Verdiensten gerechnet werden kann – ich war halt früh wach, wie das so ist, wenn einem sechs Stunden gestohlen worden sind. Und hier der allererste Insidertipp meines Touristenlebens: Morgens um neun Uhr in Lower Manhattan an einem Sonntag ist ein idealer Zeitpunkt, wenn man die Stadt für sich haben will. Niemand arbeitet, die Touristen frühstücken noch, sogar die zahllosen HotDog- und Imbissstände sind noch geschlossen. Nur ein paar frühe Jogger drehen keuchend ihre schnellen Runden, wirklich, die joggen hier nicht einfach, das sieht wie harte Arbeit aus, und sie sind schnell, meine Güte!

Nachdem ich mich anderthalb Stunden in Lower Manhattan herumgetrieben und mich zweimal verlaufen habe, stehe ich plötzlich vor dem Aufgang zur Brooklyn Bridge, die ich eigentlich von Brooklyn her ablaufen wollte. Aber Pläne sind ja hauptsächlich dazu da, um sie umzustoßen, und so wandere ich einfach drauf los, zusammen mit mittlerweile vielen anderen Touristen und ein paar sehr wütenden Fahrradfahrern, die vermutlich alle Fußgänger nur zu gern direkt ins Wasser des East Rivers schubsen würden. Glücklicherweise gibt es ein hohes Geländer, und man würde anstatt im Wasser sowieso nur auf der Kühlerhaube eines der unten fahrenden Autos landen.

Die Brücke. Ja, sie ist toll. Sie sieht toll aus, das Panorama ist in beide Richtungen sagenhaft, es macht auch nichts, dass es recht voll ist, die Leute, die da mit einem entlangwandern, sind fast so interessant wie die Stadtsilhouette von Manhattan. Wenn ich alle Selfies, die an diesem Morgen auf der Brücke gemacht wurden, ansehen müsste, wäre ich vermutlich jetzt noch beschäftigt. Mit Stick, ohne Stick, mit wehendem Haar, mit zusammengehaltenem Haar, mit dekorativ offener Jacke (die Models müssen dabei halb erfroren sein) oder auf einer Bank stehend, in Gruppen, allein oder mit Groupiefotograf – es gibt alles. Jeder Mensch ein Schauspieler. Selbst mich haben sie angesteckt, ich konnte nicht an mich halten und habe auf dem Rückweg ein Selfie gemacht und es auch noch verschickt. Und laut ist es! Die Autos unter dem Fuß- und Radweg verbreiten unablässig ein gleichmäßiges Tosen, dazu das Ra-Dong! Ra-Dong!, wenn sie eine Schiene im Asphalt überfahren, außerdem bläst der Wind auch nicht gerade leise und das Stimmengewirr der Heerscharen, die auf den Holzbohlen entlanglaufen – nein, romantisch leise mit zartem Möwengekreisch ist es definitiv nicht hier. Aber das macht nichts. Überhaupt macht alles nichts, die wehen Füße sind egal, die Kälte ist egal, die langen Wege und das Hungergefühl – was soll´s! Ich bin hier, alles andere ist hinzunehmen, und ein Müsliriegel hilft über das schlimmste hinweg. Als ich die Brücke fast überquert habe, entschließe ich mich, einfach umzudrehen und den ganzen Weg zurück zu laufen anstatt die Subway von Brooklyn aus zurückzunehmen. Ich kann mich jetzt einfach noch nicht trennen.

Und frohgemut laufe ich den ganzen wunderbaren, eisigen Weg über die Brooklyn Bridge zurück.