In fernen Ländern: Die Stadt.

Teil 2

Die Bärin wanderte durch die Straßen der Stadt und schnupperte. Irgendwo vor ihr schlief der dunkle Wald, sie konnte ihn in ihren Tatzen spüren, sein Ein- und Ausatmen, sein Rauschen unter dem Nachthimmel. Sehen konnte sie ihn nicht, die Häuser versperrten ihr die Sicht. Sie hatte ganz vergessen, wie dicht die Häuser hier standen, wieviel Leben es hier unten gab. Auf ihrem Turm hatte sie wie eine Königin über die Dächer geblickt und sich gefragt, warum die Stadt in ihrer Erinnerung seltsam eng gewesen war. Jetzt wusste sie es wieder.
Sie hielt die Nase in die Luft. Es roch nach verbranntem Holz und Kerzenwachs, weit vor ihr beleuchtete einer der seltsamen kleinen Menschen eine Transportstation, in der sich eine verängstige Kellerassel zusammengerollt hatte. Die Bärin ging lieber auf ihren eigenen Beinen anstatt das Kellerasselnetz zu nutzen. Diese Wesen waren zu empfindlich, immer wieder kam es vor, dass sie sich erschreckten und zusammenrollten, egal, wer gerade auf ihnen saß. Diese hier hatte sich vor einer Feder gefürchtet. Die Bärin sah nach oben. Weit über ihr auf der Spitze eines langen, schmalen Gebäudes mit zahllosen Fenstern hatten Waldkäuze mit dem Nestbau begonnen und es mit ihren eigenen Federn weich gepolstert. Von Zeit zu Zeit gingen Federn verloren und fielen auf die Straßen. Sie waren begehrt als Besen oder Bettdecken und blieben nie lange liegen, aber die Kellerasseln mochten sie nicht. Drei Menschen versuchten, diese Assel mit Stöcken und gutem Zureden dazu zu bringen, sich wieder zu entrollen. Die Bärin schnaubte und lief schneller. Mit den Waldkäuzen war nicht zu spaßen, wenn sie kurz vor der Brut standen, und sie hatte keinerlei Lust, zu einem schnellen Abendessen zu werden. Über ihr flogen nun schon vier Käuze, und es kam ihr vor, als ob sie sie beobachten würden.
Die Stadt schien gewachsen zu sein seit ihrem letzten Ausflug in die Straßen. Überall gab es neue Häuser mit dunklen Fenstern, unbekannte Abzweigungen ohne Bezeichnungen verloren sich in der Nacht. Wo waren die Lampenträger, wenn man sie brauchte? Die Bärin schnaubte unbehaglich. Die Sehnsucht nach ihrem Turm flackerte auf wie eine Wunderkerze und erlosch genauso schnell wieder. Nein! Der Turm war nicht die Lösung. Aber vielleicht hätte sie bis zum Morgen mit ihrem Aufbruch warten sollen, bei Tageslicht sah alles anders aus. Aber der dunkle Wald hatte nach ihr gerufen, sie war sich sicher. Und wer einen Grund zum Aufbruch hatte, sollte nicht warten, das war Bärengesetz.
Trotzdem, hier war sie noch nie gewesen, gar nichts kam ihr bekannt vor, und das Kopfsteinpflaster fühlte sich rund und fremd an unter ihren Tatzen. Nicht einmal Kellerasseltransporte oder Waldkäuze waren unterwegs. Die Bärin brüllte herausfordernd die Nacht an. Weit vor ihr antwortete ein dünnes Stimmchen: „Oh, gut, bitte, helfen Sie uns! Folgen Sie dem Mondschein! Schnell, schnell, warten Sie nicht!“
Die Bärin hob die Nase, dann lief sie los.

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In fernen Ländern. Der Turm.

Teil 1

Die Bärin überlegte langsam und gründlich, während hinter ihr der Tee abkühlte. Wie lange wohnte sie nun schon in diesem Turm? Waren es zwei oder drei Jahre? Sie hatte in den langen Wintermonaten den Überblick verloren, und vielleicht auch ein wenig ihren Biß, wenn sie ehrlich zu sich selbst war. Der beste Blick der Stadt, hatten die Reiher ihr zugeschrien, als sie heimatlos und mager nach einer Unterkunft gesucht hatte. Sie wäre nicht wählerisch gewesen damals, auch eine Mansarde oder ein trockener Keller hätten ihr genügt, ein wenig nette Nachbarschaft und sie wäre glücklich gewesen. Dann kam der Turm. An so etwas hatte sie nicht einmal in ihren entferntesten Träumen gedacht. Hoch oben, uneinnehmbar, mit einem kleinen Küchengarten, in dem Honigminze wuchs, ein winziger Raum mit einem grünem Sessel für ihre Nickerchen, die Wasserspeier an den vier Ecken bewachten ihre Nächte und unter ihr wohnte Frau Flausch, eine reizende Häsin, mit der sie sich sofort anfreundete. Die Reiher kreisten um den Turm damals, als sie ihr Glück nicht fassen konnte, und schrien „haben wir es nicht gesagt? Haben wir es nicht gesagt?“
Das hatten sie und sie hatten Recht gehabt. Die Bärin summte vergnügt und täschelte die gewundenen Hörner des Wasserspeiers, auf dem sie saß. Er blökte und zischte, er konnte es nicht leiden, wenn man ihn streichelte, das verletze die Würde seines Amtes, wie er der Bärin bei jeder Gelegenheit ausführlich darlegte, und Gelegenheiten gab es oft, denn die Bärin liebte es, den Wasserspeier zu ärgern. Weit unter sich sah sie den Turm der Graukatzen. Auf der Kuppel des Turms schlief Marlo, der große Kater. Die Bärin summte wieder vergnügt. Der Turm war ein gutes Heim. Er erfüllte seine Aufgaben vorbildlich, und wenn am Abend der Nachtwind blies, knisterte die Honigminze und ihre Blätter wuchsen ein kleines Stück dem Himmel entgegen. Und trotzdem war da ein dünner Splitter in ihrer Brust, der sich bewegte, wenn sie atmete. Die Wälder waren so groß gewesen. Die Flüsse wild nach dem Frühjahrsregen. Der Nachthimmel beängstigend schwarz vor der Morgendämmerung. Ihre Gefährten ungestüm und rau, und sie hatten ihr Junge geschenkt. Der Honig war nie besser gewesen als wenn sie ihn sich mit den wütenden Bienen teilen musste.
Der Turm war perfekt. Die Bärin stützte sich mit ihren Vordertatzen auf den knurrenden Wasserspeier und betrachtete die Straßen unter sich. Ihr Tee war kalt geworden. Auf der Spitze ihres Turms saß ein Eichelhäher mit einem Zweig im Schnabel. Sie grüßten sich freundlich, dann flog der Vogel davon, dorthin, wo im Abenddunst weit hinten die Wälder langsam einschliefen und raschelnd ihre dunklen, grünen Träume träumten.
Die Bärin öffnete ihr Maul und rief nach den Flüssen, den Eichen und Kiefern und dem Nachthimmel, und während sie das tat, spürte sie, wie ihre Zähne ein Stück wuchsen. Der Wasserspeier zischte überrascht. „Oh“, sagte er, „deine Zeit hier geht zu Ende!“ Die Bärin reckte sich, streckte ihre Hintertatzen und atmete die Nachtluft ein. Sie schmeckte Libellen und Glühwürmchen auf ihrer Zunge und schrie ein Bärenbrüllen. Alle ihre Nachbarn antworteten ihr, und während sie ihnen zuhörte, flüsterte sie: „Ja.“

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