Nichtigkeiten

Der Nichtigkeitenbär füllt den Tag mit Wahrheit. Du siehst ihm zu, während er Tee kocht, auf dem Balkon Vertrocknetes über die Brüstung schnipst und dein Handyspiel zockt. „Willst du auch mal?“ fragt er freundlich und du nickst eifrig. So schwer kann das doch nicht sein! Bei ihm sieht alles so leicht aus.
Du versuchst, genauso entspannt wie er das nächste Level zu knacken, versagst aber jämmerlich: Als du die dreißig rosa Rosen anklickst, hast du ein schlechtes Gewissen, beim Teekochen fragst du dich schon wieder, ob du deine Zeit nicht sinnvoller verbringen solltest.
Der Nichtigkeitenbär klopft dir auf den Rücken. „Nicht aufgeben, du schaffst das!“ sagt er aufmunternd und isst einen Schokokeks. „Dein Tag hat 24 Stunden. Du kannst nicht jede Minute davon sinnvoll verbringen, das klappt nicht.“
Du nickst. Du bist ja noch in der Ausbildung. Aber einfach wird das nicht.

immer weiter

immer weiter
 (denn)
nicht aufhören
 (wenn)
du drehst dich im Strudel
 (du stoppst)
denken vermeiden
 (fällst du)
Ablenkungen umarmen
 (tief hinab)
viele Fragen unbeantwortet lassen
 (wie Alice im Tunnel)
die anderen ignorieren
 (tiefe Schwärze)
wenig schlafen
 (der Grund unerwartet weich)
nicht träumen
 (weit hinten)
atemlos kollabieren
 (ein Licht)

Der Dienstag dichtet!  
Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Dienstag ist Gedichtetag. Wer sich anschließen will, ist herzlich willkommen! Mit dabei sind:

Mutigerleben
Wortgeflumselkritzelkrams
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Dein Poet
Geschichte/n mit Gott
Wortmann
Traumspruch
Voller Worte
Zielstrebig
Puzzleblume
wolkenleer
Querfühlerin

Evita

In die letzten Töne legte sie noch einmal allen Schmerz, den das Lied in sich hatte, verwob ihn mit ihrer Stimme zu einem Teppich aus Emotionen und ließ die Noten dann sanft ausklingen. Perfekt. Sie hatte es immer noch drauf. Sie drückte ihre Hände bebend an ihren Busen, ein bisschen Theater gehörte schließlich dazu, und öffnete die Augen. Die Frau mit der schrecklichen Lockenfrisur legte gerade ihr Handy auf den Tisch, wahrscheinlich hatte sie sie gefilmt. Sehr gut. Publicity, egal wo, hatte noch niemandem geschadet. Hinter ihr wurde sparsam geklatscht, aber ansonsten war ihr Publikum heute ein undankbares Pack, Bier und Wein waren wichtiger als ihr zuzuhören. Gott, wie sie diese Geburtstagsfeiern verachtete… die immergleichen, dunklen Lokale mit den Pokalen an der Wand, den Muff von Generationen ungewaschener Mäntel und Hüte in den Garderoben, das Publikum ungebildet und fern jeglicher Kultur. Sie warf ihre Kunst den Schafen zum Fraß vor, so sah es aus. Sie nahm das Kinn hoch, drückte den Rücken durch und lächelte mit schmerzenden Wangen. Niemals würde sie hier, in diesem Kaff, vor diesen Leuten zusammenbrechen, sie nicht. Sie war Künstlerin durch und durch, ließ sich beflügeln von der Musik, emportragen von reiner Schönheit, die sie hervorbrachte, sie allein. Sie würde die Leute hier aus ihrer Lethargie reißen, oh ja, das würde sie tun. Ohne sich umzudrehen, zischte sie ihren Gitarristen „A New Argentina“ zu und hörte, wie Klaus einatmete. „Herta, bitte“, sagte er, „wir haben eine Playlist!“
Sie kniff die Augen zusammen und drehte sich halb um. „Na und?“ flüsterte sie eisig, „dann werfe ich sie eben um. Dieses Publikum braucht etwas anderes!“
Klaus verdrehte die Augen, der neue Gitarrist blickte auf seine Hände. Sie warf den Kopf in den Nacken und sog Evitas Leben in sich ein, bevor sie die ersten Töne sang. Was machte das schon. Dann suchte sie sich eben neue Musiker, Gitarristen gab es wie Sand am Meer, solche Stimmen wie ihre aber nicht. Sie hatte ein ganzes Leben zu verteidigen und alle Entscheidungen, die sie hierhergebracht hatten, an diesen nach Bier stinkenden Ort in der tiefsten Provinz. Niemals würde sie aufgeben. Und dann sang sie.

Das war ein Beitrag zur Impulswerkstatt von Myriade. Ja, ich weiß, dass das vermutlich eine Fado-Sängerin ist, die weiß, was sie tut und sehr gut ist, aber ich musste sofort an die dunklen Lokale meiner Kindheit denken, voll mit rustikaler Eiche und Trockenblumensträußen auf den Fensterbänken, mit den Musikern, die ein paar Stunden lang die Gäste amüsieren sollten und vermutlich lieber etwas ganz anderes gemacht hätten. Auch, wenn die Mitternachtsbuffets meistens gut waren. 😊

Vergebung

theoretische Vergebung
funkelt wie ein Jahrmarkt
voller Glitzer und
„was wäre wenn“- Möglichkeiten

praktische Vergebung ist
wie dunkles, festes Brot
mit harten Kanten und
angebrannten Stellen
innen duftend nach Leben

ich stellte mir vor

ich stellte mir vor
ich überlegte
ich hoffte
ich vermutete
ich nahm an
ich dachte
ich war überzeugt
ich wusste nichts
das Leben lachte
stieß mich sachte
ich war verblüfft
holte tief Luft
grinste ganz sachte
und lief los

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Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Dienstag ist Gedichtetag. Wer sich anschließen will, ist herzlich willkommen! Mit dabei sind:

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Lebensbetrunken
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Suses Buchtraum
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Traumspruch
Lyrik trifft Poesie
Voller Worte

Gleichgewicht

ich bitte dich
um Ausgewogenheit
zwischen Vogelgesang
und Staubsauger
um tiefe Atemzüge
zwischen Erledigungen
lass mich Himmelblau sehen
wenn ich hetze
ich möchte mich spüren
wenn es Sommer wird
in gedrängten Stunden
die kleinen Blüten begrüßen
halte mich
im Gleichgewicht

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Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Dienstag ist Gedichtetag. Wer sich anschließen will, ist herzlich willkommen! Mit dabei sind:

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Termin im Institut für experimentelle Lebensgestaltung: Sonntag, 19.03.2023, 09.30 Uhr

„Guten Morgen“, sagt die Frau, die an einem großen Tisch sitzt. Es ist viel Platz um sie herum, und ich zögere kurz, bevor ich mich ihr gegenüber setze. Ich bin ein bisschen enttäuscht. Die Frau wirkt nicht experimentierfreudig. Sie trägt einen schwarzen, schlichten Hosenanzug, ist dezent geschminkt und hat ihre Haare zu einem strengen Zopf gebunden. Ziemlich konservativ, denke ich. Und dazu auch noch Perlenohrringe! Das einzig auffällige an ihr sind die Fingernägel. Sie sind kurz geschnitten und jeder Nagel hat eine andere Farbe, rot, grün, blau, lila, gold, schwarz, weiß, pink, gelb und auf dem kleinen Fingernagel links ist ein Gänseblümchen auf grünem Grund gemalt.
„Mein Name ist Schmidt“, sagt die Frau und lächelt. „Was kann ich für Sie tun?“ Sie faltet die Hände vor sich. Ich habe das deutliche Gefühl, sie genießt den Augenblick.
„Äh“, sage ich. Was wollte ich hier?
„Ich denke, Sie möchten experimentierfreudiger werden“, sagt die Frau freundlich.
„Stimmt“, sage ich und versuche, nicht auf die Perlenohrringe zu schauen.
„Haben Sie bestimmte Absichten?“ fragt die Frau.
„Absichten?“ Ich verstumme. Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt keine Vorstellung von dem, was ich will, ich weiß nur, dass ich mit dem Ist-Zustand unzufrieden bin.
„Also keine. Wie sieht es mit Ihrer Voreingenommenheit aus?“
Mein Blick fällt auf die bunten Fingernägel. Sofort gucke ich weg. „Äh…“ sage ich.
„Aha“, sagt die Frau. „Na, dann fangen wir doch mit dem einfachsten an, oder?“
„Dem einfachsten?“ wiederhole ich ratlos.
„Ihr Ist-Zustand. Davon ausgehend arbeiten wir dann weiter. Ist das in Ordnung für Sie?“
„Doch. Ja.“ Ich richte mich auf. Das kann ich. Mit meinem Ist-Zustand kenne ich mich aus. Die Frau legt ihre Hände vor sich und lächelt. Das Gänseblümchen leuchtet.

(Inspiriert vom Fasten-Schreibexperiment von Susanne Niemeyer. Wobei Fasten und ich eigentlich nicht kompatibel sind. In diesem Experiment allerdings schon. 😊)

Wie schmeckt das Leben gerade?

Das Leben schmeckt nach Müdigkeit und Sonne, nach glasklarem Himmel und eisigen Winden. Es schmeckt nach dumpfem Zuviel in den Knochen und endlosem Hunger nach Leben und nach Buntheit. Die Buntheit hält mich wach, sie fordert mich auf, komm und sieh! Es gibt soviel zu sehen. Blüten, Vögel, Aufbruch, Versprechungen überall. Die Buntheit zieht mich aus der Müdigkeit und lässt meine Knochen schlackern, sie malt Wolken in den blauesten aller blauen Himmel und lässt mich lila Blumen kaufen. Dabei tupft sie Schneeflocken auf meine Zunge und Honig, überschüttet mich mit Dohlen mit viel zu großen Zweigen in den Schnäbeln, während ich im sibirischen Wind stehe und fröstele. Sie lenkt meine Aufmerksamkeit auf die kleinen Blattknospen zwischen den Gitterstäben, die tapfer im Wind zittern. Das Leben schmeckt nach Überfluß und den Gedanken an andere, die zuwenig haben, und es schmeckt nach dem Wunsch nach immerwährendem Frieden auf Erden und überall. Im Nacken sticht die Gewissheit, dass es so wohl nicht sein wird, aber auf meiner Zunge liegt noch der Wunsch und kitzelt wie Brausepulver. Mein Leben schmeckt nach Bewunderung für diejenigen, die Aufbrechen und sich auf den Weg machen, um Frieden zu bringen und die die Gerechtigkeit und die Barmherzigkeit zum Leuchten bringen. Und im Abgang, ganz hinten im Rachen, da schmecke ich zwischen zartbitterer Müdigkeit Möglichkeiten. Sie duften nach Birne und Vanille und leuchten bunt. Da ist sie wieder, die Buntheit. Dem Himmel sei Dank für die Buntheit.

Wackelpuddingleben

Manchmal ist das Leben wie ein Wackelpudding. Es ist viel zu grün, durchschaubar und verspricht mehr, als es hält, und wenn du mit einem Löffel draufhaust, geht ein Zittern durch es hindurch, das noch lange anhält. Auf der anderen Seite ist es aber auch süß, hat ein intensives Aroma und die meisten Leute lächeln, wenn sie versuchen, einen Löffel voll davon auf ihren Teller zu bekommen, denn der Löffelvoll hat sehr ausgeprägte Fluchtendenzen. Wenn du dem Wackelpuddingleben dann noch Vanillesauce hinzufügst, kann es sehr überzeugend wirken. Und was bleibt dir auch anderes übrig? Wenn das Leben ein Wackelpudding ist, hast du ja nicht wirklich eine Wahl. Du kannst dich für ein leicht gelangweiltes Abwinken von oben herab entscheiden, alles schon gesehen, alles schon erlebt, du stehst weit über dem gewöhnlichen Wackelpudding. Oder du entscheidest dich dafür, Grün zu mögen, das allgegenwärtige Zittern als Zeichen für Lebendigkeit zu nehmen, unverdrossen auf die Vanillesauce zu warten, und wenn sie nicht kommt, selbst welche zu kochen. Nicht alle Wackelpuddingtage sind schön, natürlich nicht. Manche enden als zerfledderter grüner Rest auf dem Boden der Schüssel. Wie schön ist dann das Knistern der neuen Packung, wenn du sie aufreißt, du atmest den Waldmeisterdampf ein, der aus der heißen Schüssel aufsteigt und dann heißt es warten. Regenerieren. Beim Wackelpudding musst du geduldig sein, er wird nicht schneller fest, wenn du ihn anstarrst oder mit dem Finger hineinstippst. Er braucht seine Zeit, wie du. Wenn dein Leben also manchmal wie ein Wackelpudding ist, dann denk dran: Das Beste ist immer der Nachtisch.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, und ich hatte dieses Mal die große Ehre, die Wortspenderin zu sein! Ich habe mit Vergnügen und Vorfreude Wackelpudding, unverdrossen und knistern gewählt und bin gespannt auf die Beiträge. Organisiert werden die Etüden von Christiane, und weil das viel Arbeit ist, ein großes Dankeschön von Blog zu Blog. 😊

Fundbüro

Vorsichtig öffne ich die Tür. Sie quietscht, als ich sie nach innen schiebe. Drinnen ist es dämmrig, auf dem Tresen steht eine angelaufene Klingel. Ich drücke zaghaft auf den Klingelknopf und warte.
Nach einer Weile schlurft ein sehr alter Mann durch den Fliegenvorhang, der in den hinteren Bereich des Ladens führt. Sein Gesicht ist unbewegt. „Ja?“
„Ich… ähm…“ Ich ringe innerlich die Hände. „Ich suche einen abgelaufenen Neuanfang. Haben Sie sowas da?“ Erleichtert lasse ich die Hände sinken. Jetzt ist es raus.
Der alte Mann zupft an seinem faltigen Ohrläppchen. „Neuanfang, Neuanfang… wie soll er denn aussehen?“
„Oh. Nun ja. Irgendwie neu, eben.“ Ich überlege. „Nicht zu abgelaufen. Vielleicht mit ein bisschen Farbe? Kein Grau, bitte. Ja. Und… frisch! Frisch sollte er auf jeden Fall sein. Aber auch nicht zu frisch! Das fühlt sich so kalt an. Und aufregend! Ja!“ Ich bin aufgeregt. Sofort kommen mir Zweifel. „Aber normale Aufregung, nicht zu schlimm“, schiebe ich schnell noch hinterher.
Der alte Mann starrt mich ausdruckslos an. „Ich geh nachsehen“, knarzt er dann und verschwindet durch den Fliegenvorhang nach hinten.
Ich warte. Eine Fliege summt gegen die Fensterscheibe. Es ist warm hier drinnen.
Der alte Mann kommt zurück. Er trägt ein vibrierendes, gut verschnürtes Päckchen, das versucht, ihm aus den Händen zu hüpfen.
Es ist rosa. Mit Glitzer.
„Das?“ frage ich entsetzt.
„Es gibt nur das hier“, antwortet der alte Mann. „Nehmen Sie es?“
Ich zittere, aber irgendetwas lässt mich nicken.
„Hier quittieren“, knarzt der alte Mann, „kein Umtausch.“
Ich unterschreibe und bezahle, dann nehme ich den Neuanfang vorsichtig hoch. Das Päckchen fühlt sich an, als ob es gleich in meinen Händen explodieren würde. Der alte Mann verschwindet ohne ein weiteres Wort in den hinteren Teil des Ladens. Behutsam öffne ich die Tür und gehe hinaus. Das Päckchen schnurrt und räkelt sich in der Sonne. Es glitzert sehr rosa.
Ich schwitze.