Fräulein Honigohr im Dunkeln
Die Nacht ist dunkel, nur an größeren Kreuzungen leuchten noch Straßenlaternen. Fräulein Honigohr mag das. Versonnen blickt sie zum nächsten Lichtkegel, der ein gelbliches Dreieck ins Schwarz malt, als sie hinter sich Schritte hört. Es ist eine Frau, die so schnell geht, wie ihre Stöckelschuhe es zulassen. Sie wirft mißtrauische Blicke um sich.
Fräulein Honigohr grüßt freundlich.
Die Frau nickt, wird langsamer und bleibt stehen. „Entschuldigen Sie, das klingt jetzt seltsam, aber müssen Sie auch in diese Richtung?“
Fräulein Honigohr nickt.
„Würden Sie mit mir zusammen gehen? Ich hasse es, hier nachts allein zu sein.“
„Gern.“ Fräulein Honigohr lächelt und gemeinsam gehen sie weiter.
„Danke. Ich habe den letzten Bus verpasst. Zuviel lieblichen Wein getrunken. Dumm, was? Ich hätte mir ein Taxi teilen sollen. Ehrlich gesagt, sterbe ich fast vor Angst.“
„Wirklich?“ Fräulein Honigohr sieht die Frau neugierig an. „Ich mag die Nacht. Man sieht die Sterne.“
„Ich hab echt keinen Sinn für Sterne, wenn in jedem Winkel etwas lauern könnte. Haben Sie wirklich keine Angst?“
„Nein.“
„Dann haben Sie es gut.“ Die Frau stolpert über einen Pflasterstein und zischt erschrocken.
Fräulein Honigohr bleibt stehen. „Hier biege ich ab.“
„Oh, schon? Schade.“ Die Frau sieht enttäuscht aus. „Dann gute Nacht.“ Sie nickt und geht weiter.
Fräulein Honigohr sieht ihr nach. Sie blinzelt. Das Laternenlicht hinter ihr schwankt und springt ihr leuchtend vor die Füße. Fräulein Honigohr deutet auf die Frau. „Sei ein Nachtlicht. Leuchte auch die Ecken aus, bis sie zu Hause ist. Und dann hurtig zurück!“ Das Licht schmiegt sich um ihre Beine, dann breitet es sich elegant und unauffällig wie ein Teppich aus und gleitet um die Frau herum, bis die gesamte Straße schimmert wie mit Mondlicht übergossen.
Fräulein Honigohr seufzt. Schade, dass Menschen Angst haben müssen. Sie blickt nach oben. Die Sterne leuchten und zwinkern ihr zu.
Das war ein Beitrag für die abc.etüden: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Kain Schreiber mit seinem Blog Gedankenflut. Sie lauten: Nachtlicht, lieblich, teilen. Organisiert wie immer von Christiane: Vielen Dank! Und jaaa, lieblicher ist nicht lieblich, aber ich habe mich echt gequält mit dem Wort, nun steht es da mit dem er hinten dran. Et is wie et is. 🙂
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