Mit langen Schritten lief sie den Pfad am Waldrand entlang, hielt sich im Schatten der Kiefern und sah in den übertrieben blauen Himmel hinauf. Eine Dichterlesung! Was hatte sie sich dabei gedacht? Lyrik war noch nie ihr Ding gewesen, sie bevorzugte Liebesromane, und zwar die, bei denen man schon am Anfang wusste, wer am Ende zusammensein würde. Trotzdem hatte sie sich überreden lassen, mitzukommen, und was war das für ein Abend gewesen! Experimentelle Lyrik! Selbst nach zwei endlosen Stunden hatte sie immer noch keine Ahnung, was der Dichter ihr zu sagen versuchte, außer, dass er nicht nur sich, sondern auch sie unwiderstehlich fand. Er flirtete sie dermassen hemmungslos an, dass sie sich fast ducken musste, um nicht weggeblasen zu werden von all den stürmischen Blicken. Ihre Freundin hatte gegrinst. Natürlich!
Sie lehnte sich auf das sonnenwarme Gatter vor ihr und rief nach Rufus. Er hob den Kopf, I-Ahte laut und trabte auf sie zu. Esel! Die waren genügsam, sie brauchten fast nichts, außer ein bisschen Kraftfutter ab und zu und eine kraulende Hand unter den Ohren. Sie war genauso, oder? Zäh und genügsam. Sie musste nicht verkuppelt werden. Mit beiden Händen strich sie Rufus über den Kopf, er lehnte sich schmachtend an das Gatter und atmete laut. Naja. So ganz stimmte das auch nicht. Ganz hinten in der Ecke der Koppel stand Iris, die Eselin, die sie für Rufus gekauft hatte, und betrachtete sie mit misstrauischen Blicken. So handzahm wie ihr Lieblingsesel war sie nicht, aber Rufus war deutlich glücklicher.
Und so hatte sie nun heute abend ein Date mit einem Dichter für experimentelle Lyrik. Was Rufus konnte, konnte sie schon lange! Immerhin hatte sie ein paarmal laut gelacht während der Lesung. Und lachen war fast so gut wie ein I-Ah von Rufus, wenn sie ihm die Ohren massierte, oder?

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, organisiert (immer noch, glücklicherweise) von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Die Wortspende stammt dieses Mal von Werner Kastens und seinem Blog Mit Worten Gedanken horten. Die einzufügenden Wörter waren Dichterlesung, genügsam und verkuppeln in maximal 300 Worte.
Er findet sich unwiderstehlich, und sie geht dennoch mit ihm aus? Kann das gut gehen? Okay, vielleicht amüsiert sie sich ja trotzdem …
Sag, kann es sein, dass du das „Verkuppeln“ wieder rausgestrichen hast, oder bin ich einfach blind?
Morgenkaffeegrüße 🌨️🌨️☕🍪
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Käse! Ich hatte es tatsächlich gestrichen. 🙄 Aber jetzt ist es wieder drin. Man sollte einfach nicht so lange an Texten herumdrehen! 😀
Und wer weiß: Vielleicht findet er sich unwiderstehlich, aber sie noch viel mehr! 😊 Morgengrüße noch ganz ohne Tee…
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Hihi … eine Weihnachtsgeschichte für Dichter, die lieber Romane leben von jenen, bei denen sie nicht bereits am Anfang wissen, wer mit wem am Ende zusammen sein wird – Esel ausgenommen … 😉
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Esel sind da irgendwie pflegeleichter als Dichter, vermute ich. 😁
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Na dann … von meiner Seite aus wünsche ich beiden Teilen, aktiv wie passiv, Gutes Gelingen ! für ihre Vorhaben, virtuell, real ambitioniert oder weniger aktiv 😉
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😅
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Da hat sie dann quasi den Liebesroman gelebt, statt ihn zu lesen. 😉
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Und das Risiko eines Fehlschlags einkalkuliert! Ich bin ein bisschen stolz auf meine Heldin. 😊
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Einen Dichter nicht zu mögen: das geht ja nun gar nicht. Und wenn er Experimente in der Lyrik liebt, dann kann sie ja doch vielleicht auch mal experimentieren?
Und wieso muss Glück immer dauerhaft sein?
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Du sprichst mit meiner Zunge bzw. Schreibfeder! 😊
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Herrlich skurril.
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😁🐴
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Ach, wie schöööön, da möchte ich doch zu gerne auch zu dieser Dichterlesung gehen 🙂
Eine feine Geschichte mit einer Eselei am Ende. Toll geschrieben, liebe Tanja!
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Dankeschön und I-Ahh!! 😁
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*lach*
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