An meine wunderbare Schaukel

25. Oktober 2020

Meine wunderbare, geliebte Schaukel,

Du weisst doch hoffentlich, wie ich Dich vermisse? Erinnerst Du Dich, wie wir des Abends unter dem dunklen Samthimmel zusammen langsam hin- und herschwangen? Wie die Spitzen der Tannen bei jedem Aufwärtsschwung den Mond anstachen? Der Wind streichelte sanft meine Wangen, und Deine kühlen Kettenringe lagen gespannt in meinen Händen. Alles war möglich, wir hätten selbst den Abendstern überfliegen können.
Nun bin ich hier, in fremden Lande, und, ach, alles ist anders als erwartet. Niemand kennt hier Wesen wie Dich, den kühnen Schwung Deines Sitzbrettes weiß niemand zu würdigen, und passende Äste für deine langen Ketten gibt es auch nicht. Kein Baum hier könnte Dich tragen. Welch beklagenswertes, armes Königreich!
Im Geiste sehe ich Dich schwingen, Dein entzückendes Quietschen höre ich im Traum des Nachts, und am Morgen brennt die Sehnsucht nach dem wilden Auf und Ab in mir.
Behalte mich im Sinn!
Ich komme wieder!
Sieh keinen anderen Schaukler an bis dahin, ich vergehe sonst wie Schaukelwind im Abenddämmern.
Tausend Küsse und Umarmungen, ich streichle im Geiste jedes Deiner Kettenglieder einzeln! Bleib beweglich und sag Onkel Franz, er möge Dich regelmässig ölen, ich werde es ihm begleichen, wenn ich wieder zuhause bin.

Immer, in Liebe, Dein Schaukler

 Bild von FREE-PHOTOS auf PIXABAY

Fräulein Honigohr schaukelt

Fräulein Honigohr betritt den Spielplatz und geht zielstrebig auf die Nestschaukel zu. Sie lässt sich nieder und holt ihr Buch heraus, während die Schaukel sanft hin und her schwingt.
„He! Die ist nicht für alte Leute!“
Fräulein Honigohr blickt auf. Zwei Jungs hängen lässig auf den Brettschaukeln neben ihr.
„So?“ sagt Fräulein Honigohr. „Wer behauptet das?“
„Ich!“ Der kleinere grinst auf eine Art, die Fräulein Honigohr überhaupt nicht gefällt. „Sie sind viel zu alt. Gehen Sie lieber zu ihrem Häkelclub!“
Fräulein Honigohr spitzt den Mund. „Du hast interessante Ansichten. Und für diesen Platz bist du auch zu alt.“
„Ist doch egal!“ ruft der größere. „Das ist unser Platz! Verziehen Sie sich!“
Fräulein Honigohr legt einen Finger zwischen die Buchseiten. „Wenn ihr unbedingt einen Spielplatz besitzen wollt, bitte. Aber in dieser Schaukel, da sitze ich. Ihr könnt ja schließlich nicht alle gleichzeitig belegen.“
„Alte! Mach dich vom Acker, aber ein bisschen plötzlich!“ Der größere steht auf und kneift die Augen zusammen, während der kleinere überlegen grinst.
Fräulein Honigohr schüttelt den Kopf. „Wisst ihr was? Ich lese gerade ein Buch über Vogelflug. Und ich brauche Übung. Ihr solltet euch festhalten.“ Sie schließt die Augen. Die Seile der Brettschaukeln lösen sich aus der Verankerung und werden zu Vogelschwingen, die Schaukelbretter schieben sich den Jungs unter die Oberschenkel. Mit kräftigem Schlag heben die Vogelschwingen die Jungs in die Luft und tragen sie davon. Fräulein Honigohr hört sie ängstlich aufschreien, aber sie blickt nicht auf und liest weiter.
Eine Viertelstunde später rauscht es über ihr. Ohne hinzusehen nickt sie. Einen Blick später sitzen zwei Jungs mit verwehten Haaren atemlos im Sandkasten.
„So. Ich bin fertig. Ihr könnt euren Spielplatz zurück haben. Macht was draus.“ Fräulein Honigohr erhebt sich und verstaut das Buch. Es ist Zeit für ihren Vormittagstee. Pfeifend macht sie sich auf den Weg.

Das war ein Beitrag zu den Etüden, organisiert von Christiane (vielen Dank!). Unterzubringen im Text waren Vogelflug, ängstlich und schwingen, die Wortspende kam von Ulli Gau aus ihrem Café Weltenall. Und wieder habe ich hart gekämpft, um die maximal 300 Wörter einzuhalten!