Als Kind wollte ich abends nicht schlafen gehen. Die wachen Stunden waren so kostbar! Das Lesen am Abend war kostbar. Solange ich nicht eingeschlafen war, war der Tag nicht vorüber und der neue Tag konnte nicht kommen. Der neue Tag war unvorhersehbar, er fing mit dem Aufstehen an, und das war schmerzhaft. Ich war so müde, immer und überall. Trotzdem wollte ich abends nicht schlafen gehen.
Der Abend hatte etwas Magisches, die dunkle Jahreszeit noch viel mehr als Frühling und Sommer. Im Herbst schrumpfte meine abendliche Welt auf mein Bett und das jeweilige Buch zusammen, alles andere verschwand. Ich war in einem Kokon aus Zeitlosigkeit, Nachttischlampenlicht und Papierwelten eingesponnen, und das war alles, was ich wollte. Schlafen wollte ich auf jeden Fall nicht.
An besonderen Tagen, vor Weihnachten, Geburtstagen oder Nikolaus, war ich hin- und hergerissen zwischen Schlafen und Wachbleiben. Die Vorstellung, dass zwischen meinem Einschlafen und dem Aufwachen viele Stunden lagen, endlose, mäandernde, sich ausdehnende Stunden, in denen ich nichts tat als daliegen, verursachten mir fast körperliche Schmerzen. Es war kaum auszuhalten, wie lange ich schlafen würde, ohne es zu merken, bis es endlich Morgen wäre. Wenn ich allerdings nicht schlief, würde es noch viel länger dauern, bis es endlich Morgen wäre. Nichts davon war damals ein Widerspruch.
Meine Eltern fanden es weniger schön, dass ich nicht schlafen wollte. Es war ein immerwährender Kampf, und wenn im Türspalt unten am Teppichboden noch Licht zu sehen war, gab es Ärger. Also legte ich eine Decke vor den Türspalt und sperrte das Licht ein, damit es nicht unkontrolliert im Haus herumwanderte. Das Licht trickste mich aus und wanderte durch das Schlüsselloch hinaus und wieder gab es Ärger. Auch meine Taschenlampe wurde entdeckt und für die Nacht konfisziert.
Trotzdem schlief ich nicht. Ich ging immer zu spät schlafen, jeden Abend, und ich war tagsüber immer müde. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte meines Lebens. Auf einmal war der Preis eines müden Tages höher als der der gestohlenen Stunden in der Nacht. Vielleicht ist das der Preis, den man für das Erwachsenwerden zahlt.
