Maßstäbe

Der Dünenwächter-Fasan knurrte verächtlich und spreizte seine langen Schwanzfedern. Zu seiner Zeit hätten die Jungspunde sich das nicht getraut, soviel stand fest. Gereizt marschierte er auf und ab, bis er einen kleinen Graben in die Düne getreten hatte. Das Abendrot war am Verglühen, weit hinten hatte die schmale Mondsichel sich auf den Weg gemacht, aber seine Neffen waren immer noch nicht zurück. Der Dünenwächter-Fasam hätte gern einen seiner berühmten Schreie ausgestossen, aber er hielt sich zurück, wie es seine Pflicht war. Von ihm hing das Überleben der Familie ab, so war es doch! Er spreizte erneut seine Schwanzfedern und verdrehte den Hals, bis er das Abendrot im Gefieder glänzen sah. Natürlich waren seine Neffen wieder den Weg des geringsten Widerstandes gegangen, er spürte es bis in seine Zehen. Abfälle am Hauptstrand! Soweit war es gekommen. Der Niedergang stand kurz bevor. Nun, er würde diesen Weg nicht gehen, nein, er würde weiter der Tradition verpflichtet bleiben, so, wie seine Ahnen es ihm beigebracht hatten. Nur was aus Feldern, Wiesen und Dünen kam, war gut genug für ihn. Aufmerksam hielt er den Schnabel in den Wind. Heute Abend lag eine besondere Süße im Wind, rund und fruchtig umschmeichelte sie den Dünenwächter-Fasan. Lag Gefahr in der Luft? Sollte er die Weibchen warnen? Da vorn lag etwas Unbekanntes in einer zertrampelten Düne. Was war das? Zitternd pirschte er sich an, verbarg sich hinter einem Dünengrasbüschel und spähte durch die Halme. Kuchen. Schwarzwälderkirschtortenreste lagen im Sand. Der Dünenwächter-Fasan tat, was er konnte, aber es war nicht genug. Zwei Minuten später lag er mit vollem Magen neben der leeren Pappe im Sand und atmete schwer. Sein Inneres wurde immer milder, seine Federn glühten wie das Abendrot und die Kirschen in der Torte. Sein Kopf war leicht. Das Leben war schön. Und vielleicht… vielleicht war er eine Kleinigkeit zu streng mit seinen Neffen gewesen.

Schreibsurfer

mit dem Füller zum Heft gehen
wie mit dem Badetuch zum Strand
vorfreudig in die blendend weißen Seiten schauen
den Füller in der Hand wiegen
wie eine gerade gefundene Muschel
mit der Feder sanft über das Papier gleiten
wie ein Seitensurfer
Wellen hinterlassen
zurückblicken und den Schaum
langsam verebben sehen
darunter Silbenschwärme beobachten
hoffen
dass ab und zu
eine direkt unter die Feder springt
Worte zum Leuchten bringt

Der Dienstag dichtet!  
Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Dienstag ist Gedichtetag. Wer sich anschließen will, ist herzlich willkommen! Mit dabei sind:

Mutigerleben
Wortgeflumselkritzelkrams
Werner Kastens
Nachtwandlerin
Gedankenweberei
Erinnerungswerkstatt
Lebensbetrunken
Dein Poet
Geschichte/n mit Gott
Suses Buchtraum
Wortmann
Traumspruch
Lyrik trifft Poesie
Voller Worte

Zeitstrandmaschine

Zeitstrandmaschine

Zögernd taucht die Frau einen Fuß ins Wasser. Es ist warm. Sie zieht den zweiten Fuß hinterher und bleibt stehen, als ob man sie bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Darf sich etwas so kindisches so gut anfühlen? Mit den Füßen im Wasser plantschen wie ein fünfjähriges Kind?
Probeweise geht sie einen Schritt. Der Sand unter den Fußsohlen ist weich. Das Wasser umspielt lockend ihre Knöchel. Sie macht noch einen Schritt. Und noch einen. Es fühlt sich verboten gut an. Schnell schaut sie nach links und rechts. Niemand da, der sie kennen könnte. Wagemutig läuft sie tiefer ins Wasser, gräbt die Zehen in den Sand, spritzt mit dem Wasser, bis es gegen ihre Oberschenkel platscht.
Mit jedem Schritt wird sie jünger, die Jahre fallen von ihr ab wie Blätterteigkrümel von einem Croissant, sie lacht laut auf, bis ihr bewusst wird, dass sie gerade fünf Jahre alt ist, mit dem Wissen einer fünfzig Jahre älteren Frau im Rücken.
Erschrocken schlägt sie die Hand vor den Mund, um ihr Lachen einzufangen. Sie dreht sich um und watet so schnell zurück, wie es ihr einigermaßen würdevoll möglich ist. Mit jedem Meter zurück wird sie wieder älter. Im Strandkorb schlägt sie keuchend die Augen zu und schüttelt sich.
Aber es ist zu spät. Ihr Körper erinnert sich, wie gut die Erde sich früher angefühlt hat, die Sonne, das Gras, der Schlamm, und wie sie miteinander gesprochen haben.
Ihr Körper will zurück. Und er wird keine Ruhe geben.

 

beim Spazierengehen

beim Spazierengehen

Die beiden Plastikbagger stehen unternehmungslustig blaugelbrot im Nordseestrand, vor sich das größte Bauprojekt ihres Lebens.

Im Watt und am Strand lösen sich die Kleidervorschriften schneller auf als fadenscheinige Jeans.

Der nackte Bauch des Mannes bläht sich rund wie ein Walfisch. Allerdings ist er nicht grau, sondern glänzend rosarot.

Zwei kleine Mädchen spielen Pferd und Longenführerin im niedrigen Wasser und alles ist schön: Das Laufen. Das Stehenbleiben. Das Wiehern. Das außer-Atem-sein. Das Hinfallen und nass werden.

Eine lebendige Krabbe mit allen sechs Beinen löst eine Energieexplosion bei drei Jungs aus.

Die Beine des karierten Shortsträgers sind bis unter die Knie gebräunt. Der Abschnitt zwischen Knie und Shortsbeginn hat die Farbe von Honigmilch.

Die Insel Neuwerk schwimmt zwischen Himmel und Wasser. Der weiße Leuchtturm in der Mitte pinnt sie wie eine Riesenstecknadel am Meeresgrund fest, damit sie nicht davonfliegt.

Das auflaufende Wasser pirscht sich an wie ein Stachelschwein mit aufgestellten, raschelnden Stacheln. Die letzten Senken nimmt es in einem Sprung.

Mit jedem Schritt im Wasser schüttelt die mittelalte Frau mehr Jahre ab. Bevor sie zu jung wird, flüchtet sie zum Strandkorb zurück.

Mit konzentriertem Ernst sammelt der Mann mit Spaten und winzig kleinem Eimerchen Muscheln im Wassergraben.

Die leuchtensten Farben trägt eine Familie mit strahlend dunkelbrauner Haut. Sie schillern im Wasser wie Orchideen.

Die Entfernung des Filme fürs Familienalbum drehenden Vaters zu Frau und Tochter ist größer als die höchste Zoomstufe seiner Kamera.

Weit draußen schwimmen Möwen wie weiße Augen auf dem Wasser. Sie behalten uns im Blick.

Strandtag

Strandtag

bei leisem Wellengang
in sprödem Windgesang
scheint die Sonne am Treibholz entlang

hängt Fischgräten an Galgen
trocknet schmoddrige Halden
beleuchtet spinatige Algen

Tuffwolken schweben verweichlicht
Plastikmüll glänzt reichlich
bei allerbester Fernsicht

Mir war nach einem gegen den Strich gebürsteten Strandgedicht, und mich ärgern diese Unmassen Plastikzeugs, die überall (nicht nur am Strand) herumfliegen.

Der Dienstag dichtet!  Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Jeden Dienstag wird ein Gedicht aus eigener Herstellung veröffentlicht. Auch Wortgeflumselkritzelkram und  Mutigerleben sind mit von der Partie. Wer den Dienstag also mit Gedichten beginnen will: Herzlich willkommen!

Promenadenplatz

Promenadenplatz

Tätowierte mit Adlerflügeln und flauschigen Hunden
rotgesonnte Spitzbäuchige in Gummischlappen
ausgetrocknete sonnenverspiegelte Radfahrer
schwitzende Pudel auf dauergewellten Beinen
abgeschnittene Jeanszwerge mit Eishoffnungen
weißhaarige Bodenständige in vernünftigem Schuhwerk
tiefstausgeschnittene Brustträgerinnen an nichtssagenden T-Shirt-Helden
Schnurrbartgesichter unter blau-weißem Sonnenschirmhimmel
Käppi-Sippen in weiß besockten Sportschuhläufern
fischschuppenpaillettenglitzernde Strohbehütete
schleifchenhaarige Windelträger und ihre Nannys
am Horizont Schlammwanderer hundertfach
und ich auf meinem Aussichtsplatz:
promenadengesättigt

Ein Sonntag an der Nordsee kann ganz schön inspirieren… aber wir haben nicht nur herumgespannert, wir sind bei bestem Seewetter auch noch ein bisschen im Watt herumspaziert! 🙂

Der Dienstag dichtet!  Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Jeden Dienstag wird ein Gedicht aus eigener Herstellung veröffentlicht. Auch Wortgeflumselkritzelkram und  Mutigerleben sind mit von der Partie. Wer den Dienstag also mit Gedichten beginnen will: Herzlich willkommen!