Ausgelesen: Krakonos. Von Wieland Freund.

Ich war sehr skeptisch, was dieses Buch betrifft. Der Umschlag – gar nicht meins. Krakonos, Mythen, Sagen – naja, wenn es denn unbedingt sein muss, freiwillig eher nicht. Aber da stand es nun mal in meinem Regal der ungelesenen Bücher und verschwand einfach nicht von selbst, also habe ich es irgendwann angefangen. Und war fasziniert, von der ersten bis zur letzten Seite (und wieder einmal hätte mich ein Cover, das nicht meinem Geschmack entspricht, fast davon abgehalten, ein sehr, sehr gutes Buch zu entdecken!).

Krakonos – es liegt nicht ohne Grund im Blumenkasten. Dieses Buch kann man nur draußen fotografieren, soviel steht fest.

Die Brüder Nik und Levi leben in einer nicht näher definierten Zukunft, anfangs dachte ich, sie wären unserer Zeit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahre voraus, je weiter ich allerdings las, desto unsicherer wurde ich. Vielleicht sind es auch nur fünf oder sieben Jahre, letztlich spielt es keine große Rolle. Die anfangs visionär erscheinende Technikwelt schrumpft im Laufe des Buches zugunsten anderer Schwerpunkte immer mehr zusammen, und das ist so gut geschrieben, dass man sie nicht vermisst. Die Brüder jedenfalls sind dort zuhause, für sie ist diese nicht näher definierte Zukunft ganz selbstverständlich. Sie sind sehr unterschiedlich, Nik ist angepasst und lebt gern im Internat des amerikanischen Großkonzerns Qwip-Com in Berlin, für den seine Eltern arbeiten. Alles dort ist durchgestylt, clean und weiß, jede Minute ist organisiert und behütet, ein bisschen zu behütet vielleicht. Programmieren, qwippen und Computer sind für ihn so normal wie Zähne putzen. Levi dagegen kann all der Technik wenig abgewinnen, notgedrungen macht er mit, aber wirkliches Leben spürt er nur draußen in der Natur. Wobei Natur etwas hoch gegriffen ist für den sauber gemähten Park, in den die Kinder zu reglementierten Zeiten dürfen. Aber da gibt es noch eine alte Brache mit verfallenen Kleingärten, in die es Levi magisch zieht, und Nik, der auf seinen kleinen Bruder aufpassen will, muss mit, ob es ihm gefällt oder nicht.

Weit entfernt in einem anderen Land überwacht die Mythobiologie-Studentin Emma O´Lynn einen Steinhaufen, in dem seit fünfzig Jahren Krakonos schläft, bei uns besser als Rübezahl bekannt. Als ein mächtiges Gewitter aufzieht, ist sie einen Augenblick lang abgelenkt und schon ist es passiert: Krakonos entkommt. Sein Weg führt ihn auf uralten Wegen nach Berlin, immer verfolgt vom M-SEK Einsatzkommando, das auf die Jagd von Überzeitlichen spezialisiert ist…

Drinnen und draußen – zwei sehr wichtige Zustandsbeschreibungen in diesem Buch.

Wieland Freund stellt hier Technik und Natur gegeneinander, baut beide Welten mit großer Kenntnis detailverliebt und sehr gut recherchiert auf und lässt sie aufeinanderprallen. Der Leser erlebt das seltene Buchereignis, dass zwei Welten aufeinandertreffen und es keine Einigung gibt – sie bleiben unvereinbar. Computer, Handys und Apps werden nicht verteufelt, im Gegenteil, Krakonos nutzt ihre Möglichkeiten, wenn es notwendig und hilfreich ist, aber sie werden auf das reduziert, was sie sind: Technische Hilfsmittel, weit entfernt von Natur und Erde. Als Nik und Levi das Gelände von Qwip-Com verlassen, ist es wie ein Aufatmen, das durch die Seiten des Buches fährt, obwohl Nik sich fürchtet und nichts lieber möchte, als zurückzukehren in das sichere, bekannte Gelände. Er will nicht aus der Rolle fallen und er versteht seinen Bruder nicht, der völlig furchtlos begeistert dem Fremden folgt, der seine Sprache spricht – die der Natur. Wie Nik diesen inneren Kampf fechtet, hadert, Angst hat und letztlich doch daran wächst, ist herausragend gut geschrieben und fernab von jeder Weichzeichnerei. Auch Krakonos, hierzulande besser bekannt als Rübezahl, ist ein schriftstellerisches Ereignis. Er ist in jeder Sekunde glaubwürdig, niemals überzeichnet, man ist sich nicht sicher, ob man ihn lieben oder doch besser fürchten sollte, und manchmal tut er einem leid zwischen all diesen besessenen Menschen, die alles Unbekannte am liebsten komplett auslöschen möchten.

Sehen Sie die Regentropfen auf dem Einband? Die sollten da auch drauf sein. Warum, wissen Sie, wenn Sie dieses Buch lesen.

Auch eine Stärke des Buches ist seine Unbarmherzigkeit. Emma und Nik entwickeln sich weiter, stockend zwar, mit Widerstand und Gegenwehr, aber sie bewegen sich immerhin, Krakonos bleibt sich treu, er ist, wie er ist und immer schon war, aber die restlichen Mitspieler sind wirklich zum Fürchten. Unbelehrbar, unverbesserlich und unbeirrt verfolgen sie ihre Ziele, ohne zu fragen, ob das Ziel nicht längst gewechselt hat. Auftrag ist Auftrag, und so schreiten sie unaufhaltsam voran, die Jäger haben das Wild gewittert und verfolgen ohne jeden Selbstzweifel ihr Ziel und wenn einem hier der Vergleich zur unaufhaltsam voranschreitenden Technisierung in den Sinn kommt, ist er nicht ganz von der Hand zu weisen. Das Buch wechselt unmerklich von der hochtechnologischen Welt der Computer und selbstfahrenden Autos zur Natur über, führt in Wälder, alte Seen und dunkle Sternennächte, und je länger der Leser mit Nik und Levi und Krakonos unterwegs ist, desto kostbarer und zerbrechlicher erscheint ihm unsere Welt. Die Natur lebt aus sich heraus, sie ist alt, aber nicht unzerstörbar. Diese Erkenntnis habe ich mitgenommen, und he, ich schreibe hier gerade auf einem Computer, nutze Apps und jede Menge Internet. Schlecht ist das sicher nicht. Aber das Wichtigste ist es sicher auch nicht, da gibt es noch viel mehr. Man muss nur mal rausgehen.

Insgesamt also ein Buch, das auf keinen Fall nur von Kindern, sondern gerade auch von Erwachsenen gelesen werden sollte. Es ist ein All-Age Buch, hochgradig lesenswert, sehr unterhaltsam und lernen kann man auch noch etwas. Wenn das keine Empfehlung ist, weiß ich auch nicht weiter!

Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Wer Ohren hat zu hören, der höre!

nichts ist hier still und lieblich
die Gegenwart fließt nicht friedlich
wild rauscht sie voran
brausendes Tosen ist ihr Gesang
hörst du
Blüten explodieren und schießen
Blätter platzen aus engen Verliesen
Triebe wachsen aus lauten Träumen
das herbe Knirschen in alten Bäumen
hörst du
das Geschrei kleinster Geschöpfe
Atem und Kampf in winzigen Köpfen
sie laufen und schwirren und beben
um ihr kostbares schnelles Leben
hörst du
die Wolken rasend und eilig
weißschäumend gewaltig und heilig
Wasser in tausendundeiner Form
flüstert vom Leben fern aller Norm
hörst du?
ich sage dir hättest du Ohren
du würdest es hören und loben!

Manchmal lese ich ein bißchen in meinen alten Gedichten und bin erstaunt: Sind die wirklich von mir? So wie in diesem hier würde ich heute zum Beispiel eher nicht mehr schreiben. Aber mir gefällt´s trotzdem, und das Foto ist erst ein knappes Jahr alt, also passt da immer noch etwas zusammen. Wer Augen hat zu sehen, der lese es! Drama, Baby, Drama! 🙂