Fräulein Honigohr zieht um

Fräulein Honigohr zieht um

Fräulein Honigohr nimmt die nächste Tasse aus dem Schrank, betrachtet das pinkgoldene Muster am Rand und erinnert sich. Ein kleines Lächeln zieht über ihre Mundwinkel, dann seufzt sie. Die Tasse kommt in den linken Karton.
„Hör mal, wenn du so weitermachst, sind wir nächstes Jahr noch nicht fertig!“ ruft Herr Brummeck aus dem Flur.
„Ach, schnickschnack“, murmelt Fräulein Honigohr und überlegt, welche Tasse sie als nächstes nehmen soll.
„Ich kann dich hören!“ Herr Brummeck setzt den Schrank ab, den er gerade nach oben tragen wollte und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Willst du jetzt jede einzelne Tasse verabschieden? Du hast doch hunderte!“
„Jede ist wenigstens eine Erinnerung wert“, sagt Fräulein Honigohr, „wo kämen wir denn da hin, wenn ich einfach alle über einen Kamm schere?“
„Schneller nach oben?“ Herr Brummeck grinst.
Fräulein Honigohr hört gar nicht hin. „Guck mal“, sagt sie, „diese hatten wir beim Picknick im Schwimmbad dabei. Wir haben Eistee getrunken und Federball mit den Kindern von der Nachbardecke gespielt.“
„Das war super, aber eigentlich wollten wir heute abend fertig sein, du erinnerst dich? Frau Eckenbrösel würde gern heute nacht hier in ihrem Bett schlafen.“
Fräulein Honigohr schnaubt.
„Du wolltest die Wohnung tauschen, also beschwer dich nicht.“ Herr Brummeck lehnt sich auf den Schrank.
Fräulein Honigohr verdreht die Augen.
„Ich könnte sie dir einfach alle nach oben bringen“, schlägt Herr Brummeck heroisch vor und versucht, nicht auf das Tassenmeer zu gucken.
„Das ist lieb von dir, aber wenn ich schon umziehe, muss ich die Gelegenheit nutzen und Dinge freilassen.“ Fräulein Honigohr sieht sich um und seufzt wieder.
„Ja, dann…“ Herr Brummeck hebt den Schrank an.
Fräulein Honigohr schließt kurz die Augen und Herr Brummeck protestiert: „Lass das! Ich kann das allein tragen! Meinst du, ich schaff das nicht?“
Männer. Fräulein Honigohr schüttelt den Kopf. Dann eben nicht. Herr Brummeck stöhnt und schnauft, als er den Schrank nach oben trägt, aber er klingt sehr zufrieden dabei. Fräulein Honigohr setzt die Tasse ab und geht mit dem Karton ins Wohnzimmer, in dem schon eine seltsame Mischung aus ihren und Frau Eckenbrösels Möbeln steht. Es sieht interessant aus, als ob die gezierten, etwas zu gut angezogenen Möbelverwandten aus der Großstadt zu Besuch wären. Nur, dass sie nicht zu Besuch sind, sondern hier einziehen. Fräulein Honigohr freut sich auf die Aussicht oben, und Frau Eckenbrösel freut sich, dass sie weniger Treppen steigen muss. Mit neunundsiebzig ist das nicht mehr so leicht wie früher. Alles ist gut, und dennoch: Es waren schöne Zeiten hier. Fräulein Honigohr öffnet ein Fenster und sieht hinaus. Dann schließt sie kurz die Augen und eine kleine Parade aus Tassen, Büchern, einem Fächer, einer Klivie und ein paar Hüten fliegt durch das Fenster nach oben.
„He!“ hört sie Herrn Brummeck rufen.
„Du musst nicht, aber ich schon!“ ruft sie durch das offene Fenster, „schließlich will Frau Eckenbrösel heute nacht hier schlafen!“ Oben klirrt etwas, Herr Brummeck flucht und Fräulein Honigohr zieht ihren Kopf wieder nach drinnen. Sie blickt den Karton mit den aussortierten Tassen an. Zeit für Abschiede. Sie schließt noch einmal kurz die Augen. „Auf, sucht euch jemand neues!“ Fräulein Honigohr wedelt die Tassen durchs Fenster hinaus, sie drehen sich um die eigene Achse, nicken ihr ein letztes Mal zu und rasen in alle Richtungen davon. Fräulein Honigohr sieht ihnen einen Augenblick nach, dann schließt sie das Fenster. Es gibt viel zu tun. In der Küche zum Beispiel, da gibt es noch einen ganzen Schrank mit Tassen.

16 Gedanken zu „Fräulein Honigohr zieht um

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