Kleine Dinge, die anders sind

Beim Pulloverausziehen denken: Achtung, die Lampe! Aber die Lampe hängt jetzt einen Meter höher.
Vom Schlafzimmer kommt man nicht direkt in den Flur.
Niemand geht unter meinem Fenster vorbei und unterhält sich mit seinem Handy.
Schmutzwäsche im Bad in den Wäschekorb tun wollen. Aber da ist kein Wäschekorb.
Den Herd anzünden wollen. Aber es ist ein Elektroherd.
Vor der Eingangstür ist nicht das Treppenhaus.
Ich kann die Treppe nicht lautlos hinaufgehen.
Schnell im Sitzen die Butter aus dem Kühlschrank holen wollen. Aber da ist kein Kühlschrank neben mir.
Kirchturmglocken hören.
Neben der Küche ist nicht der Flur.
Wie die Türen beim Schließen klingen.
Nachts in den Oberlichtern Sterne sehen.

Fräulein Honigohr zieht um

Fräulein Honigohr zieht um

Fräulein Honigohr nimmt die nächste Tasse aus dem Schrank, betrachtet das pinkgoldene Muster am Rand und erinnert sich. Ein kleines Lächeln zieht über ihre Mundwinkel, dann seufzt sie. Die Tasse kommt in den linken Karton.
„Hör mal, wenn du so weitermachst, sind wir nächstes Jahr noch nicht fertig!“ ruft Herr Brummeck aus dem Flur.
„Ach, schnickschnack“, murmelt Fräulein Honigohr und überlegt, welche Tasse sie als nächstes nehmen soll.
„Ich kann dich hören!“ Herr Brummeck setzt den Schrank ab, den er gerade nach oben tragen wollte und wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Willst du jetzt jede einzelne Tasse verabschieden? Du hast doch hunderte!“
„Jede ist wenigstens eine Erinnerung wert“, sagt Fräulein Honigohr, „wo kämen wir denn da hin, wenn ich einfach alle über einen Kamm schere?“
„Schneller nach oben?“ Herr Brummeck grinst.
Fräulein Honigohr hört gar nicht hin. „Guck mal“, sagt sie, „diese hatten wir beim Picknick im Schwimmbad dabei. Wir haben Eistee getrunken und Federball mit den Kindern von der Nachbardecke gespielt.“
„Das war super, aber eigentlich wollten wir heute abend fertig sein, du erinnerst dich? Frau Eckenbrösel würde gern heute nacht hier in ihrem Bett schlafen.“
Fräulein Honigohr schnaubt.
„Du wolltest die Wohnung tauschen, also beschwer dich nicht.“ Herr Brummeck lehnt sich auf den Schrank.
Fräulein Honigohr verdreht die Augen.
„Ich könnte sie dir einfach alle nach oben bringen“, schlägt Herr Brummeck heroisch vor und versucht, nicht auf das Tassenmeer zu gucken.
„Das ist lieb von dir, aber wenn ich schon umziehe, muss ich die Gelegenheit nutzen und Dinge freilassen.“ Fräulein Honigohr sieht sich um und seufzt wieder.
„Ja, dann…“ Herr Brummeck hebt den Schrank an.
Fräulein Honigohr schließt kurz die Augen und Herr Brummeck protestiert: „Lass das! Ich kann das allein tragen! Meinst du, ich schaff das nicht?“
Männer. Fräulein Honigohr schüttelt den Kopf. Dann eben nicht. Herr Brummeck stöhnt und schnauft, als er den Schrank nach oben trägt, aber er klingt sehr zufrieden dabei. Fräulein Honigohr setzt die Tasse ab und geht mit dem Karton ins Wohnzimmer, in dem schon eine seltsame Mischung aus ihren und Frau Eckenbrösels Möbeln steht. Es sieht interessant aus, als ob die gezierten, etwas zu gut angezogenen Möbelverwandten aus der Großstadt zu Besuch wären. Nur, dass sie nicht zu Besuch sind, sondern hier einziehen. Fräulein Honigohr freut sich auf die Aussicht oben, und Frau Eckenbrösel freut sich, dass sie weniger Treppen steigen muss. Mit neunundsiebzig ist das nicht mehr so leicht wie früher. Alles ist gut, und dennoch: Es waren schöne Zeiten hier. Fräulein Honigohr öffnet ein Fenster und sieht hinaus. Dann schließt sie kurz die Augen und eine kleine Parade aus Tassen, Büchern, einem Fächer, einer Klivie und ein paar Hüten fliegt durch das Fenster nach oben.
„He!“ hört sie Herrn Brummeck rufen.
„Du musst nicht, aber ich schon!“ ruft sie durch das offene Fenster, „schließlich will Frau Eckenbrösel heute nacht hier schlafen!“ Oben klirrt etwas, Herr Brummeck flucht und Fräulein Honigohr zieht ihren Kopf wieder nach drinnen. Sie blickt den Karton mit den aussortierten Tassen an. Zeit für Abschiede. Sie schließt noch einmal kurz die Augen. „Auf, sucht euch jemand neues!“ Fräulein Honigohr wedelt die Tassen durchs Fenster hinaus, sie drehen sich um die eigene Achse, nicken ihr ein letztes Mal zu und rasen in alle Richtungen davon. Fräulein Honigohr sieht ihnen einen Augenblick nach, dann schließt sie das Fenster. Es gibt viel zu tun. In der Küche zum Beispiel, da gibt es noch einen ganzen Schrank mit Tassen.

Da bin ich!

„Da bin ich!“ piepst das dünne, graue Haar, nachdem es gewachsen ist und sieht sich neugierig um.
„Ich weiß“, brummst du und schreibst weiter.
„Das ist ja so aufregend!“ erklärt das graue Haar und kräuselt sich leicht vor lauter Vorfreude.
„Was ist das?“ fragst du abwesend und setzt ein paar wichtige Satzzeichen.
„Aufregend! Hier zu sein! Endlich! Ich hab so lange darauf gewartet!“ Das graue Haar reckt sich zur Sonne. „Und es ist so hell hier!“
„Du bist hell, meinst du wohl, was?“ fragst du säuerlich.
„Ja klar! Nach all deinen dunklen und braunen Jahren wird es doch wohl Zeit für etwas mehr Helligkeit, oder?“ Das graue Haar gluckst. „Und was machen wir nun?“
„Ich korrigiere den Text“, antwortest du, „was du machst, weiß ich nicht.“
„Du bist aber sehr schlecht gelaunt“, erklärt das graue Haar, „liegt das an mir?“ Es klingt beleidigt.
Du seufzt. „Naja. Es ist nicht so, dass ich auf dich gewartet hätte, weißt du. Du bist ein Zeichen für Veränderung, Umbruch, neue Wege. Du beendest etwas. Das macht dich nicht gerade beliebt.“
Das graue Haar kräuselt sich. „Das ist dein Problem. Ich hab solange darauf gewartet, ans Licht zu kommen, ich will Veränderung! Ich will Aufbruch! Ich will etwas erleben! Du bist vielleicht schon lange hier, aber ich bin neu! Also, was machen wir nun?“
Du zupfst an dem Haar herum.
„He! Lass das! Du willst mich doch nicht etwa ausreißen? Tu das nicht!“ Das graue Haar klingt panisch.
Du lässt die Hand sinken. „Würde ich doch nie tun.“ Du klingst nicht ganz überzeugend. „Na gut. Dann lass uns fürs erste einfach leben, ok?“
Das graue Haar entspannt sich. „Ja! Das klingt gut!“ Und nach einer kleinen Pause fragt es: „Wie geht das?“
Du lächelst. Darin hast du Erfahrung.


Herr Miesling und die Veränderung

Herr Miesling und die Veränderung

Herr Miesling sitzt auf seinem Küchenstuhl und sieht entmutigt aus. „Und du meinst wirklich, ich muss das machen?“, fragt er seinen Engel.
Der nickt energisch.
„Ich mag keine Veränderungen“, murmelt Herr Miesling, „immer, wenn sich was verändert hat, wars hinterher schlechter.“
Sein Engel stemmt die Hände in die Hüften.
„Na gut, vielleicht nich jedes Mal“, räumt Herr Miesling ein. „Als ich beschlossen hab, zur See zu fahrn, das war gut. Aber abgesehn davon, ich mags nich, wenn ich mich nich auskenn. Ich will wissen, wo was ist und wie es sich anfühlt, morgens im selben Zimmer im selben Bett wie immer aufzuwachen. Jaja, schon gut“, schiebt er schnell ein, als sein Engel leise schnaubt, „ich zieh ja nich um. Aber wenn ich jetzt anfang, hier was zu verändern, dann fang ich an, mich auf was zu freun, und ich weiß nich, was das ist, also freu ich mich grundlos, und dann stell ich irgendwann fest, ich hab gar keinen Grund, mich zu freun, also hör ich auf damit und dann ist es schlechter als vorher, als ich mich auch nich gefreut hab. Also kann ichs doch gleich lassen, oder?“ Er sieht seinen Engel an.
Der sieht aus, als ob ihm sein Job manchmal zu schwer wäre. Dann setzt er sich zu Herrn Miesling an den Tisch, obwohl da eigentlich kein zweiter Stuhl ist und sieht mit ihm aus dem Fenster.
Eine kleine Weile später räuspert Herr Miesling sich. „Naja“, sagt er, „aber jetzt haben wir den Eimer ja schon mal da. Und nen Pinsel auch.“ Er sieht sich kritisch um. „Und die Wand könnte nen Anstrich vertragen, das stimmt schon. Meinste, sie würds mögen?“
Sein Engel nickt vorsichtig.
„Ach Gott, dann. Meinetwegen.“ Herr Miesling seufzt. „Ich hoffe, ich mags auch. Kannste´n paar Zeitungen holen zum auslegen?“
Sein Engel zeigt auf einen Stapel Papier neben der Tür.
Herr Miesling guckt auf den Stapel und schüttelt den Kopf. „Du denkst echt immer positiv, was?“
Sein Engel zuckt mit den Schultern. Dann zieht er von irgendwo zwei gefaltete Papierhüte hervor und hält sie hoch.
Herr Miesling grinst. „Na dann los“, sagt er.

ich will

der Sonnenschein heute
ich kann ihn nicht ertragen
die Luft ist mild
ich möchte um mich schlagen
von allem zuviel
doch viel zu wenig
ich will alles
jetzt oder niemals
ich will
in neuen Straßen atmen
unter fremden Himmeln suchen
ein anderes Leben finden
zwischen endlosen Momenten
zittert mein Herz
schlägt
singt
bricht auf

Der Dienstag dichtet! 🙂  Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Jeden Dienstag wird ein Gedicht aus eigener Herstellung veröffentlicht. Auch Wortgeflumselkritzelkram, Mutigerleben, Werner Kastens, Findevogel und die Wortverzauberte sind mit von der Partie. Schaut doch mal bei ihnen vorbei!

Veränderungen

Aus weihnachtlichem Anlass: Ein Text, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe, immer noch gültig.

Jedes Jahr kommt Weihnachten, egal, ob du das möchtest oder nicht. Es ist unausweichlich, du kannst ihm nicht aus dem Weg gehen. Selbst, wenn du beschließt, das Fest zu ignorieren und so zu tun, als ob du es gar nicht wahrnimmst, triffst du doch eine Entscheidung, die mit Weihnachten zu tun hat – und schon hast du dich mit ihm beschäftigt.
Im Laufe der Jahre verändert sich das Fest für alle, nicht nur für dich. Vom behüteten Kinderfest, an dem du nichts anderes zu tun hattest als dich auf die Geschenke zu freuen und als Schaf beim Krippenspiel möglichst wollig auszusehen, wechselst du nach und nach die Rollen. Du wirst zum Teenie und willst deine Freunde an Weihnachten sehen, dann bist du plötzlich Teil eines Paares, du wirst vielleicht Mama oder Papa, dann durchlebst du eine Trennung und gehst neue Wege. Die eigenen Eltern werden älter und eines Tages bist du selber alt und wirst wegen eines weißen Bartes von Kindern argwöhnisch beäugt (ist das der Weihnachtsmann, Mama?).
Während all dieser Veränderungen kann es passieren, dass dir der Weihnachtszauber abhanden kommt. Die Dinge, die du an Weihnachten früher geliebt hast, sind nicht mehr da. Das ist ok. Du darfst um diese wichtigen Dinge trauern. Es nützt auch gar nichts, wenn du sie unter einer dicken Schale versteckst und so tust, als ob alles in bester Ordnung sei. Dann könnten sie nämlich anfangen, unter der dicken Schale zu gären und im unpassensten Moment explodieren, über der gefüllten Gans und dem Rotkohl zum Beispiel.
Aber wenn es möglich ist, solltest du die Trauer nicht endlos andauern lassen. Veränderungen passieren. Jeder von uns wechselt die Rollen. In jeder neuen Rolle gibt es nicht nur Verluste, sondern immer auch neue Möglichkeiten. Du magst dieses Jahr keinen Baum? Dann lass ihn. Aber hol dir vom Markt Tannenzweige, schöne, weiche, biegsame, und häng ein paar von den alten Weihnachtskugeln daran auf. Du hast keine? Dann nimm Ausstechförmchen und Schokoladenschmuck – erinnere dich an Petterson und Findus. Stell Kerzen auf. Es müssen keine roten sein. Lies Gedichte. Oder etwas anderes. Maria und Josef hatten auch keine Adventskerzen oder Lebkuchen, es erklang kein „Driving Home for Christmas“ auf ihrem Weg, die Leute waren nicht freundlich zu ihnen und trotzdem wurde es Weihnachten. Wie bei dir. Das Kind im Stall hat dafür gesorgt. Und vielleicht ist es gar nicht das Schlechteste, wenn du anfängst, dir Fragen zu stellen, denen du sonst immer ausgewichen bist. Wer weiß – vielleicht ist das ja sogar ein Sinn von Weihnachten, neben all den anderen.
Und wenn du trotzdem mit Weihnachten absolut nichts zu tun haben willst dieses Jahr, hast du immerhin diesen Text bis fast zu Ende gelesen. Deswegen hier ein ganz spezieller Gruß, nur für dich: Frohe, nachdenkliche Weihnachten, vielleicht nur mit einer Kerze und einem Glas Wein. Der Weihnachtsfriede gilt – ganz besonders für dich.

schneemannekstase