Du bist unzufrieden. Deine Wut ist rot. Du wärst lieber blau. Blau ist ausgeglichen. Friedlich. Freundlich. Du überlegst, wer schuld daran ist, dass du rot und wütend bist.
„Du, Gott“, fragst du Gott lauernd, „welche Farbe hat eigentlich Corona?“
Gott sieht dich über seine Lesebrille hinweg an. „Corona hat keine Farbe“, antwortet er, „sie ist ein Brennglas.“
„Ach, wirklich? Bist du sicher?“
„Ja.“
Das war ja klar. Selbstverständlich hat Gott keine Zweifel. „Ich hätte gedacht, sie ist rot“, murmelst du böse.
„Wenn du unbedingt möchtest, dass sie rot ist, kann sie natürlich auch rot sein. Abgesehen davon ist sie aber ein Brennglas.“
So ein Quatsch. Ein Brennglas! Lästig, nervig, tödlich und absolut freudlos, ja, das könntest du unterschreiben. Und rot wie Wut, das auch. Aber ein Brennglas? Quatsch.
„Wie kommst du darauf?“ fragst du Gott. Soll er sich doch mal erklären!
Gott legt die Zeitung beiseite. „Sie macht alles schärfer und spitzer, sie holt Dinge nah ran, auch die unangenehmen, und wenn du nicht aufpasst, brennt sie Löcher in deine Schuhe. Wie ein Brennglas. Oder?“
Du guckst mürrisch.
„Ich erinnere mich: Am Anfang war Corona für dich eine Mischung aus interessant und unheimlich, und du hast genau hingesehen. Wenn du ehrlich bist, hast du es genossen, deinen Alltag in neuem Licht zu sehen, oder?“
„Mh.“ Du verschränkst die Arme.
Gott nickt. „Aber jetzt möchtest du nicht mehr so genau hinsehen. Es dauert zu lang. Da gibt es nämlich ein paar Dinge, die du sonst immer großzügig übersiehst. Du packst deinen Alltag in säuberlichen kleinen Paketen um diese Dinge herum und tust so, als ob sie nicht da wären. Richtig?“
Du schiebst deine Unterlippe vor.
Gott tippt mit dem Bügel der Lesebrille gegen seine Nase und sieht dich an. „Aber weil Corona ein Brennglas ist, holt sie alles sehr nah, sehr scharf und sehr klar heran und hält es dir unter die Nase. Und wenn du wegsehen willst, brennt sie dir ein Loch in den Schuh.“
Deine Wut ist jetzt sehr rot. „So“, zischt du, „und warum bitteschön muss über mein Leben ein Brennglas gehalten werden? Es war doch alles gut!“
„War es das?“ Gott setzt seine Lesebrille wieder auf und blättert die Zeitung eine Seite weiter. „Warum bist du dann jetzt so wütend?“
„Weil… weil… weil das ungerecht ist!“
Gott sieht dich an und eine kleine blaue Welle läuft über deine rote Wut. „Wie wärs: Du guckt nochmal ganz genau hin und machst eine Liste von den Dingen, die du sonst nicht sehen kannst. Und dann überlegst du, was du ändern kannst. Fang mit ein paar kleinen Dingen an. Wenn du Übung hast, mach dich an die großen. Nutz deine Wut. Sie treibt dich an.“
Du grollst. Du fühlst dich unverstanden. „Ich hab wohl keine Wahl, oder?“
Gott liest Zeitung. „Nein“, sagt er geistesabwesend.
Toll.
Dann wirst du wohl nochmal genau hinsehen müssen.
Schlagwort-Archive: Wut
Ausgelesen: Nightmares. Die Schrecken der Nacht. Von Jason Segel und Kirsten Miller.
Ja. Hier haben wir ein Kinderbuch, das ich gekauft habe, weil ich irgendwo eine begeisterte Rezension gelesen hatte, mir der Einband gefiel und vor allem der knallorange Seitenschnitt rundherum. Jetzt überlege ich allerdings gerade, woher zum Geier ich eigentlich wusste, dass das Buch einen orangenen Seitenschnitt hat? Das sieht man doch eigentlich gar nicht auf Fotografien (siehe meine eigene)? Hm. Vielleicht habe ich es gar nicht gesehen, und als das Buch kam, fand ich ihn toll? Vielleicht schreibe ich auch so ausführlich über das Orange (es ist wirklich knall-knall-orange, sagenhaft!) weil mir zum Buch nicht viel einfällt?
Ja. Es ist also ein gut gemachtes und gut geschriebenes Kinderbuch mit einer Botschaft, die rüberkommt (du darfst trauern, stell dich deinen Ängsten, Freundschaft ist DAS Ding), der Kinderheld ist ein Junge, den man gern zum Freund hätte (vielleicht nicht unbedingt zu Anfang des Buches, aber zum Ende hin auf jeden Fall), die Geschichte hat einen befriedigenden Anteil an Fantasy und eine für Kinder akzeptable Menge an nicht zu schlimmem Horror (allerdings kennen alle Eltern ihre Kinder und würden es ihnen nicht zu lesen geben, wenn sie empfindsame Seelen zuhause haben – oder? Oder??). Dabei bleibt es trotzdem der Realität verpflichtet, die Geschichte dient vor allem dazu, sich in der realen Welt zurechtzufinden, seine Gefühle zu erkennen und verarbeiten zu können, ist aber nie langweilig oder kommt mit erhobenem Zeigefinger daher. Spannend ist es auch noch und gut geschrieben auch.
Was es nicht ist: Ein Kinderbuch oder Jugendbuch, das auch Erwachsene genauso gut bedient. Nein. Das tut es nicht. Es ist ein Kinder/Jugendbuch, und in diesem Segment ist es super aufgehoben. Lesebegeisterte Jungs so etwa im Alter zwischen 9 und 13 Jahren (und auch Mädchen) werden es vermutlich sehr mögen.
Dafür, dass mir nicht viel einfiel zum Buch, habe ich jetzt doch eine Menge geschrieben. Nur eine Inhaltsangabe, die gibt es hier nicht, aber davon gibt es etwa eintausendzweihundertvierundvierzig im Netz, also muss ich keine mehr schreiben. Viel Freude beim Verschenken an eure Söhne (und Töchter!)
Fräulein Honigohr sitzt im Schrank
Fräulein Honigohr sitzt im Schrank. Es ist ein bisschen dunkel da drin, aber das macht nichts. Wenn sie den Kopf dreht, um zu lauschen, streicht das grüne Sommerkleid über ihre Wangen. Langsam wird es draußen ruhiger. Das ist gut. Sie legt den Kopf auf die angezogenen Knie. Wie ärgerlich, dass es schon wieder passiert ist. Dabei hat sie so aufgepasst!
Immerhin hat sie an den Schrank gedacht, und darauf ist sie ein kleines bisschen stolz. Gut, dass sie Herrn Brummeck um Rat gebeten hat. Der Schrank war eine ausgezeichnete Idee, das muss sie ihm später unbedingt sagen. In Gedanken macht sie einen dreifachen, violetten Knoten in ihre Haare, um es ja nicht zu vergessen. Vergesslichkeit. Sie seufzt leise. Warum ist sie nur so schrecklich vergesslich? Damit fängt immer alles an. Abends vergisst sie, den Wecker zu stellen, obwohl sie das nicht wirklich schlimm findet. Trotzdem. Sie sollte es nicht vergessen, das ist ein Prinzip und Prinzipien muß man einhalten. Oder? Und außerdem ist es ja nicht nur der Wecker: Sie vergisst, dass sie den Teebeutel schon in die Tasse getan hat, dann, die zweite Socke anzuziehen, der Regenschirm ist unauffindbar, ihr Geldbeutel ist verschwunden. Sie ist auch schon mit ungekämmten Haaren zur Arbeit gegangen, von vergessenen Taschen ganz zu schweigen. Und so hat sie auch ihre Krone verloren. Ihre schöne, goldene Krone. Die hätte sie heute dringend gebraucht, das Wetter ist übel, der Morgen grau, die Aussichten novembermässig schlecht, und mit Krone wäre einfach alles besser gewesen. Aber sie hat sie nicht gefunden.
Fräulein Honigohr seufzt noch einmal leise und erinnert sich, wie sie gesucht hat: Unter dem Bett. Im Küchenschrank. Zwischen den Kissen im Wohnzimmer. Hinter den Büchern. Sogar in den Büchern hat sie nachgesehen, manchmal versteckt ihre Krone sich überraschend hinterhältig. Aber dieses Mal war sie nirgendwo. Und dann kam die Wut. Fräulein Honigohrs Wut will toben, schreien und rennen, und zwar alles auf einmal. Sie kann ziemlich beängstigend sein. Sie macht sogar Fräulein Honigohr selber Angst. Wenn man gleichzeitig Angst hat und wütend ist, neigt die Wut dazu, sich selbständig zu machen und das ist der Zeitpunkt, an dem der Schrank ins Spiel kam. Herr Brummeck hat Fräulein Honigohr geraten, im Schrank in Deckung zu gehen und ihre Wut sich selbst zu überlassen. Meistens wird der Wut schnell langweilig, wenn Fräulein Honigohr sie ignoriert. Und genau das hat sie heute getan. Sie ist stolz auf sich.
Ein kleiner Lichtstreifen fällt durch das Schlüsselloch zu ihr hinein. Fräulein Honigohr streckt ihre Finger aus und spielt mit ihm. Draussen ist es ruhig. Ihre Wut ist verschwunden. Eigentlich könnte sie jetzt die Tür aufmachen und hinausgehen. Interessanterweise hat sie gerade gar keine Lust dazu. Der Lichtstrahl kitzelt ihre Finger, es ist warm und wenn sie noch ein klein wenig überlegt, fällt ihr vielleicht sogar wieder ein, wo sie ihre Krone hingelegt hat.
Fräulein Honigohr lächelt. Vielleicht sollte sie einen wöchentlichen Schranktag einführen. Der Montag wird sowieso überbewertet.