Fräulein Honigohr schiebt den Kessel vor den Gemeinschaftsraum. Jetzt fehlt nur noch der perfekte Platz. Sie umrundet suchend einen Ohrensessel und erschrickt fast zu Tode, weil ein alter Mann darin sitzt. Er öffnet erst ein Auge, dann das zweite.
Ein Lächeln breitet sich auf seinem Graubartgesicht aus. »Du? Das freut mich aber!«
»Herrje! Du hast mich erschreckt! Was tust du hier?«
»Keine Umarmung? Kein Lächeln? Oh-oh, du bist immer noch sauer …«
Fräulein Honigohr kraust die Nase und spitzt die Lippen.
Der Graubartmann seufzt. »Na gut. Ich mache Urlaub. Diese alte Geschichte tut mir leid, aber ich bin nicht perfekt, auch, wenn das alle glauben möchten.«
Fräulein Honigohr guckt vorwurfsvoll. »Urlaub? Solltest du nicht arbeiten? Bei dir ist doch jetzt Hochsaison, oder?«
Der alte Mann winkt ab. »Ich muss nur zum Finale da sein. Hier gibt’s drei Mahlzeiten am Tag und keiner quatscht mich mit Wünschen voll. Außerdem ist es schön warm. Wie ich diesen ewigen Schnee hasse! Sind die Nebelschwaden da draußen nicht herrlich?«
»Na ja.« Fräulein Honigohr schaut skeptisch aus dem Fenster.
»Und du? Was tust du hier?«
»Ich bringe nur ein bisschen Wunschpunsch vorbei.«
»Deinen berühmten? Mit Gin?« Der Bart des alten Mannes leuchtet hell-weiß auf.
Fräulein Honigohr schlägt bescheiden die Augen nieder.
»Darf ich probieren?«
Sie nickt, dreht sich um und erstarrt. Auf dem Gang stehen drei alte Frauen, sie haben gefüllte Zahnputzbecher in der Hand und flüstern Wünsche in die Korridorluft. Ein winzig kleines geflügeltes Schwein fliegt Slalom durch die Zimmerpalmen.
»Du könntest mir helfen«, sagt Fräulein Honigohr, »der Kessel ist schwer, und ich würde ihn gern hier reinstellen, bevor er leer ist.«
Der alte Mann springt mit erstaunlich elastischen Bewegungen auf. »Und dann sind wir quitt?«
»Ja.«
Das Minischwein quiekt leise, dann segelt es auf den Flur hinaus. Es gilt, draußen eine Welt zu entdecken.
Schlagwort-Archive: Wunschpunsch
Das Wunschpunsch-Erdbeerschwein
Das kleine geflügelte Schwein raste im Tiefflug durch die Korridore. Soviel Platz! Soviel Freiheit! Es quiekte entzückt und legte noch einen Zahn zu. Im Wunschpunsch war es zwar auch nett gewesen (unendliche Geschichten, kitzelnde Blubberblasen, Honiggeschmack mit Ginaroma), aber es war eben doch nur ein Wunsch unter unendlich vielen anderen gewesen, und es konnte sein Glück kaum fassen, dass tatsächlich jemand beim Trinken kurz an geflügelte Schweine gedacht hatte.
Jetzt war ihm nach Erdbeeren, ganz dringend brauchte es Erdbeeren, und während es an saftige, rote, duftende Erdbeeren dachte, flog es mit Karacho um eine Ecke, landete mitten im weichen Busen von Frau Mackenbrook und blieb stecken. Frau Mackenbrook ächzte überrascht und taumelte zwei Schritte zurück, dann pflückte sie mit spitzen Fingern das geflügelte Schwein aus ihrem BH und hob es vor ihre Augen. „Was haben wir denn da?“ murmelte sie mit zigarettenkratziger Stimme. „Was bist du denn?“
Das geflügelte Schwein quiekte fröhlich: „Ich bin ein Erdbeerschwein! Hast du eine Erdbeere für mich? Bitteeee!“ Es zappelte in Frau Mackenbrooks Hand und schlug ungeduldig mit den Flügeln.
„Ein Erdbeerschwein… du hast Glück, dass mich sowieso alle für verrückt halten.“ Frau Mackenbrook hielt das Schwein unnachgiebig fest. „Erdbeeren willst du? Falsche Jahreszeit, würde ich sagen.“
„Oooch…“ jammerte das Erdbeerschwein und ließ den Rüssel hängen, schniefte ein paarmal und fing an, jämmerlich zu schluchzen. Große, rosa Tränen kullerten ihm aus den Augen.
„Na, na… “ Frau Mackenbrook setzte das Erdbeerschwein auf ihre Handfläche und rieb sich mit der anderen über das kratzige Kinn. „Du musst ja nicht gleich weinen. Lass mich überlegen… Frau Schmidt hat immer Erdbeerlikör im Schrank. Wär das was?“
Das Erdbeerschwein sah mit großen, feuchten Augen hoch in Frau Mackenbrooks Gesicht. „Erdbeerlikör? Was ist das?“
Frau Mackenbrook lächelte versonnen. „Das ist ein Schluck Sommer, in Flaschen abgefüllt.“
„Sommer? Was ist Sommer?“
Frau Mackenbrook schüttelte den Kopf. „Du kennst keinen Sommer?“
„Nö! Ich bin doch erst ein paar Flügelschläge alt!“ quiekte das Erdbeerschwein.
„Na dann – immer mir nach!“ sagte Frau Mackenbrook und bewegte sich langsam den Korridor entlang auf Frau Schmidts Zimmer zu, während das Erdbeerschwein aufgeregt um sie herum Salti flog und dabei „Erdbeeren, Erdbeeeeren, Eeeeerdberen!“ sang.
„Das wird interessant“, murmelte Frau Mackenbrook und lächelte schnaufend, während sie sich am Handlauf festhielt.

29.11. – Advent im Seniorenheim | Adventüden
Der 1. Advent ist da! Und Fräulein Honigohr trifft alte Bekannte.
Fräulein Honigohr schiebt den Kessel vor den Gemeinschaftsraum. Jetzt fehlt nur noch der perfekte Platz. Sie umrundet suchend einen Ohrensessel und erschrickt fast zu Tode, weil ein alter Mann darin sitzt. Er öffnet erst ein Auge, dann das zweite.
Ein Lächeln breitet sich auf seinem Graubartgesicht aus. »Du? Das freut mich aber!«
»Herrje! Du hast mich erschreckt! Was tust du hier?«
»Keine Umarmung? Kein Lächeln? Oh-oh, du bist immer noch sauer …«
Fräulein Honigohr kraust die Nase und spitzt die Lippen.
Der Graubartmann seufzt. »Na gut. Ich mache Urlaub. Diese alte Geschichte tut mir leid, aber ich bin nicht perfekt, auch, wenn das alle glauben möchten.«
Fräulein Honigohr guckt vorwurfsvoll. »Urlaub? Solltest du nicht arbeiten? Bei dir ist doch jetzt Hochsaison, oder?«
Der alte Mann winkt ab. »Ich muss nur zum Finale da sein. Hier gibt’s drei Mahlzeiten am Tag und keiner quatscht mich mit Wünschen voll. Außerdem ist es schön…
Ursprünglichen Post anzeigen 238 weitere Wörter