Essen

In der Küche meiner Kindheit lag ein Wachstuch über der normalen Tagesdecke, weiß mit blauen Blumen war eines davon. Es wurde vor dem Essen aufgelegt und nach dem Essen feucht abgewischt und wieder abgenommen. Es war praktisch, denn alle Flecken und Krümel verschwanden einfach mit dem feuchten Tuch, aber richtig schön fand ich es nie – es klebte an den Unterarmen fest, wenn es warm war oder fühlte sich kalt an im Winter. Mit der Zeit verblassten die Farben und das Tuch bekam Kratzer und dünne Stellen. Irgendwann gab es ein neues, und ich wusste, das würde unsere Familie jetzt ein paar Jahre begleiten.
Die Tradition des Wachstuches habe ich nicht übernommen, meine zwei Tische haben Holzoberflächen, die benutzt werden dürfen, und es liegen höchstens ein paar Tischsets darauf, um die Oberfläche ein bisschen zu entlasten.
Die Wachstücher mochten keine zu heißen Teller oder gar Kochtöpfe auf sich. Sie reagierten beleidigt und warfen Wellen, die nie wieder verschwanden. Meine Mutter konnte sich furchtbar aufregen über so eine Verwerfung, denn es gab extra Untersetzer für Töpfe und Sets für heiße Teller.
Mein absolutes Haßgericht war Sellerie, den es glücklicherweise selten gab. Griesbrei mochte ich auch nicht. Wir mussten unsere Teller nicht unbedingt leer essen, obwohl es ganz gern gesehen wurde, aber wenn es nicht ging, war das nicht schlimm. Schlimm war es aber, zum Essen zu spät zu kommen. Das hatte unangenehme Folgen, von der Gardinenpredigt über den Wutausbruch bis hin zu eisigem Schweigen war alles möglich. War mein Vater nicht pünktlich zum Essen da, oder wir hatten die Zeit vergessen, dann schrie meine Mutter durchaus auch aus der Küchentür in die Nachbarschaft, so dass wirklich alle wussten, dass es JETZT Essen bei uns gab. Meiner Schwester war das jedes Mal unendlich peinlich. Mir nicht, aber es hat mich unter Stress gesetzt, und so kam auch ich zu spät, weil ich die explosive Stimmung am Küchentisch gern vermieden hätte.
Meine Mutter hat gutbürgerlich gekocht, und sie hat sehr gut gekocht, aber nie gern. Kochen war ihre Arbeit und sie hat sie erledigt, aber ich glaube, wenn sie hätte wählen können, hätte sie lieber eine andere Arbeit gehabt. Der Fluch der Nachkriegsgeneration – das Rollenmodell stand.