Ausgelesen: Der Gesang der Flusskrebse. Von Delia Owens.

Ja, doch, die haben schon recht, die begeisterten Rezensenten. Ein gutes Buch. Aber mit kleinen Macken. Kya wächst im Marschland North Carolinas auf und verschmilzt dort fast mit der Natur. Aber sie ist auch ein Mensch und die Einsamkeit kann das Marschland nicht vertreiben, so sehr sie es auch fast als Mutter betrachtet. Zwei Männer treten in ihr Leben, einer davon stirbt und so entwickelt sich ein Gerichtsdrama vor der Kulisse der heißen, schwülen Südstaaten der USA.
Das Buch fängt großartig an. Die Beschreibung der Natur ist so eindrücklich, dass man fast meint, die feuchte, salzgetränkte Luft riechen zu können, und ab und zu habe ich nach einem eingebildeten Moskito geschlagen. Die Lebensgeschichte der Heldin, Kya, ist bildstark und gewaltig erzählt, und ich konnte teilweise kaum glauben, was ich gelesen habe. Wenn beschrieben wird, wie Kya ihr kleines Flachbodenboot durch die Kanäle steuert, Seevögel über ihr fliegen und das Schilfgras raschelt, ist man ganz bei ihr. Auch die kleine Stadt, in der sie ihre Einkäufe erledigen muss, steht fast aus den Seiten des Buches auf. Die Menschen, die ihr begegnen, sind liebevoll gezeichnet, aber nur so weit ausgeführt, wie sie für Kya wichtig sind. Soweit, sogut. Die erste Hälfte des Buches – sagenhaft, wirklich.
Dann gleiten wir in die zweite Hälfte, in der sie zwei Männer kennenlernt, und ab hier wird es etwas zu gefühlig für meinen Geschmack. Ich mag keine Spoiler, daher werde ich ab hier etwas neblig mit meinen Beschreibungen. Die zweite Hälfte des Buches ist spannend, keine Frage, aber auf eine seltsame Art entgleitet mir die Hauptfigur. Ihr Handeln ist nachvollziehbar, aber die enge Verbindung, die die Leserin anfangs zu ihr hatte, verschwindet nach und nach, und in den romantischen Abschnitten waren mir persönlich zuviele sehnsuchtsvolle Blicke enthalten und zuviel Verzögerung. Dafür steigt aber die Spannung zum Ende hin signifikant an, und die Beschreibung des Prozesses ist wieder großartig. Beim Finale bzw. dem Epilog bin ich zwiegespalten. Einerseits hätte ich ihn so nicht gebraucht, andererseits gibt es da aber noch eine Entwicklung, die mich mit vielem wieder versöhnt hat.
Für mich ist es ein sehr lesenswertes Buch allein aufgrund der ersten Hälfte. Großartig. Die zweite Hälfte wechselt ein klein wenig das Genre, wem das gefällt, für den ist es vermutlich ein großartiges Buch im Ganzen. Ich würde es nicht unbedingt sofort als modernen Klassiker bezeichnen, das muss die Zeit zeigen. Aber sehr lesenswert ist es auf jeden Fall, und wer ein Faible für die Südstaaten der USA hat, sollte es auf keinen Fall verpassen.

Ausgelesen, nein, ausgeliebt: Mittagsstunde. Von Dörte Hansen.

Es gibt Bücher, die möchte man nach der letzten Seite nicht aus der Hand legen, man streichelt noch einmal sanft über den Einband, blättert liebevoll durch die Seiten, liest hier erneut einen Satz, dort einen Absatz, dann klappt man es wieder zu und lässt es noch ein Weilchen auf den Beinen liegen und überlegt, wann man das letzte Mal ein dermaßen gutes Buch gelesen hat.
So ein Buch ist das hier. Ich würde am liebsten mit lauter Superlativen um mich werfen, aber das hat dieses Buch gar nicht nötig, es kann gut für sich allein sprechen.
Ingwer Feddersen, 47 Jahre, kommt nach langer Zeit zurück in sein Dorf und zurück zu seinen Großeltern, die am Ende ihres Lebens angekommen sind. Der Dorfkrug, seit Jahrzehnten von Großvater Sönke geführt, steht vor dem Aus, eigentlich ist er schon seit Jahren im Aus, genau wie das ganze Dorf. Wann hat der Wandel begonnen? Mit der Flurbereinigung? Oder mit dem Höfesterben? Oder als Ingwer in die Großstadt zog und seine Großeltern zurückließ? Auf jeden Fall hat er jetzt etwas wiedergutzumachen, und so zieht er zurück in sein Dorf.
Es ist eine Geschichte über Wandel, über Verlust und unwiderbringlich Vergangenes, die mit so großer Wärme erzählt wird, dass ich das Gefühl hatte, hier schreibt jemand über etwas, das er sehr liebt. Gleichzeitig habe ich ständig Parallelen zu meinem Dorf und zu meiner Kindheit gezogen und habe vieles wiedererkannt, die kleinen Höfe mit ihren drei Kühen und der Zuckerrübenhäckselmaschine, die alten Gasthöfe mit ihren kühlen Steinböden und den von unzähligen Tanzschuhen glattpolierten Holzböden, die grauhaarigen Frauen mit Kopftüchern und seltsamen Eigenarten, die immer schwarz gekleidet zum Einkaufen kamen. Und all die alten Geschichten aus dem Dorf, die jeder kannte, und die von Generation zu Generation weitererzählt wurden, von Ehebruch und untergeschobenen Kindern, von Kämpfen um Weideland, Auswanderungen und Nothochzeiten. Heute gibt es solche Geschichten nicht mehr, sie haben sich verändert, heute geht es um anderes.
Mittagsstunde erzählt die Geschichte eines Dorfes anhand mehrerer Menschenleben, nicht linear, sondern hin und her schaukelnd, die Sichtweisen ändernd, je nachdem, bei wem man gerade im Kopf ist und zuhört. Und ab und zu kommt das Dorf selbst zu Wort, nicht als Person, sondern als Konstrukt, als eine Ansammlung von Menschen mit ihren verschiedenen Lebenswegen. All das wird sehr liebevoll betrachtet, keine Spur von Herablassung ist zu finden, und die norddeutsche Tiefebene mit ihren schweren Regenschauern, hellblauen Sommern und goldgelben Strohballen taucht vor einem auf, so klar und lebendig, dass man meint, das Stroh und die Kühe riechen zu können. Von Anfang an ist klar, etwas geht gerade zu Ende, und es gibt nichts, was das aufhalten könnte, aber auf eine melancholische Art und Weise ist das in Ordnung, denn es wird etwas Neues kommen, was immer das sein wird. Als kleine helle Fackel zum Schluß gibt es eine Art von Neuanfang, und dann klappt man das Buch zu, seufzt leise und denkt noch einmal an Meta Anna zurück, bei der man Brausebonbons für zwei Pfennig das Stück kaufen konnte, und an das Kartoffelausbuddeln mit Pflaumenkuchen mit Schlagsahne von Oma. All das ist auch dahin, es wird nicht zurückkommen. Aber es war da. Und das ist traurig und wunderbar zugleich.

Ausgelesen: Die Verschwundenen vom Mondscheinpalast. Von Christelle Dabos.

Kleine Notiz an mich: Ja, auch zweite Bände einer Trilogie können großartig sein! So geschehen bei diesem Buch. Von Band eins war ich sehr angetan, aber bei Trilogien habe ich oft ein wenig Angst vor Band zwei, oft ist es nämlich nur das in die Länge gezogene Bindeglied zwischen Anfang und Ende. Natürlich ist dieser Band hier auch ein Bindeglied zwischen Anfang und Ende, aber was für eins! Da macht es doch Freude, ein Bindeglied zu lesen! Die Heldin Ophelia arbeitet nun als Vize-Erzählerin am Hof und hofft, sich endlich etwas ausruhen zu können, aber da hat sie sich getäuscht (zum Glück für alle Leserinnen und Leser): Als da sind: Sanduhren, Illusionen, der Pol, Archen, scheinbar verrückte Herrscher, eine eigenwillige, starke Heldin und eine sehr schöne, zurückhaltend erzählte Liebesgeschichte.
Mir hat es wirklich Freude bereitet, dieses Buch zu lesen. Band drei habe ich mittlerweile auch schon durch, er war großartig, ein fulminanter Abschluß, sprühend vor wahnsinnigen Ideen und Handlungswendungen, bei denen einem schwindlig wurde, aber ich werde ihn nicht mehr rezensieren, denn Trilogien sind ja eigentlich ein einziges, sehr, sehr langes Buch. Da muss eine Rezension eigentlich ausreichen. In diesem Fall gab es nun zwei, weil die Bücher wirklich sehr empfehlenswert sind für jeden, der Fantasy mag: Leuchttürme in der weiten Fantasy-Buch-Welt.

Ausgelesen: Crazy Rich Asians. Von Kevin Kwan.

Rachel ist verliebt in Nick und Nick ist verliebt in Rachel, beide leben glücklich und zufrieden in New York. Soweit ist alles gut, aber dann will Nick Rachel seiner Familie vorstellen, die in Singapur lebt. Es stellt sich heraus, dass Nicks Familie reich ist, sehr, sehr reich, verrückt reich, und dummerweise auch mit allerlei Marotten ausgestattet ist. Wenn alles möglich ist, was macht man damit? Ist man glücklicher, sorgenfreier, unbeschwerter? Nun ja. Einerseits schon. Andererseit sind auch sehr, sehr reiche Menschen nur Menschen, und wer keine Probleme hat, macht sich welche. Und so beginnt ein doppelbödiges Intrigenspiel, in dem jeder seine Ziele verfolgt und während Märchenhochzeiten geplant werden, fliegt man kurz nach Paris oder Hongkong, um shoppen zu gehen.
Ich habe das Buch mit großem Vergnügen gelesen, hatte immer mal wieder kurz Schnappatmung, weil das Verhalten der Buchprotagonisten tatsächlich so unglaublich ist, dass man es kaum glauben kann. Geheime Häuser in öffentlichen Parks, quasi nichtexistente Superreiche, die dafür sorgen, dass sie niemals irgendwo in der Öffentlichkeit erwähnt werden, weil ihnen die Zeitungen, Fernsehsender und halb auch die Regierungen gehören, Junggesellinnenpartys mit verschenkter Designermode frisch vom Laufsteg, um die sich fast geprügelt wird, und dazwischen Rachel als Hauptfigur, der dauernd der Mund offenstehen bleibt. Unfassbar, das alles, doch die Realität soll noch viel ausufernder sein. Band zwei und drei habe ich ebenfalls gelesen und auch die waren gut, aber Band eins ist wirklich empfehlenswert, der Aha-Effekt macht wirklich großen Spaß. Nebenbei lernt man auch noch viel über Singapur und die asiatische Welt. Also über die gehobene asiatische Welt. Der kleine Mann (oder die kleine Frau) kommt im Buch eher nicht vor.
Die Verfilmung kann ich nicht empfehlen, von all der Ironie, dem Sarkasmus und den kleinen Bösartigkeiten bleibt dort nicht viel übrig, die Geschichte wird zur Liebeskomödie eingestampft. Allerdings: Wer gut aussehende Menschen in einer Liebeskomödie mag, der sollte sich den Film doch ansehen. 😉

Ausgelesen: Gute Geister. Von Kathryn Stockett.

Zu diesem Buch brauche ich eigentlich nichts mehr zu schreiben, es ist so oft besprochen worden, begeistert gelobt und verfilmt worden, das spricht für sich. Aber trotzdem: Man kann es gar nicht oft genug empfehlen. Lest es, Leute! Es ist wunderbar geschrieben, spannender als jeder Krimi, der Inhalt verschlägt einem den Atem und nach der Lektüre weiß man ganz genau, warum jede Rassendiskriminierung ausgemerzt gehört. Und warum jeder Mensch jede Toilette auf dieser Welt benutzen müssen darf.
Den Film dazu kann ich ebenfalls sehr empfehlen, die Verfilmung ist großartig, hält sich sehr eng ans Buch (was gäbe es da auch zu verbessern) und die Schauspielerinnen sind einfach nur gut.

Ausgelesen: Was man von hier aus sehen kann. Von Mariana Leky.

Dieses Buch bekam ich geschenkt; selbst hätte ich es mir vermutlich nicht gekauft. Und dann auch noch als Hardcover! Luxus!
Die Geschichte spielt in einem Dorf im Westerwald, alles ist hier ein klein wenig anders als anderswo, andersartiger, netter, bunter, seltsamer. Die Menschen haben Charakter, manchmal vielleicht ein bisschen zuviel davon. Ein Okapi spielt eine nachdrückliche Rolle, ein Haus entwickelt ebenfalls Charakter und Fußfallen, und eine Liebesgeschichte geht seltsame Wege.
Die Sprache des Buches mochte ich sehr, ein bisschen versponnen, leicht, als ob die Erzählerin das Buch träumt, aber geerdet träumt. Jaja, das ist schwierig zu verstehen, aber beschreiben Sie mal einen Erzählstil! Trotzdem bin ich mit dem Buch nicht komplett eins geworden, da blieb eine kleine Trennung. Warum? Vielleicht war es streckenweise zu seltsam, das alles. Das Ende hat mir dann aber wieder sehr gefallen. Ein nettes Buch aus der Richtung leicht gehobene Literatur.

Ausgelesen: Der Zopf. Von Laetitia Colombani.

Dieses Buch habe ich überall in den Buchhandlungen herumliegen sehen und es wurde sogar kurz in meinem Schreibkurs angesprochen. Dann bekam ich es ausgeliehen.

Die Inhaltsangabe des Verlags:

„Die Lebenswege von Smita, Giulia und Sarah könnten unterschiedlicher nicht sein. In Indien setzt Smita alles daran, damit ihre Tochter lesen und schreiben lernt. In Sizilien entdeckt Giulia nach dem Unfall ihres Vaters, dass das Familienunternehmen, die letzte Perückenfabrik Palermos, ruiniert ist. Und in Montreal soll die erfolgreiche Anwältin Sarah Partnerin der Kanzlei werden, da erfährt sie von ihrer schweren Erkrankung.
Ergreifend und kunstvoll flicht Laetitia Colombani aus den drei außergewöhnlichen Geschichten einen prachtvollen Zopf.“

Tja. Was soll ich sagen? Meins war´s nicht. Ich fand die drei Geschichten jede für sich nicht schlecht, wenn sie auch ziemlich gestrafft und mit wenig Zeit für die einzelnen Figuren geschrieben wurden. Das zusammenflechten der Geschichten gefiel mir nicht, der Faden, der alles verbindet, ist mir zu dünn. Es hat sich mir nicht erschlossen, was genau der Reiz daran sein soll, einen zerhackten Text zu lesen, der nur dadurch zusammengehalten wird, dass alle drei Protagonistinnen Frauen sind und sich die Haare teilen. Das scheinen Millionen Leser anders zu sehen, aber man soll ja zu seinem eigenen Standpunkt stehen. Was ich hiermit tue. Viel Freude allen anderen, die das Buch lesen und es mögen.

Ausgelesen: Die vielen Leben des Harry August. Von Claire North.

Was würdest du tun, wenn du dein Leben nicht einmal, sondern viele Male leben würdest? Harry August lebt in einer Zeitschleife, er wird nach seinem Tod erneut geboren, im selben Jahr, im selben Leben, aber mit wachsenden Erinnerungen, denn er vergisst nichts. Dann erreicht ihn ein Hilferuf aus der Zukunft: Die Welt wird untergehen, was unvermeidlich ist, aber es wird viel früher als erwartet geschehen.

Das Buch ist brillant geschrieben, soviel zu Anfang. Es wird (um gleich im Zeitreisemodus zu bleiben) auf jeden Fall am Ende des Jahres zu meinen Lesehöhepunkten gehören. Die Autorin Claire North hat einen Mix aus SciFi und Fantasy geschrieben, bleibt aber wunderbarerweise weitab von allen gängigen Klischees, was eine Wohltat für die Leserin/den Leser ist. Es breitet sich eine intelligente, klug konstruierte Geschichte vor dem staunenden Leser aus. Der Protagonist erzählt uns seine Geschichte im Rückblick, der rote Faden ist erkennbar, wird jedoch in vielen Wirbeln erzählt, die einem anfangs etwas Geduld abverlangen, die sich aber mehr als auszahlt. Außerdem sind die Wirbel auch noch sehr unterhaltsam geschrieben, so dass die Abstecher vom roten Faden mit zunehmenden gelesenen Seiten immer mehr Freude machen. Ich zumindest fand die abnehmende Anzahl der noch zu lesenden Seiten immer beunruhigender, je weiter ich mich dem Ende näherte, in dem es um nichts geringeres als die Rettung der Welt geht. Zumindest vorläufig.

Neben dem vielen Klein-Klein des Alltags, das durchaus auch Erwähnung findet, geht es in vielen Passagen um philosophische, ethische und politische Fragen, die sich unweigerlich stellen, wenn man viele Leben lang Zeit und die Möglichkeiten hat, etwas zu ändern. Darf man wissenschaftliche Entdeckungen anstoßen, bevor ihre Zeit von selbst gekommen ist? Darf man jemanden töten, weil er sonst viele andere töten wird? Kann man Kriege verhindern und wenn ja, darf man? Diese für einen Roman eher unverdaulichen Fragen werden elegant und ohne zu stolpern in der Handlung versteckt. Sie tauchen immer wieder einmal auf, manchmal scheint es Antworten zu geben, manchmal nicht, und der Leser saugt das alles fasziniert in sich auf, berauscht von all diesen Möglichkeiten!

Und wenn man viele Möglichkeiten hat, sehr viele, erledigt sich die Frage nach der einen, leidenschaftlichen Liebe zumindest für diese Autorin von selbst, außer, sie hätte ein sehr langweiliges Buch schreiben wollen: Was sollte darin passieren, außer, dass der Protagonist in jedem Leben wieder seine eine Liebe sucht, findet, heiratet und alles von vorn beginnt? Das passiert in diesem Buch nicht. Harry verliebt sich und heiratet, ja, durchaus, aber die Beziehung, um die es in diesem Buch wirklich geht, ist die Feindschaft/Freundschaft mit einem anderen Zeitschleifenbewohner, wie uns schon die Einleitung ganz vorn im Buch verrät. Widersprüchlich, ambivalent, nie ist wirklich abschließend sicher, wie die beiden zueinander stehen: Sie lieben und hassen sich, vertrauen einander nie wirklich, können aber auch nicht ohne einander. Die großen Fragen (Ethik, Verantwortung, Schuld) trennen sie voneinander, bringen sie aber auch immer wieder zusammen. Der Schauplatz dieser vielschichtigen Beziehung ist das 20. Jahrhundert von etwa 1920 bis etwa 2000, je nachdem, wann Harry in seinen jeweiligen Leben stirbt. Dazu kommt die Vergangenheit und das Raunen aus der Zukunft, wenn die Zeitschleifenreisenden (denn es gibt mehr von ihnen) Nachrichten von Jung zu Alt zurück in die Zeit schicken.

Das alles ist intelligent zusammengesetzt und in einem angenehmen, eloquenten Schreibstil verfasst, der mich schon auf den ersten Seiten überzeugt hat. Ich wage mich nicht zu fragen, wie lange es wohl gedauert hat, bis die Autorin ihren ersten Entwurf dieser logischen, verschachtelten, hochkomplexen Zeitreisegeschichte fertig hatte. Ich hätte vermutlich graue Haare bekommen nur beim Gedanken daran. Der Roman hat den John W. Campbell Memorial Award 2015 gewonnen und stand auf der Shortlist des Arthur C. Clarke Awards, und das völlig zu Recht. Große Empfehlung!

Ausgelesen: Die Unvollendete. Von Kate Atkinson.

Dieses Buch traf mich völlig unvorbereitet. Ich bekam es geschenkt, meine Vorleserin mochte das Buch nicht, hatte aber Hoffnung, dass es vielleicht mir gefallen könnte. Hat es. Sehr. Die ersten Seiten waren allerdings schwierig. Als Prolog wird auf anderthalb Seiten ein Attentat auf Hitler verübt, auf den nächsten Seiten wird eine Geburt beschrieben, bei der das Kind stirbt. Wieder einige Seiten weiter wird wieder dieselbe Geburt beschrieben, dieses Mal überlebt das Kind. Allerdings nicht sehr lange, ein Unfall geschieht und wieder sind wir bei der Geburt im Schnee, und so langsam wird einem klar, dass wir uns in diesem Buch wohl mit Zeitschleifen beschäftigen werden. Und richtig. Das ganze Buch ist eine einzige Zeitschleife, Ursula Todd wird jedes Mal wiedergeboren, wenn sie stirbt, und sie stirbt ziemlich oft: Bei der Geburt, sie fällt vom Dach, ertrinkt, begeht Selbstmord, kommt im Krieg ums Leben.

Nun könnte man ja denken, was, und jedes Mal geht wieder alles von vorne los? Ja! Das tut es, aber jedes Mal verändert sich eine Winzigkeit und das gesamte Leben verläuft in anderen Bahnen. Dabei wiederholen sich nicht jedes Mal komplette Abschnitte, nur einige sind gleich oder werden mit Veränderungen erneut erzählt und dabei aus anderen Perspektiven oder mit anderen Schwerpunkten betrachtet. Nach und nach ergibt sich aus diesen scheinbaren Wiederholungen und Betrachtungen ein komplexes Bild des Lebens einer britischen Familie des gehobenen Mittelstands im Zeitraum 1910 bis etwa 1950, alles, was danach kommt, sind nur einzelne Handlungsstränge, die nicht mehr wiederholt werden und demzufolge linear, nur noch aus einer Sichtweise, und damit weniger komplex erzählt werden. Der Anfang des Buches ist ein bisschen zäh, aber wenn man sich da durchgearbeitet hat, belohnt einen die Geschichte mit der Faszination über ein Leben, das jedes Mal gleich beginnt, dann jedes Mal andere Lebenswege beschreitet und dabei das Umfeld immer besser und heller beleuchtet.

Mich hat es nicht gestört, dass dieses Buch fast gar nicht linear erzählt wird. Es hat mir gereicht, dass die Hauptperson, Ursula, immer dieselbe bleibt, und dass ihre Familienmitglieder ebenfalls große Rollen in ihren verschiedenen Leben spielen. Faszinierend war für mich, wie sich die Entscheidungen, die Ursula trifft, auch auf ihre Familie auswirken, und so weiß man nie, was und wer sich wie entwickeln wird. Einzelne Handlungsstränge fand ich sehr gewöhnungsbedürftig, andere überraschend, bei einigen habe ich gelitten, andere haben mich gefreut. Die Art und Weise, wie die Ebenen aufeinander aufgebaut sind, welche öfter auftauchen und vom Leser fast schon freudig begrüßt werden, während andere einfach wegfallen und von einer neuen Ebene überdeckt werden, ist hervorragend geschrieben. Gleichzeitig ist das aber auch ein Schwachpunkt des Buches: Wer gerne geradlinig erzählte Geschichten liest, wird hier Schwierigkeiten haben. Aufgrund der Erzählstruktur des Textes gibt es keine Rückblenden, was ich sehr wohltuend finde, weil sie mir in den meisten Fällen nicht gefallen. Rückblenden sind hier Neuanfänge, und im Gegensatz zu anderen Büchern weiß man nicht, wo die Reise hingeht.

Auch wohltuend und sehr geschickt ist, dass die Hauptfigur, Ursula, sich nicht vollständig bewusst darüber ist, dass sie immer wieder von vorne anfängt. Sie hat lediglich Ahnungen (wobei ich hier ausdrücklich darauf verzichte, das Wort in Anführungszeichen zu setzen) oder Ängste und ändert deswegen ihr Verhalten. Das gesamte Thema Wiedergeburt ist kein Thema, es passiert einfach ohne jede Erklärung, und wenn die Leserin oder der Leser das akzeptiert hat, kann man gut damit leben und lesen. Zum Schluss hin steigert sich das Tempo etwas und die Leserin ahnt, dass Ursula nun vielleicht doch etwas begriffen hat, aber auch hier sind Erklärungen oder klare Worte Mangelware. Das tut dem Buch sehr gut. Eine allgemeine Inhaltsangabe ist schwierig, im Großen und Ganzen könnte man sagen, es ist eine Geschichte über eine Familie in Zeiten großer Umbrüche und zweier Weltkriege, wobei die Geschichte  allerdings immer wieder andere Wege nimmt. Dazu kommt die Zeitschleifen-Thematik. Am Ende fragt man sich, ob es ein Ende gibt, und ob man für sich selbst so etwas wollen würde. In meinem Fall: Danke, nein.

Über die wirklich faszinierenden Zeitschleifen habe ich mich lang und breit ausgelassen, aber auch der Schreibstil verdient eine Erwähnung. Das Buch plaudert, verliert ab und zu seine typisch britische Gelassenheit, um dann wieder dahin zurückzufinden und von vorn zu beginnen. Mir hat der Schreibstil sehr gut gefallen, allerdings muss man sich auch darauf einlassen: Ein lakonischer, leicht ironischer Abstand bleibt zu den Figuren bestehen, aber im Zusammenhang mit den Zeitschleifen entstand für mich aus beidem ein Sog, dem ich mich spätestens nach dem ersten Viertel des Buches nicht mehr entziehen konnte. Man kann es nicht einfach weglesen, ein bisschen Zeit braucht man für Die Unvollendete, aber das ist angemessen. Für mich war es eine unerwartete, faszinierende Überraschung, und wer Zeiträtsel und lange Romane mag, sollte es auf jeden Fall ausprobieren.

Ausgelesen: Der Glanz eines neuen Tages. Von Lucy Dillon.

Es gibt Bücher, die sind nicht tauglich für intellektuelle Streitgespräche. Sie bringen einem keinerlei Punkte auf dem Anerkennungs-Gradmesser für schwierige Literatur. Fantasyfreunden fehlen die Drachen, Krimifans finden sie unfassbar langweilig, die Ich-liebe-dich-mehr-als-mein-Leben-Liebesroman-Leser suchen vergebens nach den atemlossüchtig machenden Szenen. Sachbuch-Leser wollen wir an dieser Stelle lieber nicht erwähnen, vermutlich würden sie nur indigniert eine Augenbraue hochziehen. Und trotzdem: Ich mag die Bücher von Lucy Dillon. Sie treffen irgendeinen Nerv in mir, der behaglich schnurrt, sobald ich eines ihrer Bücher aufschlage. In der Regel passiert dort nichts besonders aufregendes, die Figuren leben ihr Leben, sind meist an einer Umbruchstelle, von der aus es in einer neuen Richtung weitergeht, und es kommen keine Popstars, keine Millionäre und keine Elfen vor. Dafür aber sehr menschliche Menschen mit kleinen Macken und Fehlern, die sich bemühen, zurechtzukommen und sich oft durch Hundebegleiter weiterentwickeln.

Was zieht mich so sehr zu diesen Büchern? Vielleicht ist es die tiefe Liebe zu Tieren, speziell Hunden, die überall durchscheint? Vielleicht auch die pure Nettigkeit ihrer Hauptfiguren? Oder die (ich traue mich fast nicht, es zu schreiben) Güte, die ihre Bücher ausstrahlen, wenn es um schwierige Lebenssituationen geht? Was auch immer es ist, ich fühle mich in der Regel während und nach einem Buch von Lucy Dillon besser als ohne. Und das ist ein ziemlich großes Lob.

In diesem Buch geht es um Lebensträume, die verwirklicht werden wollen, um lebensnahe Kunst weitab von großstädtischen Kunstzentren, um Einsamkeit im Alter, abgebrochene Lebenslinien, Abschiede, viel Menschlichkeit und Mitgefühl und um die Schwierigkeiten, die aus allem entstehen und doch überwunden werden können. Ein kleines bisschen Liebe ist auch im Spiel, aber eine Hauptrolle spielt sie nicht.

Wenn man also einen Eiskaffee mit viel Vanilleeis zuhause hat und dieses Buch, werden die nächsten zwei bis drei Stunden ziemlich angenehm sein. Wenn es nach mir geht, zumindest. 🙂