„Warum ist das Frühstück nochmal die schönste aller Mahlzeiten?“ fragt Oink und isst schmatzend eine Erdbeere. „Tja. Was meinst du?“ sage ich und nehme einen Schluck Tee, während die Mauersegler über uns hinweg zischen, eine kleine Biene in den Schnittlauchblüten schwelgt und zwei Marienkäfer versuchen, einen Ausweg aus dem Sonnenschirm zu finden. „Weil man besonders viel Hunger hat am Morgen?“ fragt Oink und weicht einer Ameise aus. „Vielleicht“, sage ich und köpfe mein Frühstücksei. Eine warme Brise streichelt mir über die Arme. „Oder weil der Tag noch vor einem liegt?“ fragt Oink. „Könnte sein“, sage ich und streue Salz über das perfekt gekochte gelbe Dotter. „Nein!“ ruft Oink, „ich hab´s! Weil du ungestraft Schokocreme essen darfst!“ „Ab-so-lut!“ sage ich und betrachte liebevoll das Glas mit Schokocreme. Auch, wenn ich heute lieber Zitronenmarmelade essen werde.
„Das ist ganz schön braun hier, oder?“ fragt Oink. Ich versuche, nirgendwohin zu gucken, während ich meine Zähne putze. „Stimmt“, nuschle ich. „Sogar die Vorhänge“, stellt Oink fest. Ich nicke. „Und dunkel ist es auch. Bis auf die Lampen. Die sind SEHR hell“, sagt Oink und blinzelt in die Scheinwerferlampen. Ich nicke und gucke in den Spiegel. Mist. Viel zuviel zu sehen. „Vielleicht mögen die hier Karamell“, sagt Oink. Ich schürze die Lippen. „Und Schokolade. Darum ist es auch so warm hier. Das liegt gar nicht an der Heizung! Die mögen heiße Schokolade mit Karamell!“ Oink hopst auf der Spiegelablage herum. „Und das wollen sie schon vor dem Frühstück!“ Ich starre ihn an. Naja. Dann gucke ich auf die karamellfarbenen Fliesen, die hellbraune Dusche und die goldbraunen Vorhänge. Warum nicht? „Lass uns frühstücken gehen“, sage ich. „Gibt es Kakao?“ fragt Oink.
Ich streue Zucker auf den Cappuccinoschaum, rühre vorsichtig nur in der Mitte um und tauche mit dem Löffel in die Schaumschicht ein. Oink guckt mir interessiert zu. Zucker und Schaum vermischen sich köstlich knirschend mit mildbitterem Aroma im Mund. „Was ist eigentlich unter dem Schaum?“ fragt Oink. Ich schiebe noch mehr Knusperschaum auf den Löffel und überlege. „Was denkst du denn?“ frage ich zurück. Oink reckt seine Nase über den Tassenrand und schnuppert. „Ich glaube, da drin lebt ein Cappuccinofrosch, der es gern heiß und dunkel mag, und dann kommt die Milch dazu, die er überhaupt nicht mag. Er strampelt und strampelt um die Milch loszuwerden, macht immer mehr Schaum und zum Schluß springt er empört aus der Tasse, wenn du gerade nicht hinsiehst. Und dann kommst du, machst Zucker drauf und trinkst das.“ Er sieht mich erwartungsvoll an. Mir schwirren Wörter wie „Kaffeebohne“, „Wasser“ und „Koffein“ im Kopf herum, als ich in meinen Cappuccinofroschbecher gucke. Dann nehme ich noch einen Löffel Milchschaum und antworte: „Du hast absolut recht.“
Oink starrt hypnotisiert auf die Erdbeeren. „Wie können die denn nur so rot sein und so riechen?“ fragt er fasziniert. „Pfoten weg!“ sage ich streng, „die sind für nachher.“ Oink schnuppert Erdbeerduft. „Nachher, nachher… was, wenn es kein Nachher mehr gibt?“ Ich versuche, weiter streng zu gucken, aber es ist schwierig. „Und die gibt es nur im Sommer?“ fragt Oink und versucht, sich in einer Erdbeere zu spiegeln. „Ja. Und im Frühling, wenn die Beete mit schwarzer Folie abgedeckt werden“, erläutere ich, aber Oink hört schon nicht mehr zu. „Sommer… was ist das?“ fragt er. „Oh!“ sage ich und überlege. „Sommer… das sind Erdbeeren und Wassermelonen, morgens vor dem Wecker von der Sonne geweckt werden, abends jede Menge fiese Mücken, vor allem, wenn man noch auf dem Balkon sitzen will, morgens mit kalten Füßen in Sandalen zur Arbeit gehen, den Bäumen beim Rauschen zuhören, im Regen schwimmen gehen, Sonnenbrand kriegen, obwohl das mittlerweile bei Todesstrafe verboten ist, in der Mittagspause auf Bänken sitzen und viel Fahrrad fahren.“ Ich mache eine Pause. „Mehr fällt mir gerade nicht ein.“ „Machen wir das auch alles?“ fragt Oink mit schiefgelegtem Kopf. „Klar“, sage ich. Oink strahlt, dann schielt er auf die Erdbeeren. „Jaja“, sage ich, „nimm dir ruhig eine.“ „Eine ist keine!“ ruft Oink und angelt nach der dicksten Erdbeere, die er fassen kann. Ich seufze. Mit meinen eigenen Waffen geschlagen. Ich sollte wirklich mehr darauf achten, was ich vor mich hin rede, wenn angeblich keiner zuhört.
Oink starrt nach vorn in die Wolken. „Das ist also der Horizont?“ fragt er andächtig. Ich nicke. „Das ist aber… groß“, sagt er. „So viel leere Luft! Wo sind denn all die Häuser?“ „Hier gibt´s keine. Zum Glück“, sage ich. „Warum zum Glück? Magst du keine Häuser? Du wohnst doch in einem?“ „Schon“, sage ich, „aber manchmal werden sie mir zu eng.“ Oink starrt auf die Wolken, die sich ineinanderschieben. „Wie meinst du das?“ Ich atme tief ein. „Dann sind da zuviele Mauern, zuviele Autos, zuviele Fenster, es ist alles vielzuviel und vielzueng. Dann brauche ich viel Himmel und viel Platz, damit das Gefühl wieder verschwindet.“ „Aha“, sagt Oink. Er guckt sich um. „Aber ein bisschen einsam ist es hier schon, oder? So ganz ohne andere?“ „Ich bleibe ja nicht lange“, sage ich, „und du bist doch da.“ „Das stimmt!“ sagt Oink. Dann guckt er nach vorn auf den drohenden, grauen Wolkenstreifen am Horizont. „Wollen wir noch ein bisschen bleiben und zugucken? Das sieht so lebendig aus da hinten!“ Ich nicke. Es ist lebendig und wild da hinten. Wunderschön.
„Was macht ihr da?“ fragt Oink neugierig. „Wir spielen Carcassonne“, sage ich. Oink marschiert aufs Spielfeld. „Wie geht das?“ „Man baut Städte und Wiesen und Straßen, dann setzt man Bewohner in die Städte und Bauern auf die Wiesen und Bauleute auf die Straßen, und wer die größten Städte und Wiesen und die längsten Straßen hat, gewinnt“, erkläre ich. „Aha“, sagt Oink. Er guckt nachdenklich. „Kann ich mitspielen?“ „Klar. Wir sind aber schon mittendrin“, sage ich. „Macht nichts“, sagt Oink. „Sag mal, die Bauern, das sind doch die, die ganz viele Schweine haben, oder?“ Ich wiege den Kopf. „Manche“, sage ich. Oink nickt. „Bin ich dran?“ fragt er. „Ja.“ Oink spaziert los und schiebt alle Bauern von allen Wiesen auf einen Haufen. „He!“ rufe ich entrüstet, „was soll das?“ Meine Mitspielerinnen gucken verzweifelt. Ihre Bauern haben besser gelegen als meine. Oink schnauft angestrengt, als er den letzten Bauern zum Haufen schiebt. „Guck!“ Er lacht begeistert. „Das Schwein -das bin ich- hat ziemlich viele Bauern!“ Ich lege den Kopf in die Hände. Meine Mitspielerinnen lachen. Oink grunzt fröhlich vor sich hin. Soviel zu Carcassonne mit meinem Mitbewohner. Regeln? Pffff.
„Warum sagt er nichts? Ist er stumm?“ fragt Oink besorgt. „Er kann nichts sagen. Er lebt nicht“, sage ich. „Aber… warum nicht? Er sieht doch lebendig aus!“ „Tja“, sage ich, „das heißt noch lange nichts.“ Oink sieht dem Schneemann ins Gesicht. „Komisch… er ist ein bisschen wie ich, aber dann wieder überhaupt nicht wie ich. Bist du sicher, das ich lebe?“ „Du? Du kamst aus dem Briefumschlag und das erste, was du gesagt hast, war ‚Oink!‘ und ‚wo bin ich?‘ Du bist sehr lebendig.“ „Ich kam aus einem Briefumschlag?“ fragt Oink zweifelnd. „Ja“, sage ich, „und es gibt Gerüchte, dass du von noch sehr viel weiter weg bist.“ „Echt?“ Von wo denn?“ „Nepal“, sage ich. Oink wackelt mit den Ohren. „Daran kann ich mich nicht erinnern. Das allererste, an das ich mich erinnere, ist mein erstes Frühstücksei bei dir.“ „Tja“, sage ich, „trotzdem, stell dir vor, deine Ohren haben vielleicht schon in nepalesischem Wind geflattert! So weit weg war ich noch nie.“ „Hm“, sagt Oink. Er sieht nicht überzeugt aus. „Und der Schneemann? Warum lebt der nicht?“ „Ich habe keine Ahnung“, sage ich. Oink stupst den Schneemann ein letztes Mal an, dann seufzt er. „Das Lebendigsein ist manchmal komisch verteilt, findest du nicht?“
Oink sieht nachdenklich aus heute morgen. Ich trinke meinen Tee und warte.
„Wusstest du, dass Wildlederschuhe besonders anfällig für Schneeränder sind?“ fragt er schließlich nach einer langen Pause. Ich schüttele den Kopf. „Und das Stiefel meistens zuerst am Reissverschluss kaputt gehen?“ Ich nicke. Oink seufzt. „Ich trage nicht mal Schuhe,“ sagt er, „und sie hat nur über Schuhe geredet.“ Er blickt hoch zu mir. „Ich höre mir gern was über Schuhe an, echt, aber den ganzen Abend?“ Ich nicke. „Nicht einfach, das, was?“ frage ich. Oink wackelt mit den Ohren und beugt sich in meine Richtung. „Es war… langweilig!“ Das letzte Wort flüstert er. „Dabei hat sie so schöne Borsten!“ „Vielleicht solltest du berücksichtigen, dass sie meine Schuhbürste ist,“ sage ich, „da liegt das Thema Schuhe nicht weit.“ „Hm,“ macht Oink. Dann grinst er. „Ich weiß jetzt, dass dein Schuhgeschmack in den letzten Jahren nachgelassen hat, und das du früher experimentierfreudiger warst. Stimmt das?“ „Was?“ frage ich entrüstet, „hat sie das echt gesagt?“ Oink nickt. „Hm. Naja,“ sage ich, „möglicherweise war ich früher öfter in der Stadt… da sieht man mehr…“ ich gucke hoch. Oink sieht mich mit großen Augen an. „Ok, ok,“ sage ich, „beim nächsten Mal nehme ich dich mit.“ Oink grinst und hüpft auf das Frühstücksei.
„Also,“ sage ich und schneide mein Brötchen auf, „das mit dir und deiner Verabredung wird also nichts ernstes?“ „Doch!“ sagt Oink mit Nachdruck, „wir sind jetzt befreundet, und ich kann sie immer fragen, wenn ich etwas über Schuhe wissen muss. Meine erste Freundin!“ sagt er andächtig. „Nur abends Sterne gucken, das machen wir nicht mehr, das passt irgendwie nicht.“ Ich nicke. „Meine Wohnung ist groß“, sage ich, „wer weiß, wer sich hier noch alles herumtreibt.“ Und dann frühstücken wir.
Oink ist hin und weg. „Hast du ihre Haare gesehen? Diese Borsten!“ Er lächelt selig und guckt mich verträumt an. „Ähm…“ sage ich. „Und diese Rundungen! Ohhh… sie ist perfekt!“ Oinks rosa wird noch etwas rosaner. Ich räuspere mich. „Und wie sie ihre Borsten trägt! So natürlich! Sie glänzen wie… wie…“ Er blickt sinnend vor sich hin. „Wie Honig?“ „Ja! Genau!“ Er lächelt und sieht etwas, was ich nicht sehe. „Du, also, weisst du…“ Ich verstumme. Wie sage ich es ihm? Seine Angebetete ist meine Schuhbürste, und ich glaube, sie hat keine Ahnung, dass ihre Borsten verehrt werden. Sie ist einfach nur eine Schuhbürste. Oinks sind selten auf dieser Welt. „Weisst du was?“ Oink balanciert vor Aufregung auf den Zehenspitzen. Er hat mir nicht zugehört. „Was denn?“ frage ich höflich nach und bin dankbar für die drei Sekunden Aufschiebezeit. „Ich habe sie gefragt, ob sie heute abend mit mir den Schnee angucken will!“ „Oh!“ sage ich. „Und weisst du was?“ Oink hüpft jetzt auf und ab. Ich gucke fragend. „Sie hat ja gesagt!“ Er strahlt über beide Backen. „Ach!“ sage ich. „Darf ich heute abend dein Fensterbrett haben?“ Oink guckt flehend. „Ja, äh, klar“, sage ich überrumpelt. „Super, danke!“ ruft Oink und hüpft davon. „Ich muss mich hübsch machen!“ Ich gucke ihm hinterher. Ich muss noch sehr viel lernen auf dieser Welt, das steht fest.
„Brrrr, ist mir kalt!“ schimpfe ich und bewege unbehaglich meine eisigen Zehen. Oink hüpft durch den Schnee. „Ist dir nicht kalt?“ frage ich ihn. Er bleibt stehen und wackelt mit den Ohren. „Was ist kalt?“ „Oh“, sage ich. „Also, das ist, wenn du deine Hände und Füße nicht richtig spürst und so ein taubes, stechendes Gefühl in ihnen hast. Und wenn du zittert. Und Gänsehaut hast. Und wenn deine Haut sich gern nach innen ziehen würde, das aber nicht kann.“ Oink schüttelt den Kopf. Er sieht beunruhigt aus. „Das kenne ich nicht. Ist das schlecht, wenn ich das nicht kenne? Nur das mit der Haut, das hatte ich neulich, mit dem Rotwein. Das war nicht schön.“ Ich gucke ungläubig. „Du frierst nicht? Gar nicht?“ Oink schüttelt wieder den Kopf. „Wenn frieren dasselbe wie kalt ist, nein.“ Er guckt wieder besorgt. „Ist das schlimm?“ Ich überlege. „Naja… das Frieren an sich nicht, das musst du nicht vermissen. Aber wenn es dann warm wird und man aufhört zu frieren, und wenn die Füße prickeln, das ist schon sehr schön.“ „Aber das kenne ich!“ ruft er aufgeregt, „das ist das Gefühl, das ich habe, wenn du mich auf ein Ei setzt! Vorher ist da so eine Leere, und man möchte, dass das aufhört, aber es geht irgendwie nicht, und manchmal kriege ich so kleine Beulen innendrin, und dann kommt das Ei und alles ist wunderbar.“ Er strahlt. Ich nicke langsam. „Doch, das ist wie frieren und warm werden“, sage ich. Oink seufzt erleichtert. „Gut. Jetzt weiß ich, was frieren ist und ich kann das. Und jetzt lass uns weitergehen, es ist so schön weiß überall!“ Ich seufze unhörbar und wackle mit den kalten Zehen. Er hat Recht. Es ist wunderbar weiß überall. Und kalt. Sehr kalt.