Wasserpferde

Wasserpferde

Gestern waren Marie und ihre Schwester Lea Fische, sie sind schneller als der schnellste Meeresfisch durch das Wasser getaucht, und sie haben einen Schatz gefunden, aber das war gestern.
Heute ist Marie ein Pferd. Sie streift sich das Halfter über und ihre Schwester Lea nimmt das Ende der langen Leine in die Hand. Sie schüttelt es prüfend und ruft „Hüah!“
Marie wirft ihre lange Mähne nach hinten und bäumt sich auf. Sie ist ein wunderschönes Pferd mit glänzendem braunem Fell, sie hat schwarze Hufe, mit denen sie die härtesten Muscheln zerstampfen kann und sie ist schneller als der Wind! Sie ist so schnell, dass ihre Mähne wie eine Fahne im Sturm flattert und ihrer Schwester die Leine aus der Hand gerissen wird. Lea fällt spritzend ins flache Wasser. Als sie lachend und prustend wieder auftaucht, umrundet Marie sie übermütig und stampft mit den Hufen ins Wasser, dass es nur so spritzt. Gnädig lässt sie zu, dass Lea die Leine wiederfindet und in die Hand nimmt, dann galoppieren sie beide über die Meeresbodenkoppel, und als Marie mit einem Riesensprung ins tiefere Wasser hüpft, stellt sie fest, dass sie ein Meerespferd ist.
Krabben flüchten sechsbeinig vor ihren harten Hufen und ein paar Quallen schweben geringschätzig murrend an ihr vorbei – wie man nur so einen Krach machen kann!
Lea interessiert das nicht, sie schreit so laut „Hüah!!“, dass ein paar Luftblasen aus ihrer Nase kullern und nach oben zur Wasseroberfläche tanzen. Marie galoppiert los. Sie ist ein Hai mit Pferdemähne, ein Delphin mit braunem Fell, und hinter ihr entsteht eine Spur aus winzig kleinen Luftbläschen im Wasser, die eilig nach oben trudeln und silbrig glänzen.
Vor ihr taucht ein Mann auf, der ein halber Wal ist, sein Bauch glänzt rund und rosig, er winkt ihr freundlich zu und taucht dann mit einem einzigen gemütlichen Flossenschlag ab. Marie vertreibt ein paar lästige Heringe mit ihrem Schweif und sieht neugierig nach vorn. Der Leuchtturm von Neuwerk steckt wie eine Riesenstecknadel im Meeresboden fest und verhindert, dass die Insel davon schwimmt.
Der Meeresboden ist weich und elastisch unter Maries Hufen, sie könnte ewig so weitergaloppieren. Sie dreht sich um zu Lea. Die lacht und ruft blubbernd: „Helgoland?“
Marie wiehert begeistert. Die beste Schwester der Welt! Zusammen traben sie los, das Wasser ist warm, der Boden ist weich und am Horizont warten Nessi und eine Schule Flamingofische mit glänzenden grünen Schuppen auf sie.

Als die Phantasie die Weltherrschaft übernahm

Als die Phantasie für eine Stunde die Weltherrschaft übernahm, ließ sie als erstes die Farbe mausgrau verschwinden. Sie hatte immer schon eine natürliche Abneigung gegen Grau gehabt, was wohl in der Natur der Dinge liegt, aber bei Mausgrau hörte der Spaß bei ihr auf. Überall auf der Welt färbten Anzüge, Hausmäuse und U-Bahn-Unterführungen sich pink, sonnengelb oder himmelblau, was in einigen Vorstandssitzungen für erhebliche Irritationen sorgte und viele Katzen um ihr Mittagessen brachte. Die farbliche Neugestaltung der U-Bahn-Unterführungen blieb weitestgehend unbemerkt, da seit Jahrzehnten dort niemand mehr auf Wände oder Fußböden achtete.
Als nächstes beschloss die Phantasie, dass zukünftig an allen Gebäuden Außenrutschen vorhanden sein mussten, die alternativ zu den Treppenhäusern genutzt werden konnten. Sie schnippste mit dem Finger und schon wanden sich Rutschen in allen Farben und Materialien aus Fluren und Badezimmern hinunter auf Bürgersteige und Parkplätze. Überraschte Aufschreie und Juchzer waren zu hören, und wenige Minuten später wurden die ersten Rutschen von Kindern in Besitz genommen, die die panischen Rufe ihrer Mütter konsequent ignorierten. Als der erste Handwerker seine Werkzeugtasche vorschickte und dann selbst hinterherrutschte, nickte die Phantasie zufrieden. Das lief hervorragend! So konnte es weitergehen!
Mit einem Händeklatschen schickte sie Milliarden kleiner, goldener Tagträume auf die Reise, die mit einem leisen „Plopp!“ zerplatzten, wenn sie ihr Ziel erreicht hatten. Es regnete Sterne, Hängematten und rote Ferraris, glitzernde Vampire und Erdbeeren, Fußmassagen und marinierte Rippchen, und die Phantasie kicherte und pustete noch ein klein wenig mehr Farbe und Duft in die Tagträume. Und weil ihr gerade danach war, schickte sie ein paar Herden grüner Drachen und Schokoschmetterlinge hinterher.
Überall auf der Welt brach der Verkehr zusammen, die Arbeit in den Büros wurde unterbrochen und die Stahlproduktion kam vorübergehend zum Erliegen. Es wurde still in den Städten. Die Menschen stützten ihre Köpfe in die Hände, blickten aus den Fenstern und lächelten. Die Kinder jagten den Schokoschmetterlingen hinterher und überraschend viele Erwachsene standen Schlange an den Rutschen. Die Phantasie verschränkte die Arme und schaute zufrieden auf ihr Werk. So musste es sein! Und sie hatte ja gerade erst angefangen! Es waren noch sieben Minuten von ihrer Stunde übrig, und sie hatte nicht vor, der Vernunft auch nur eine davon zu überlassen.

an einem Tag im Februar

an einem Tag im Februar
schnippst die Phantasie mit den Fingern
Milliarden goldener Tagträume machen sich auf den Weg
es regnet Sterne
Hängematten
rote Ferraris
glitzernde Vampire
Erdbeeren
Fußmassagen
marinierte Rippchen
und weil ihr danach ist
schickt sie
ein paar Herden grüner Drachen
und Schokoschmetterlinge hinterher
Aufschreie und Juchzer
aus Büros und Fabriken
dann wird es still in den Städten
Träume überall
zufrieden nickt die Phantasie
so soll es sein
im Februar

Der Dienstag dichtet! 🙂  Katha kritzelt hat diese Aktion ins Leben gerufen: Jeden Dienstag wird ein Gedicht aus eigener Herstellung veröffentlicht. Auch Wortgeflumselkritzelkram, Mutigerleben, Werner KastensFindevogel, die Wortverzauberte und  Ein Blog von einem Freund sind mit von der Partie. Schaut doch mal bei ihnen vorbei, der Dienstag fängt besser an mit ein bisschen Wortzauberei!

Was meine Phantasie alles kann (an guten Tagen)

Was meine Phantasie alles kann:

  • aus sinnlosen Gedanken Gold spinnen
  • immer einen Fluchtweg wissen
  • Schätze finden in Bürgersteigritzen
  • sagen: „komm, wir gehen fliegen“ und es tun
  • unter einhundert Türen die richtige wählen
  • von Ländern erzählen, die googlemaps nicht kennt
  • in alle Augen sehen und alle Hände halten
  • lachen, wo es wenig zu lachen gibt
  • ohne Skrupel endlose Monologe halten und erwarten, dass ich zuhöre (was ich tue)
  • beleidigt verschwinden, wenn ich versuche, sie zum Schweigen zu bringen
  • unauffindbar bleiben
  • aus dem Nichts zurückkommen und peinliche Fragen stellen
  • mit sich selbst genauso flirten wie mit anderen
  • tanzen, als ob ihr die Welt gehören würde (und das tut sie ja auch)
  • mir abends vorm Einschlafen schillernde Sekundengedanken schenken
  • trösten

Als ich die Phantasie traf

Heute Abend habe ich die Phantasie getroffen. Natürlich sah sie ganz anders aus als beim letzten Mal, als sie Lollys im Haar trug und kichernd auf bunten Socken durch meine Küche tanzte.
Heute dagegen ging sie geistesabwesend immer zwei Meter vor mir her, ihr Haar schimmerte silbergrau und hing schwer herunter. Sie war nur halb bei mir, die andere Hälfte war sehr weit weg und befasste sich mit ernsten Angelegenheiten.
Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zu mir um, ging rückwärts und sagte Dinge wie: „Wusstest du, dass Tränen eine silberne Innenhaut haben und Welten enthalten können?“ Oder: „Gerade habe ich mir vorgestellt, es wäre noch Tag, die Sonne schiene und ich wäre so leicht wie ein Rotkehlchen.“ Oder: „Schwarz ist gar nicht immer einfach nur Schwarz. Es kann bleiernes Schwarz sein, oder dumpfes Schwarz. Es gibt sogar strahlendes Schwarz, wusstest du das?“
Nach jeder Frage drehte sie sich wieder um und sah nach vorn. Sie erwartete keine Antworten.
Es war ein bisschen seltsam, wo sie doch sonst immer vor Farbe, Musik und Ideen übersprudelte. Wie oft hatte ich schon kleine Fische um ihren Kopf herumschwimmen sehen, ohne dass auch nur eine Spur Wasser in der Nähe gewesen wäre! Und nie konnte ich mich sonst entscheiden, welche Augenfarbe sie gerade hatte, mal waren sie Ozeanblau, mal Sonnenuntergangsgolden, mal grün wie Waldmeisterwackelpudding. Heute dagegen war ich mir sicher: Sie konnten nur silbergrau sein.
Nachdem wir alles ein paarmal wiederholt hatten – umdrehen, rückwärts gehen, Frage stellen, keine Antworten – ging ich ein wenig schneller, bis ich auf einer Höhe mit ihr war. Sie sah mich nicht an. Ganz vorsichtig nahm ich ihre Hand. Sie war kühl und sie zog sie nicht weg. So gingen wir schweigend zusammen nach Hause.
Ich bin mir nicht sicher, aber mir war, als ob wir beide ein wenig heller wurden auf dem Weg.

Fräulein Honigohr hat Grippe

Fräulein Honigohr hat Grippe

Fräulein Honigohr hat die Grippe. Sie liegt auf dem Sofa und kühlt ihre Stirn. Auf dem Boden liegen Taschentücher verteilt, das Glas Zitronentee ist leer und ihr Kopf fühlt sich wattig an. Kurzum: Die Lage ist düster. Vor dem Fenster scheint die Sonne, aber selbst die weißen Schäfchenwolken sehen heute aus wie gebleicht. Die Welt ist ungerecht.
Sie würde jetzt gern geknuddelt werden, aber das ist schwierig, wenn man gerade niemanden zum Knuddeln zur Hand hat. Obwohl… Fräulein Honigohrs Augen glänzen fiebrig, als sie den Fernseher einschaltet und mitten in eine britische Adelsserie gerät. Der Butler sorgt gerade für Ordnung in der Küchenbelegschaft. Auf dem großen Holztisch steht bergeweise Essen und die Köchin wirbelt herum, während sie in einer Schüssel Zitronencreme schlägt.
Zitronencreme… Fräulein Honigohrs Augen schließen sich halb. Mit seligem Lächeln schnipst sie mit den Fingern. „Carson!“
„Ja, Mylady?“ Carson steht in der Tür zum Wohnzimmer. Er sieht verwirrt aus.
„Sagen Sie Mrs. Patmore, ich hätte die Zitronencreme gern gut gekühlt. Sie soll sie in den Kühlschrank stellen.“
„Sehr wohl, Mylady.“
Fräulein Honigohr hört Mrs. Patmore unterdrückt aufschreien, dann klirrt etwas. Es klingt, als ob eine Glasschüssel zu Boden gefallen wäre. Sie hofft, dass es nicht die Zitronencreme war. „Carson!“
„Ja, Mylady?“
„Würden Sie mir neue Taschentücher bringen? Und ein Glas Wasser?“
„Sehr wohl, My— Mylady!“
„Carson! Wo sind wir hier? Was ist das für ein scheußlicher Teppich? Und hätten Sie wohl die Güte, mir zu sagen, was das hier ist?“ Ein Gehstock klopft mit Nachdruck auf den Boden in ihrem Flur.
„Ich denke, das ist ein… äh… Spiegel?“
Fräulein Honigohr kichert. Er hat ihr Handy gefunden. Und Mrs. Violet Crawley. Der Nachmittag verspricht besser zu werden als erwartet. Noch dreiundzwanzig Minuten, bis die Folge zu Ende ist.
Mal sehen, ob die Zitronencreme so gut ist, wie sie aussieht.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, organisiert von Christiane (vielen Dank für alle Arbeit daran!). Die Wortspende kam dieses Mal von Alice. Die Regeln: Maximal 300 Worte, darin enthalten die drei Wortspenden, die dieses Mal Grippe, gebleicht und knuddeln lauteten.
Allen Grippe-Kranken da draußen gute Besserung und allzeit viel Zitronencreme! 🙂

Fräulein Honigohr sitzt im Schrank

Fräulein Honigohr sitzt im Schrank. Es ist ein bisschen dunkel da drin, aber das macht nichts. Wenn sie den Kopf dreht, um zu lauschen, streicht das grüne Sommerkleid über ihre Wangen. Langsam wird es draußen ruhiger. Das ist gut. Sie legt den Kopf auf die angezogenen Knie. Wie ärgerlich, dass es schon wieder passiert ist. Dabei hat sie so aufgepasst!
Immerhin hat sie an den Schrank gedacht, und darauf ist sie ein kleines bisschen stolz. Gut, dass sie Herrn Brummeck um Rat gebeten hat. Der Schrank war eine ausgezeichnete Idee, das muss sie ihm später unbedingt sagen. In Gedanken macht sie einen dreifachen, violetten Knoten in ihre Haare, um es ja nicht zu vergessen. Vergesslichkeit. Sie seufzt leise. Warum ist sie nur so schrecklich vergesslich? Damit fängt immer alles an. Abends vergisst sie, den Wecker zu stellen, obwohl sie das nicht wirklich schlimm findet. Trotzdem. Sie sollte es nicht vergessen, das ist ein Prinzip und Prinzipien muß man einhalten. Oder? Und außerdem ist es ja nicht nur der Wecker: Sie vergisst, dass sie den Teebeutel schon in die Tasse getan hat, dann, die zweite Socke anzuziehen, der Regenschirm ist unauffindbar, ihr Geldbeutel ist verschwunden. Sie ist auch schon mit ungekämmten Haaren zur Arbeit gegangen, von vergessenen Taschen ganz zu schweigen. Und so hat sie auch ihre Krone verloren. Ihre schöne, goldene Krone. Die hätte sie heute dringend gebraucht, das Wetter ist übel, der Morgen grau, die Aussichten novembermässig schlecht, und mit Krone wäre einfach alles besser gewesen. Aber sie hat sie nicht gefunden.
Fräulein Honigohr seufzt noch einmal leise und erinnert sich, wie sie gesucht hat: Unter dem Bett. Im Küchenschrank. Zwischen den Kissen im Wohnzimmer. Hinter den Büchern. Sogar in den Büchern hat sie nachgesehen, manchmal versteckt ihre Krone sich überraschend hinterhältig. Aber dieses Mal war sie nirgendwo. Und dann kam die Wut. Fräulein Honigohrs Wut will toben, schreien und rennen, und zwar alles auf einmal. Sie kann ziemlich beängstigend sein. Sie macht sogar Fräulein Honigohr selber Angst. Wenn man gleichzeitig Angst hat und wütend ist, neigt die Wut dazu, sich selbständig zu machen und das ist der Zeitpunkt, an dem der Schrank ins Spiel kam. Herr Brummeck hat Fräulein Honigohr geraten, im Schrank in Deckung zu gehen und ihre Wut sich selbst zu überlassen. Meistens wird der Wut schnell langweilig, wenn Fräulein Honigohr sie ignoriert. Und genau das hat sie heute getan. Sie ist stolz auf sich.
Ein kleiner Lichtstreifen fällt durch das Schlüsselloch zu ihr hinein. Fräulein Honigohr streckt ihre Finger aus und spielt mit ihm. Draussen ist es ruhig. Ihre Wut ist verschwunden. Eigentlich könnte sie jetzt die Tür aufmachen und hinausgehen. Interessanterweise hat sie gerade gar keine Lust dazu. Der Lichtstrahl kitzelt ihre Finger, es ist warm und wenn sie noch ein klein wenig überlegt, fällt ihr vielleicht sogar wieder ein, wo sie ihre Krone hingelegt hat.
Fräulein Honigohr lächelt. Vielleicht sollte sie einen wöchentlichen Schranktag einführen. Der Montag wird sowieso überbewertet.

Wie Fräulein Honigohr ein Buch liest

Fräulein Honigohr liest einen Roman. Der Held ist stoisch, viel zu tapfer und hat keine Ahnung von Dingen wie gepunkteten Regenstiefeln, chaotisch geplanten Ausflügen und schlechten Büchern. Lesen bedeutet, fremde Welten kennenzulernen, aber sie kann es nicht ändern: Der Held geht ihr furchtbar auf die Nerven.
Es gibt auch eine Heldin, und die findet Fräulein Honigohr noch viel schlimmer: Ständig sitzt sie irgendwo zitternd herum und wartet darauf, dass der Held die Welt für sie in Ordnung bringt.
Fräulein Honigohr schlägt das Buch zu. Ob sie mal wieder…? Eigentlich wollte sie sich zusammenreißen, schließlich hat alles Konsequenzen, aber sie kann einfach nicht widerstehen. Diese schrecklich langweilige Geschichte fordert Verzweiflungstaten ja geradezu heraus! Das Buch in ihrer Hand hat noch keine Ahnung davon, aber bei Fräulein Honigohr gibt es nur variable Geschichten. Die Welt ist ambivalent. Alles ist veränderbar.
Sie schlägt das Buch wieder auf, schließt die Augen und träumt. Das Buch zuckt, die Seiten flattern, der Einband wechselt ein paarmal die Farbe und dampft. Nach einer kleinen Weile öffnet Fräulein Honigohr die Augen und wartet gespannt. Aus ihrem Wohnzimmer kommen Stimmen, und das Buch hält den Atem an.
„Wo… wo sind wir hier?“ fragt eine tiefe Männerstimme.
„Ich weiß auch nicht“, antwortet eine helle Frauenstimme. „Aber es ist auf jeden Fall besser als der Dschungel, oder?“
„Das kann doch nicht sein…“ murmelt die Männerstimme unsicher.
„Keine Schlangen, keine Skorpione, keine Kannibalen. Mir gefällt´s!“
„Hallo-ho!“ ruft Fräulein Honigohr. „Kommt doch mal kurz her, ihr zwei!“ Es folgt eine tiefe Stille, dann dringt aufgeregtes Flüstern aus dem Wohnzimmer und schließlich schiebt sich ein blondgelockter Frauenkopf hinter der Tür hervor. Sie zieht einen Mann in Kakihose hinter sich her, der eine abgenutzte Machete in der Hand trägt.
„So. Setzt euch. Also: Ihr seid entlassen. Tut, was immer ihr möchtet. Keine engen Buchseiten mehr, keine ewiggleiche Handlung. Da vorn ist die Tür. Ich wünsche euch ein schönes Leben!“ Fräulein Honigohr wedelt mit ihrer Hand nachlässig in Richtung Flur.
Die Frau und der Mann sehen sich an, in ihren Gesichtern eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Entzücken. Dann stehen sie auf und gehen, ohne sich noch einmal umzublicken und ohne sich zu verabschieden.
Fräulein Honigohr sieht das Buch an, und das Buch sieht sie an. Es hat Schluckauf und dampft immer noch leicht. „Tschuldigung“, sagt Fräulein Honigohr. „Du wirst ein paar Tage Verdauungsschwierigkeiten haben, aber das gibt sich, glaub mir.“ Sie legt das Buch offen auf den Tisch. Über seine Seiten tanzen Buchstaben, und Satz für Satz entsteht eine neue, andere Geschichte.

 

Das war meine allererste Etüde! Vielen Dank an Christiane, die sie organisiert, so auch diese Extraetüde für den fünften Sonntag im Monat. Im Text unterzubringen waren fünf aus sechs Wortspenden: Verzweiflungstat, ambivalent, hingeben, Roman, variabel, entlassen. Wortspender waren Alice und Ludwig Zeidler.

Neulich im Blumenbeet

Neulich fiel mein Fahrradschlüssel ins Blumenbeet. Es war so ein schmaler, kleiner Schlüssel, unauffällig schwarz, und das machte er sich zunutze: Er verschwand. Ich fand ihn nicht wieder, so sehr ich auch suchte. Schließlich gab ich auf, knackte das Fahrradschloß und fuhr trotzdem ins Grüne.
Es regnete ein paar Nächte nacheinander, tagsüber war es warm und schön und ich vergaß das Ganze. Bis gestern Abend. Ich kam nachts nach Hause und wunderte mich. Da hing ein Schwarm winziger Lichter im Garten, und ich meinte, da wäre ein leises Klingeln zu hören. Glühwürmchen? Hier? Vorsichtig ging ich auf die Lichter zu, das zarte Klingeln kam näher und dann sah ich es: In meinem Blumenbeet war ein Draisinenstrauch gewachsen, genau an der Stelle, an der ich meinen Fahrradschlüssel verloren hatte.
Nässe und Wärme hatten zusammengearbeitet, und so hatten sich überall Blüten geöffnet, münzengroße Fahrräder, deren Räder sich im Windhauch leise drehten und zahllose winzige Fahrradlampen zum Leuchten brachten. Ab und zu klingelte eines von ihnen, als ob es rufen würde: „Platz da, jetzt komm ich!“
Ein bisschen enttäuscht ging ich ins Haus. Glühwürmchen wären mir lieber gewesen. Oder richtige Lichter, größere! Nächstes Mal würde ich einfach meine Taschenlampe ins Beet fallen lassen. Das wäre doch gelacht.

Himbeermond

Himbeermond

zwischen unseren Gedanken
unter all dem täglichen Gewühl
verbirgt sich eine fremde schöne Welt
dunkle Quellen wispern dort vom Meer
im Mondschein singt der Silbervogel
aus gewirktem blassen Morgennebel
baun die blauen Feen ihr Nest
sie warten auf die purpurrote Sonne
heiße Feuerdrachen spieln darin
ziehen gleißend helle Feuerbögen
auf weichen Feldern ruht der Nachtwind
träumt von kühlen Nächten
unterm schweren Himbeermond