Draußen

Nein.
Du schlägst das Buch zu. Du hast dir wirklich Mühe gegeben, geforscht, studiert und soviel gelesen, dass dir die Augen tränen, aber jetzt ist Schluß. Es ist vorbei. Du lehnst dich zurück und verschränkst die Arme hinter dem Kopf. Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung steigt in dir auf. Erleichterung, weil dieses seltsam trockene Gefühl von Hoffnung nun endgültig aufgehört hat, Enttäuschung, weil es schön gewesen wäre, einen Beweis zu finden. Aber du hast keinen Beweis gefunden, nur endlose Theorien und Mutmaßungen.
Und nun? Was machst du nun?
„Sie könnten einfach die Tür öffnen.“
Du drehst dich erschrocken um. Da sitzt ein mittelalter Mann im weißen Anzug hinter dir. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, ein Arm liegt über der Sessellehne, in der anderen Hand hält er eine Pfeife. Seine Socken sind blau. „Was tun Sie hier?“ fragst du irritiert.
„Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Engel Nr. 265 und Ihnen heute zugeteilt.“ Der Mann verbeugt sich im Sitzen leicht nach vorn. „Darf ich?“ Er zeigt mit dem Kopf auf die Pfeife.
Du nickst verwirrt.
„Danke.“ Der Mann zieht ein Päckchen Pfeifentabak aus seiner Tasche und fängt an, die Pfeife zu stopfen. „Wenn Sie über den Begriff „Engel“ stolpern sollten, ich bevorzuge „Hüter des himmlischen Lichts“. Klingt viel eleganter, oder? Obwohl, heutzutage muss man immer alles endlos erklären, obwohl manche Dinge ohne Erklärung viel verlockender sind. Leser von Fantasyromanen wissen in der Regel schneller, was gemeint ist. Tja. Wie auch immer, die meisten können mit „Engel“ mehr anfangen, obwohl man auch da manchmal mit längeren Diskussionen rechnen muss. Das ist heutzutage ja ein weitgefasster Begriff. Aber ich schweife ab, entschuldigen Sie bitte.“ Er hält ein Zündhölzchen an die Pfeife und zieht vorsichtig. Ein Duft nach Vanille und Lavendel steigt in deine Nase und du atmest unauffällig tief ein. Das duftet… so real.
„Und… was tun Sie hier?“ fragst du vorsichtig.
„Na, Sie haben doch gefragt, was Sie tun sollen. Ich bin hier, um Ihnen die Antwort zu geben. Öffnen Sie die Tür.“
„Welche Tür?“ fragst du irritiert.
Der Mann zieht an der Pfeife. Eine kleine blaue Wolke steigt über seinem Kopf auf. „Sie suchen doch Beweise?“
Du nickst. Die Enttäuschung von eben wabert noch um dich herum. „Ja. Alle Welt berichtet von dem Draußen, den Farben, Gerüchen, den Gefühlen, die man draußen haben soll. Aber es gibt kein Draußen. Ich habe es überprüft. Es gibt nur Gerüchte, Mutmaßungen und endlose Theorien darüber, aber niemand weiß genau, wie es sich anfühlt. Weil noch niemand jemals da war. Weil es das Draußen gar nicht gibt.“ Du fühlst dich leer, als du das sagst.
Der Mann mustert dich. „Sie könnten die Tür öffnen. Das würde die Dinge in Bewegung bringen.“
Du ärgerst dich. Dich bewegen existenzialistische Fragen und du bekommst idiotische Vorschläge. „Welche Tür?“ fragst du etwas lauter als notwendig.
„Na, die da hinten.“ Der Mann zeigt auf eine der Wände.
Du blickst dich um, obwohl du es besser weißt. Da ist nämlich keine Tür. Da war noch nie eine, genausowenig wie es Fenster in deinem Raum gibt.
Oh. Du kneifst die Augen zusammen.
Da ist eine Tür.
Du siehst den Mann an, dann wieder die Tür. Der Mann lächelt und stößt eine Lavendelrauchwolke aus.
„Was…?“ rufst du.
„Oh, das ist keine Zauberei. Sie war schon immer da. Sie haben sie bloß nicht wahrgenommen, weil Sie so beschäftigt waren mit Forschen.“
„Aber…“ sagst du hilflos.
„Das macht nichts“, sagt der Mann sanft, „alles hat seine Zeit. Wissen Sie, Sie sind ein Mensch. Da dauern die Dinge manchmal ein wenig länger.“
„Das heißt… ich könnte hinausgehen?“
„Jederzeit.“
„Und dann bin ich draußen?“
Der Mann nickt. Du bist fassungslos. „Aber… ich dachte, das Draußen gibt es nicht!“ rufst du aus.
„Das ist ja auch kein Wunder. Sie haben es noch nie gefühlt, nicht betastet, nicht gerochen. Sie haben nur darüber gelesen. Das ist ein Unterschied.“ Der Mann zieht noch einmal an seiner Pfeife, eine Wolke aus Vanille und Lavendel steigt unter die Decke. „Aufgeraucht“, sagt der Mann befriedigt, „alles geht einmal zu Ende, aber nicht heute. Wollen wir?“
Du spürst, wie du blass wirst, du hast schreckliche Angst vor dem Draußen, aber du willst es unbedingt sehen. Also nickst du zitternd.
Der Mann hält dir seine Hand hin. „Kommen Sie, wir gehen zusammen.“ Er zieht dich vom Stuhl und gemeinsam geht ihr auf die Tür zu, die du noch nie vorher gesehen hast. Der Anzug des Mannes leuchtet weiß im Halbdunkel deines Raumes. Dann drückt er die Tür auf.
Es ist hell. Warm. Es duftet nach etwas Grünem. Und nach etwas Süßem. Etwas berührt deine Haut und du erschreckst dich, aber es fühlt sich gut an. Vorsichtig machst du einen Schritt. Und dann noch einen. Und dann bist du im Draußen.
Der Mann im weißen Anzug lacht. Es ist ein dröhnendes, zufriedenes Lachen, es rinnt dir den Rücken hinunter wie zuvor nichts auf der Welt.
Und zum ersten Mal im Leben fühlst du dich vollständig.

Herr Miesling und der Gartenzwerg

Herr Miesling bleibt stehen. „Guck mal“, sagt er zu seinem Engel, „der da is neu. Obwohl… so ganz neu isser nich mehr.“ Sie betrachten einen ramponierten Gartenzwerg mit Laterne in der Hand. Er steht in einem handtuchschmalen Vorgarten. „Der hat schon bessere Tage gesehen, was?“ Herr Miesling kichert. „Und die Nase… erinnerste dich noch an den alten Schulze? Der mit dem einen Arm? Der hatte so´ne Säufernase. Hat sich hinter den Büschen versteckt, wenn er getrunken hat. Wir ham ihm den Wodka aus´m Versteck geklaut damals… mein erstes Besäufnis. Gott, hatte ich´n Kater.“ Herr Miesling ist weit weg. Sein Engel piekst ihm in die Seite, bis er blinzelt und zurückkommt. „Ausgeblichen isser auch. Und´n Hinkebein hat er. Also, ne Schönheit isser nich gerade.“
Sein Engel schürzt die Lippen.
„Jaja“, sagt Herr Miesling, „du wieder, alle sind wertvoll, blabla, weiss ich doch. Ich hab ja auch nich gesagt, ich mag ihn nich. Er iss´n bisschen wie wir, findeste nich?“
Sein Engel zieht die Augenbrauen hoch.
Herr Miesling lehnt sich an den Gartenzaun, der sich unheilvoll nach innen biegt. „Schade, dasser hier so allein rumsteht, das geht mir ´n bisschen quer. Er muss sich doch einsam fühlen, oder?“ Herr Miesling lauscht. Hat der Zwerg gerade geseufzt?
Sein Engel tippt sich mit dem Finger an die Nase, wirft einen vielsagenden Blick nach rechts, dreht sich weg und studiert den Himmel.
„Was? Was soll ich da? Oh! Ach so!“ Herr Miesling grinst und wirft seinem Engel einen anerkennenden Blick zu. Er geht einen Vorgarten weiter, zieht einen ähnlich ramponierten Gartenzwerg mit einem Bündel D-Mark-Scheinen in der Keramikhand aus einem Beet und stellt ihn neben den Zwerg mit der Säufernase. „So. Besser. Findeste auch, oder?“ Er zwinkert dem Laternenzwerg zu. „Unsere gute Tat für heute!“
Sein Engel seufzt, aber nur ganz leise. Es klingt zufrieden.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, und kurz vor knapp bin ich noch reingerutscht! Puh. 😁 Organisiert werden sie von Christiane (vielen lieben Dank!) und die Vorgaben sind maximal dreihundert Wörter und die drei Worte Zwerg, quer und fühlen müssen verwendet werden. Die Wortspende kam von Kain Schreiber mit seinem Blog Gedankenflut.

Birnensenf

Herr Miesling sitzt an seinem Küchentisch und starrt versonnen auf ein Glas Birnensenf. „Guck mal, sagt er, „hat se mitgebracht. Als Gastgeschenk.“ Er fährt mit einem Finger über den Deckel. „Weisst du, wann ich das letzte Mal ein Gastgeschenk bekommen hab?“
Sein Engel schüttelt den Kopf.
„Ich schon. Das muss 1965 gewesen sein, als ich mit meiner Frau in die neue Wohnung gezogen bin.“ Herr Miesling überlegt. „Ich glaub, das war ein Korb mit Sekt und Wurst damals. Den Sekt haben wir gleich auf´n Kopp gehaun, der hat den Abend nich überlebt.“ Er grinst. „Das war nett.“ Er stupst das Glas an. Der Birnensenf leuchtet gelb. „Wolln wir ihn probiern?“
Sein Engel schüttelt den Kopf.
Herr Miesling ist überrascht. „Warum nich?“
Sein Engel rümpft die Nase, zeigt auf das Glas und guckt angeekelt.
„Was??“ Herr Miesling reisst die Augen auf. „Du magst das nich? Aber du magst doch alles! Immer! Das gibt´s ja nich!“
Sein Engel seufzt, hebt die Schultern und schüttelt sich.
Ein breites Lächeln zieht wie Sommerwolken über Herrn Mieslings Gesicht. „Ich hab deine schwache Stelle entdeckt! Ich glaub´s ja nich! Birnensenf! Hah!“ Er öffnet das Glas und schnuppert. „Hmmm, lecker, das passt bestimmt gut zum Harzer.“ Er stippt einen Finger ein und probiert. Sein Engel verzieht das Gesicht. „Und auf die Salami auch. Na? Willste nich doch mal probiern?“
Sein Engel schüttelt energisch den Kopf.
„Dein Kryptonit, was?“ Herr Miesling grinst wieder. „Dann ess ich ihn halt allein.“ Er stellt das Glas in den Kühlschrank, gleich neben den Käse. „Du weisst schon, dass ich dich ab jetzt damit aufziehn werd, oder?“
Sein Engel hebt ergeben die Hände.
„Birnensenf“, sagt Herr Miesling versonnen, eine Hand noch an der Kühlschranktür. „Es war schön mit ihr, oder? Wir sollten sie unbedingt wieder einladen. Wer weiß, was sie beim nächsten Mal mitbringt.“
Sein Engel lächelt. Als wäre es nie woanders gewesen, liegt plötzlich das Telefon in seiner Hand.

Marktplatzeis

Marktplatzeis

Ich esse ein Eis auf dem Marktplatz. Der Eisverkäufer ist genervt, Corona verdirbt ihm das Geschäft, und dazu der ewige Regen! Ach, der Regen.
Im Halbdunkel der großen Schirme hockt eine zerknitterte Frau und wirft böse Blicke um sich. Sie äfft ein Kleinkind nach, das überrascht kurz verstummt. Die Frau grinst triumphierend. Ich esse mein Eis und versuche nicht aufzufallen. Vergeblich. Als ich zwei kleinen weißen Handtaschenhunden hinterherblicke, lacht die Frau einmal kurz auf, dann fragt sie spöttisch: „Mögen Sie die etwa? Zu meinen Lebzeiten hatte ich drei 160kg Hunde, das waren Hunde, sag ich Ihnen!“
Ich lächle höflich, aber sie lässt mich nicht vom Haken. „Immer hungrig, das waren sie, aber gut erzogen!“
Tapfer nehme ich die Konversation auf. „Da wäre so ein kleiner wohl ein netter Imbiß gewesen, was?“
Die Frau lacht meckernd wie eine Ziege. Ich zucke zusammen. Eine Frau mit Eis in der Hand sucht hastig das Weite, nachdem sie sich fast an einen der Tische gesetzt hätte.
„Gucken Sie mal dahinten, die alten Frauen da, keine Arbeit, keinen Mann, zuviel Zeit. Und was machen sie mit der Zeit? Blumentöpfe hin und her schieben!“ Sie zuckt abschätzig mit den Schultern.
Ich gucke auf den Marktplatz. Da stehen tatsächlich ein paar Frauen zwischen sehr vielen Blumentöpfen und gestikulieren aufgeregt. Eigentlich sieht es ganz nett aus.
„Zu meinen Lebzeiten gab´s sowas ja nicht. So ein unnützer Kram. Haben die nichts besseres zu tun?“ Die Frau schnauft abfällig.
Ok. Jetzt muss ich nachfragen. „Zu Ihren Lebzeiten?“
„Ja mei, Sie wollen´s aber genau wissen!“
Ich schwanke kurz zwischen Nicken und Kopfschütteln, aber bevor ich mich entschieden habe, spricht die Frau schon weiter.
„Ich bin ja eigentlich gar nicht mehr da, wissen Sie. Und ich wäre auch lieber nicht hier, das können Sie glauben! So ein Getue überall! Aber der da oben wollte es anders. Und so bin ich halt hier der Engel. Was soll´s.“
Ich gucke stumm.
„Doch, glauben Sie´s! Nicht so einer im Nachthemd und katzenfreundlich, nene, ich hab Spezialaufgaben!“ Das letzte Wort betont sie überdeutlich.
„Aha?“ Ich überlege, wie ich möglichst schnell hier wegkomme.
„Ich vergraule Gäste!“ Sie kichert und ich muss wieder an Ziegen denken. „Der Luigi hier zum Beispiel, der darf keine Gäste ohne Test hier sitzen haben, aber er hält sich nicht dran. Er soll seinen Laden aber behalten, verstehen Sie? Und da mache ich halt, was ich am besten kann.“ Sie lehnt sich zurück, schlägt zufrieden die Beine übereinander und wirft böse Blicke auf die Eistheke. Die Familie, die gerade Wundertüten gekauft hat, entschliesst sich spontan, sie doch lieber am Brunnen zu essen.
„Aha“, sage ich wieder.
„Der Luigi, der sieht mich nicht. Und Sie, Sie glauben mir auch nicht. Sie denken, ich bin verrückt.“ Sie gackert. „Ich bin wirklich gut, wissen Sie!“ Ein paar Spatzen fliegen aufgescheucht davon.
Ich nicke, lächle höflich und verabschiede mich. Im Gehen drehe ich mich um. Im Eiscafé sitzt niemand, nur die alte Frau sieht mir spöttisch hinterher.
Vielleicht ist sie wirklich gut in dem, was sie tut.

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Ich halt die Luft an

(Engelsmonolog)

„Ich halt die Luft an, bis alles wieder stimmt? Komischer Liedtitel, aber für mich kein Problem: Atmen ist für mich wie essen, man kann, muss aber nicht. Die Frage ist doch eher, wie lange willst du die Luft anhalten? Zu lange dürfte ungesund sein, und bis alles stimmt? Meiner Erfahrung nach stimmt selten alles. Vieles vielleicht, aber alles? Perfekt bin nicht mal ich, und ich muss es wissen. Was suchst du? Eine Vorstellung? Den goldenen Schnitt? Im Leben ist der Schnitt selten golden, eher blau. Oder ein bisschen krumm. Ich rede dir nicht rein, keine Sorge! Such ruhig weiter, das kann ja auch sehr spannend sein, wie Ostereiersuchen. Es muss sie vorher nur jemand verstecken. Was, wenn niemand die Eier versteckt? Und du suchst und suchst? Ich sags ja nur.“

Herr Miesling geht einkaufen

Herr Miesling geht einkaufen

Die letzte Scheibe Brot ist aufgegessen, im Kühlschrank schwimmt nur noch eine einsame Gewürzgurke im Essigglas. Es hilft nichts, Herr Miesling muss einkaufen gehen. Brummig schiebt er seinen Einkaufswagen durch die Schiebetüren, lässt die Obst- und Gemüseabteilung links liegen und biegt zielstrebig in Richtung Konserven ab. Eine Dose Mockturtle, ein Kartoffel-Würstchen-Eintopf und Linsensuppe landen in seinem Wagen. Als er weiterschieben will, zupft sein Engel ihn am Ärmel. Er hält ihm einen grünen Apfel hin.
Herr Miesling verzieht das Gesicht. „Och, nee. Is ja nett, aber du weisst doch, ich bin nich so´n Grünzeugesser.“
Sein Engel guckt ihn auffordernd an. Der Apfel glänzt in seiner Hand.
Herr Miesling schüttelt den Kopf. „Ne, wirklich nich. Du kannst ihn ja nehmen, wenn du willst. Ich kauf ihn für dich. Ich hab elf Euro, da isser noch drin.“
Sein Engel seufzt unhörbar und verschwindet zwischen den Regalen.
Herr Miesling schiebt weiter und sammelt eine Packung Graubrot, eine Tüte Schwarzbrot, Margarine und Leberwurst ein. Vor den Salamiwürsten bleibt er kurz stehen und rechnet, dann geht er weiter. Heute nicht. Nächste Woche fängt der neue Monat an, dann hat er was, auf das er sich freuen kann.
Kurz vor der Kasse zupft sein Engel ihn wieder am Ärmel.
Herr Miesling bleibt stehen. „Na? Haste dich umentschieden?“
Sein Engel hält ihm eine Dose geschälte Pfirsiche hin.
„Pfirsiche?“ Herr Miesling betrachtet die Dose von allen Seiten. „Hm. Für mich?“
Sein Engel nickt.
„Aha. Wie teuer is sie denn? Passt das noch?“
Sein Engel nickt wieder.
„Na dann. Warum nich. Is mal was anderes.“ Er lässt die Dose in den Einkaufswagen fallen. „Bild dir aber nich ein, dass das zur Gewohnheit wird, hörste?“
Sein Engel lächelt.
Herr Miesling bleibt stehen. „Du bist ganz schön gerissen, weisste das?“
Sein Engel zuckt mit den Schultern.
Dann gehen sie zur Kasse.

 

Herr Miesling geht zur Schule

Herr Miesling geht zur Schule

Herr Miesling keucht, der Anstieg war steil und er ist aus der Übung. Zuviele Fernsehnachmittage, der März hat in allen Grautönen herumgewühlt, die er auf Lager hatte. Aber heute! Heute verschleudert die Sonne sich, als ob sie etwas wieder gutzumachen hätte.
„Ich setz mich mal kurz“, sagt Herr Miesling zu seinem Engel und lässt sich auf eine Bank fallen. „Guck“, sagt er, „da is meine alte Schule. Hier war ich lang nich mehr.“ Herr Miesling betrachtet das Gebäude. „Schick, was se draus gemacht ham… ´n Kindergarten isses, oder?“
Sein Engel nickt.
„Früher ham wir da Fußball gespielt. Unser Ball hat fünf Minuten die Luft gehalten, dann warer platt und wir musst´n pumpen.“ Er lacht. „So´n Schiet! Dann hat Günter ´n neuen Ball mitgebracht, aber es war nich mehr so toll, weil er bestimmen wollt, wo´s langgeht… nich mal Klassenkeile hat geholfen, da ham wir halt wieder mit´m alten Ball gespielt und gepumpt.“
Sein Engel hustet.
„Guck nicht so, wir ham ihn nur´n bisschen in die Mangel genommen, nich verprügelt. Eigentlich war´n wir ´ne nette Klasse. Aber wir war´n nie pünktlich, und dann gab´s immer Ärger. Fräulein Trieger hat uns ´n Vortrag gehalten, dass es schlimm enden würde mit unserm Trödeln… die war ´n bisschen schwammig, die Trieger, hat ihren Verlobten im Krieg verlorn und hatte ´ne Vorliebe für Pralinen. Aber sonst war se ganz in Ordnung. Der Meier, der war schlimm, keiner mochte den, und er mochte uns auch nich. Hat sich wohl was andres vorgestellt für sein Leben, und dann stand er hinterm Pult und zu mehr hat´s nich gereicht. Tja.“
Herr Miesling steht ächzend auf. „Weiter geht´s. Schön war´s, aber vorbei isses auch.“
Sein Engel nickt.
Einen Moment lang scheint eine Horde Jungen vor der alten Schule Fußball zu spielen. Herr Miesling lächelt. Dann guckt er nach vorn.

Das war ein Herr-Miesling-Beitrag zu den abc-Etüden, maximal 300 Worte mit drei Begriffen (siehe oben). Organisiert wird das ganze (ziemlich umfangreiche) Projekt von Christiane (vielen Dank!), und die Wortspende kam dieses Mal vom berlinautor. Und die war ziemlich herausfordernd – ich meine, Klassenkeile? Im Zusammenhang mit schwammig?? Aber wir sind ja erprobte Wortunterbringer… 😀

Herr Miesling geht spazieren

Herr Miesling geht spazieren. Vor einem Schaufenster bleibt er stehen und guckt auf die Tapete mit orangebraunem Blumenmuster. Davor steht weißes Porzellan.
„Ach ja…“ sagt er leise.
Sein Engel guckt neugierig.
„Orange war ihre Lieblingsfarbe. So´n Geschirr hattn wir auch. Unsers war hübscher als das da.“ Er versenkt die Hände in den Jackentaschen. „Das muss so 1965 gewesen sein. Unsere erste eigene Wohnung. Ich dachte, mich könnt nichts erschüttern, echt jetzt, ist das nich´n Witz? Ich wollte die Welt sehn, sie nich. Ich fand Sachen lustich, über die sie sich geärgert hat. Die Wohnung war mir zu klein, für sie war sie die Welt. Naja. Ich bin dann zur See gefahrn, und irgendwann hat sie mir geschriebn, dass sie´n andern hat. Ich hab die Wohnung nie wieder gesehn. Und sie auch nich.“ Herr Miesling starrt versonnen in das Schaufenster. „Aber es war nich alles schlecht. Als wir tapeziert haben, is uns eine Bahn auf´n Kopp gefalln, bis wir klebrig wie ´ne Honigwabe warn.“ Herr Miesling lächelt. „Und wie sie mir über Kurzwelle ein Lied geschickt hat… der Käpt´n hat es über Lautsprecher auf´m ganzen Schiff abgespielt.“
Sein Engel zupft ihn am Ärmel.
„Welches Lied? La Paloma natürlich, von Freddy Quinn. Er war der Beste!“
Sein Engel hebt skeptisch eine Augenbraue. Herr Miesling übersieht das gnädig. Er wirft noch einen Blick in das orangebraune Schaufenster, dann geht er weiter. „Tja. Es is, wie es is. Ich hab ´ne Menge fremde Städte gesehn, um mit Freddy zu sprechen. Wer weiß, ob ich mit ihr glücklicher gewordn wär. Vielleicht würdn wir jetzt in so´ner kleinen Bude hocken und uns angiften. Es is, wie es is.“ Herr Miesling atmet tief ein. „Wolln´wa zum Blumenmarkt gehn?“
Sein Engel nickt.
„Vielleicht kauf ich´n paar orangene Tulpen, wegen der alten Zeiten. Was hältste davon?“
Sein Engel lächelt.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden! Die Wörter für die Textwochen 03/04 des Schreibjahres 2021 stiftete Ulrike mit ihrem Blog Blaupause7. Sie lauteten Lautsprecher, orange (NICHT die Frucht, die Farbe) und erschüttern, und organisiert wurde das ganze wieder von Christiane und ihrem Blog Irgendwas ist immer. Vielen Dank, liebe Christiane, für die ganze Organisation!

Schiffbruch

Schiffbruch

Du hast Schiffbruch erlitten. Gerade war das Wetter noch schön gewesen und die Sonne hatte geschienen, als plötzlich Wolken aufkamen und es anfing zu regnen. Es wurde stürmisch. Die Wellen zerbrachen dein Schiff, du konntest dich gerade noch ins Beiboot retten, und da sitzt du nun. Es ist kalt. Und naß. Dir ist übel, und der Wind hört nicht auf, dir Gischt ins Gesicht zu blasen. Du hältst dich links und rechts an der Bordwand fest, die Ruder sind dir abhanden gekommen. Du schließt die Augen. Ob das Wasser unter dir sehr kalt ist? Obwohl: Viel kälter kann dir nicht mehr werden. Du öffnest die Augen. Vor dir auf der Ruderbank sitzt ein dünner Mann mit gelben Gummistiefeln. Er hält mit beiden Händen einen Regenschirm fest und sitzt sehr aufrecht in deinem schaukelnden Boot.
„Hallo“, sagt er.
Du fantasierst. Das ist vermutlich der Anfang vom Ende. Aber egal, alles ist besser, als allein in deinem Boot zu sitzen, selbst ein dünner Fantasiemann mit Gummistiefeln.
„Hallo“, sagst du also.
„Darf ich mich vorstellen“, sagt der dünne Mann, „ich bin ihr Seenotrettungsengel.“ Energisch klappt er seinen umgestülpten Regenschirm zurück in die richtige Position.
„Oh“, sagst du. „Das ist… schön.“ Eindeutig. Du hast Untergangsvisionen.
„Nein-nein“, sagt der dünne Mann, „ich bin real. Ich kann natürlich auch wieder gehen, wenn Sie das wünschen.“
„Nein!“ sagst du hastig.
„Gut.“ Der dünne Mann sieht in den Regen, seufzt, klappt den Regenschirm zu und legt ihn sorgfältig neben sich auf die Ruderbank. Er kramt in den Innentaschen seines grauen Anzugs und holt eine Thermoskanne hervor, dazu zwei Becher. „Sie sehen aus, als ob Sie etwas Kakao vertragen könnten“, sagt er und hält dir einen vollen Becher hin.
Du müsstest eine Hand von der Reeling lösen, um ihn in die Hand nehmen zu können. Der Kakao dampft. Du spürst, wie kalt dir ist. Sicherheit gegen Wärme. Der dünne Mann wartet geduldig. Es duftet nach Schokolade und plötzlich ist dir nicht mehr übel. Vorsichtig löst du einen Finger nach dem anderen von der Reeling und greifst nach dem Becher. Er ist warm. Du nimmst einen Schluck.
„Gut“, sagt der dünne Mann. Ein Regentropfen hängt an seiner Nase. „Sie sind weit draußen. Der Sturm war heftig, was?“
Du nickst.
„Wollen Sie an Land?“
Du nickst wieder. „Ich hab die Ruder verloren“, sagst du.
„Ich würde eher sagen, Sie haben sie aus den Augen verloren“, sagt der dünne Mann und tippt außen an die Bordwand.
Mit äußerster Vorsicht lehnst du dich erst nach links, dann nach rechts. Du setzt dich aufrecht hin und starrst den dünnen Mann an. Deine Ruder hängen außen an den Bordwänden. Du hast sie nicht gesehen.
„Dafür bin ja ich da“, sagt der Mann und wippt mit den Gummistiefeln. „Wollen Sie dahin oder dorthin?“
Du guckst ratlos. Du siehst überall Wellen und nichts anderes. Aber wenn er es vorschlägt… aufs geradewohl zeigst du nach links.
„Gut“, sagt der Mann. „Dann wollen wir mal.“ Er greift sich das Ruder auf der rechten Seite und sieht dich auffordernd an.
Es dauert einen Moment, bevor du kapierst. Schnell trinkst du den letzten Schluck Kakao und nimmst das linke Ruder.
„Hilfe zur Selbsthilfe nennen wir das“, sagt der dünne Mann. „Sonst wäre es ja zu einfach.“
Ihr legt euch in die Ruder. Der Wind kommt jetzt von hinten.
„Von wo sind Sie denn gestartet?“ fragt der dünne Mann.
Und du fängst an zu erzählen.

Herr Miesling und das Fest

Herr Miesling und das Fest

Herr Miesling hat schlechte Laune. Weihnachten rückt immer näher, und diese Tage sind sind nicht gerade seine Lieblingszeit im Jahr. Waren es noch nie. Außerdem regnet es die ganze Zeit. Oder die Stadt ertrinkt in grauer Nebelsuppe, und wenn die weg ist, regnet es wieder. Ärgerlich kickt Herr Miesling einen kleinen Stein vom Gehweg. Die letzten Heiligabende hat er bei Siggi in der Kneipe verbracht, aber nicht mal das darf man mehr. Die Kneipe ist schon seit Wochen geschlossen. Dieses blöde Corona! Langsam ist er es leid. Mit einem tiefen Seufzer bleibt er auf dem Gehweg stehen, zieht die Schultern hoch und guckt nach oben. Kein einziger Stern schafft es durch den Nebel, nur eine einsame Lichterkette blinkt rot-blau-weiß in einem Fenster vor sich hin. Lichterketten! Sein Engel hat ihn praktisch gezwungen, so ein Ding im Second-Hand-Shop zu kaufen, und nun blinken bei ihm zu Hause zwanzig Plastikrentiere auf dem Küchentisch. Was solls. Da braucht er das Deckenlicht nicht einzuschalten, das spart Strom.
Herr Miesling lässt die Schultern sinken und setzt sich schlurfend wieder in Bewegung, als sein Engel ihn am Arm zieht. „Was is?“ fragt Herr Miesling ungehalten. Auf so einen dämlichen Engelkram hat er jetzt wirklich keine Lust. Sein Engel zeigt auf einen grauen Plastiksack, der neben einer Mülltonne auf der anderen Straßenseite steht. Oben aus dem Sack gucken Tannenzweige heraus. Herr Miesling spitzt den Mund, dreht sich nach links und rechts und überquert die Straße. Prüfend befühlt er die Zweige. Sie sind frisch und sehr pieksig. Blautanne. Weiter unten im Sack erahnt er Efeu, Wacholder könnte auch drin sein. Da hat jemand in seinem Garten aufgeräumt. „Das is dann wohl unsers, was?“ flüstert er seinem Engel zu, hebt den Sack auf seinen Rücken und macht sich davon, so schnell er kann.
Vor der Kneipe setzt er den Sack auf den Boden und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Ganz schön schwer, so´n bisschen Grünzeug! Er setzt seinen Zeigefinger auf die Klingel und läutet. Es ist ein triumphales Läuten.
„Werner! Was machst´n für´n Lärm! Nimm deinen Finger von der Klingel!“ Siggi beugt sich aus seinem Fenster über der Kneipe. „Was haste denn da neben dir? Ne Leiche im Sack?“ Er kichert, dann setzt er seine Brille auf, guckt noch einmal und strahlt plötzlich. „Sach nich, du hast Grünzeug gefunden! Das is ja´n Ding! Die Frau wird Augen machen!“
Herr Miesling guckt stolz auf seinen grauen Tannenzweigsack. „Der stand da einfach so rum. Sollte in den Müll, da dachte ich, ich bring ihn lieber zu dir.“
„Warte, ich komm runter.“ Siggi verschwindet aus dem Fenster und taucht eine Minute später in der Kneipentür auf. „Das is toll. Da kann die Frau doch noch diesen Weihnachtstüdel machen. Willste auch eins? Macht sich nett auf dem Küchentisch. Legste noch ne Lichterkette drüber, fertich.“
Herr Miesling überlegt. Sein Engel stößt ihn in die Seite. „Wennde eins über hast…“
„Klar! Du bist doch der Lieferant! Sach mal, Werner… „, Siggi druckst verlegen herum, „wir ham ja zu, und es is ganz schön einsam ohne euch alle, sach ich dir. Haste nich Lust, Heiligabend zu uns zu kommen? Die Frau macht Kartoffelsalat mit Würstchen, aber nur zu zweit, das is irgendwie komisch. Zwei Haushalte dürfen ja zusammen!“ Er schaut Herrn Miesling fragend an.
In Herrn Mieslings Brust wird es ganz warm. „Och, ja, warum nicht…“ murmelt er und versucht, nicht zu glücklich auszusehen. „Ich, äh, ich hab ja sonst nichts vor.“
„Super!“ Siggi klopft Herrn Miesling auf den Rücken. „Gott, bin ich erleichtert! Nur die Frau und ich, an Weihnachten alleine, das is nix, wir kriegen uns nur in die Haare. Dann sehen wir uns Heiligabend um fünf!“ Er nimmt den Sack und geht zur Tür. „Und morgen kommste vorbei und holst dein Tannendings ab, hörste?“
Herr Miesling nickt. Er sieht zu, wie Siggi hinter der Tür verschwindet. Dann dreht er sich um und macht sich auf den Weg. Sein Engel hakt ihn unter. Gemeinsam schaukeln sie unter den Lichtkegeln der Straßenlaternen nach Haus.