Was würdest du tun, wenn du dein Leben nicht einmal, sondern viele Male leben würdest? Harry August lebt in einer Zeitschleife, er wird nach seinem Tod erneut geboren, im selben Jahr, im selben Leben, aber mit wachsenden Erinnerungen, denn er vergisst nichts. Dann erreicht ihn ein Hilferuf aus der Zukunft: Die Welt wird untergehen, was unvermeidlich ist, aber es wird viel früher als erwartet geschehen.
Das Buch ist brillant geschrieben, soviel zu Anfang. Es wird (um gleich im Zeitreisemodus zu bleiben) auf jeden Fall am Ende des Jahres zu meinen Lesehöhepunkten gehören. Die Autorin Claire North hat einen Mix aus SciFi und Fantasy geschrieben, bleibt aber wunderbarerweise weitab von allen gängigen Klischees, was eine Wohltat für die Leserin/den Leser ist. Es breitet sich eine intelligente, klug konstruierte Geschichte vor dem staunenden Leser aus. Der Protagonist erzählt uns seine Geschichte im Rückblick, der rote Faden ist erkennbar, wird jedoch in vielen Wirbeln erzählt, die einem anfangs etwas Geduld abverlangen, die sich aber mehr als auszahlt. Außerdem sind die Wirbel auch noch sehr unterhaltsam geschrieben, so dass die Abstecher vom roten Faden mit zunehmenden gelesenen Seiten immer mehr Freude machen. Ich zumindest fand die abnehmende Anzahl der noch zu lesenden Seiten immer beunruhigender, je weiter ich mich dem Ende näherte, in dem es um nichts geringeres als die Rettung der Welt geht. Zumindest vorläufig.
Neben dem vielen Klein-Klein des Alltags, das durchaus auch Erwähnung findet, geht es in vielen Passagen um philosophische, ethische und politische Fragen, die sich unweigerlich stellen, wenn man viele Leben lang Zeit und die Möglichkeiten hat, etwas zu ändern. Darf man wissenschaftliche Entdeckungen anstoßen, bevor ihre Zeit von selbst gekommen ist? Darf man jemanden töten, weil er sonst viele andere töten wird? Kann man Kriege verhindern und wenn ja, darf man? Diese für einen Roman eher unverdaulichen Fragen werden elegant und ohne zu stolpern in der Handlung versteckt. Sie tauchen immer wieder einmal auf, manchmal scheint es Antworten zu geben, manchmal nicht, und der Leser saugt das alles fasziniert in sich auf, berauscht von all diesen Möglichkeiten!
Und wenn man viele Möglichkeiten hat, sehr viele, erledigt sich die Frage nach der einen, leidenschaftlichen Liebe zumindest für diese Autorin von selbst, außer, sie hätte ein sehr langweiliges Buch schreiben wollen: Was sollte darin passieren, außer, dass der Protagonist in jedem Leben wieder seine eine Liebe sucht, findet, heiratet und alles von vorn beginnt? Das passiert in diesem Buch nicht. Harry verliebt sich und heiratet, ja, durchaus, aber die Beziehung, um die es in diesem Buch wirklich geht, ist die Feindschaft/Freundschaft mit einem anderen Zeitschleifenbewohner, wie uns schon die Einleitung ganz vorn im Buch verrät. Widersprüchlich, ambivalent, nie ist wirklich abschließend sicher, wie die beiden zueinander stehen: Sie lieben und hassen sich, vertrauen einander nie wirklich, können aber auch nicht ohne einander. Die großen Fragen (Ethik, Verantwortung, Schuld) trennen sie voneinander, bringen sie aber auch immer wieder zusammen. Der Schauplatz dieser vielschichtigen Beziehung ist das 20. Jahrhundert von etwa 1920 bis etwa 2000, je nachdem, wann Harry in seinen jeweiligen Leben stirbt. Dazu kommt die Vergangenheit und das Raunen aus der Zukunft, wenn die Zeitschleifenreisenden (denn es gibt mehr von ihnen) Nachrichten von Jung zu Alt zurück in die Zeit schicken.
Das alles ist intelligent zusammengesetzt und in einem angenehmen, eloquenten Schreibstil verfasst, der mich schon auf den ersten Seiten überzeugt hat. Ich wage mich nicht zu fragen, wie lange es wohl gedauert hat, bis die Autorin ihren ersten Entwurf dieser logischen, verschachtelten, hochkomplexen Zeitreisegeschichte fertig hatte. Ich hätte vermutlich graue Haare bekommen nur beim Gedanken daran. Der Roman hat den John W. Campbell Memorial Award 2015 gewonnen und stand auf der Shortlist des Arthur C. Clarke Awards, und das völlig zu Recht. Große Empfehlung!