Wellenbrink und Gnorm


Teil V

Und dann kam es, wie es immer kam: Es ging zu Ende. Herr Wellenbrink und Gnorm hatten versucht, Kekse zu backen, und beim dritten Versuch waren sie sogar essbar und nicht ganz so schlimm verbrannt gewesen. Gnorm hatte trotz Herrn Wellenbrinks Protesten im Treppenhaus kleine goldene Sterne verstreut und durch die verschlossene Haustür verwundert den Schimpftiraden der Reinemachefrau gelauscht („mag sie denn keine Sterne?“ hatte er ihn verständnislos gefragt). Herr Wellenbrink hatte drei Auftritte mit seinem neuen Chor gehabt, war vorher nur fast an Lampenfieber gestorben und hinterher mit den Chorleuten essen gewesen. Als absolute Krönung war er gefragt worden, ob er nicht auch nach Weihnachten wieder zu den Proben kommen wollte. Er hatte das noch nicht endgültig entschieden, aber die Chancen standen gut. Seine Schlehenlikörvorräte waren alle.
Und dann sagte Gnorm eines Abends, dass er sich wieder auf den Weg machen müsse. „Ich bin schon viel zu lange bei dir“. Es klang fast entschuldigend.
Herr Wellenbrink musste sich setzen. Er nickte langsam.
Gnorm nahm einen Schluck heißes Bier. „Wir haben ja noch mehr Menschen, um die wir uns kümmern müssen, weisst du.“
Herr Wellenbrink nickte wieder stumm.
„Eigentlich war ich ja überhaupt nicht eingeteilt bei dir. Das war nur, weil mir vorher so ein kleines Mißgeschick passiert ist… da haben sie mich zu dir geschickt.“ Gnorm spielte mit seinem Bier-Eierbecher und sah angestrengt hinein, als ob am Grund etwas ganz und gar Außerordentliches zu finden wäre. „Und das war wirklich gut. Bei dir, meine ich. Hier.“
Herr Wellenbrink räusperte sich. „Fand ich auch. Das du hier bist. Warst.“
Sie sahen sich an. Zwei Atemzüge lang hing funkelnde Stille zwischen ihnen, dann war alles gesagt, was gesagt werden musste.
„Ja, dann…“, Herr Wellenbrink setzte sich aufrecht hin, „wann musst du denn gehen?“
„Ich glaube, heute nach dem Abendbrot wäre ein guter Zeitpunkt. Der Mond ist schön rund heute, da geht alles leichter.“
„Oh. Gut. Dann… dann sollten wir wohl Abendbrot essen, oder?“
Gnorm nickte. Herr Wellenbrink machte sich an die Arbeit. Er holte den guten Frühstücksspeck heraus und die Bioeier, die er erst kaufte, seit Gnorm ihn entrüstet gefragt hatte, ob er denn Hühner nicht leiden könne? Doch? Und warum er dann die Eier von den armen Gefängnishühnern kaufen würde? Dazu setzte er den guten Kaffee auf und stellte die Schale mit Würfelzucker auf den Tisch. Wer würde den restlichen Zucker essen, wenn Gnorm nicht mehr da war? Vielleicht würde er ihn mitnehmen wollen? Herr Wellenbrink schüttelte den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Es half ja alles nichts. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass Gnorm nicht bleiben würde. Er war ein Wichtel, um Himmelswillen! Die wohnten nun mal nicht bei alten Männern, sondern… woanders. Auf jeden Fall nicht hier, bei ihm. Aber er hatte das ganz erfolgreich verdrängt in den letzten Tagen.
Beim Essen gaben sie sich beide Mühe, so zu tun, als ob alles wie immer wäre, aber es gelang ihnen nicht wirklich gut. Immer wieder kehrte Schweigen ein. Geschwiegen hatten sie sonst auch, aber es war eine andere Art Schweigen gewesen. Jetzt hing der drohende Abschied dazwischen und färbte es grau ein.
Mit einem tiefen Seufzer lehnte Gnorm sich zurück, als er fertig war. Herr Wellenbrink legte Messer und Gabel auf seinen Teller und sah Gnorm an. „Komm. Es nützt ja nichts. Lass es uns hinter uns bringen.“
Gnorm seufzte noch einmal, dann rutschte er vom Tisch und verschwand im Flur, um seinen Rucksack zu holen. Herr Wellenbrink schüttete den Zucker in eine Tüte und band sie zu. Dann ging er in den Flur. „Hier“, sagte er und streckte Gnorm die Tüte hin.
„Nein, danke, wir dürfen nichts mitnehmen. Trotzdem danke. An deinen Kaffee werde ich mich gern erinnern. Und an das heiße Bier auch.“
„Ich mich an dich auch.“ Unbeholfen schüttelten sie sich die Hände, dann ging Herr Wellenbrink zur Haustür und öffnete sie.
„Neiiiiiin!“ rief Gnorm. „Ich bin ein Wichtel, zum grünstichigen Polarleuchten nochmal! Wir gehen doch nicht durch Türen!“ Er flitzte ins Schlafzimmer und kletterte auf das Fensterbrett. „Los! Mach auf!“
Herr Wellenbrink ging dem Wichtel hinterher und lächelte jetzt doch, dann öffnete er das Fenster. Gnorm hüpfte in den Blumenkasten zwischen die vertrockneten Geranien und drehte sich noch einmal um. „Vielleicht ja bis zum nächsten Jahr?“ flüsterte er, dann sprang er über den Rand des Blumenkastens. Herr Wellenbrink sah erschrocken hinterher, dann beugte er sich nach draußen. Da! An der Regenrinne bewegte sich etwas kleines, dunkles blitzschnell nach unten, kam auf dem Bürgersteig auf und verschwand mit spiegelnder Glatze hinter der nächsten Straßenecke. Herr Wellenbrink atmete tief durch und schloss das Fenster. Eine Weile stand er noch da und sah nach draußen, dann ging er langsam in die Küche zurück. Auf dem Tisch lag die Zuckertüte neben einem Schälchen goldender Sterne, die er vor der Reinemachefrau gerettet hatte. Das Geschirr stand noch auf dem Tisch, in der Luft hing der Geruch nach gebratenem Frühstücksspeck. Herr Wellenbrink drehte sich auf dem Absatz um, nahm seine Jacke vom Haken und schlüpfte in seine Straßenschuhe. Er würde einen Spaziergang machen. Sich ein bisschen durchlüften. Vielleicht würde er sich danach besser fühlen.

Als er eine Stunde später zurückkehrte, fühlte er sich tatsächlich besser. Frische Luft half doch immer. Er würde aufräumen und sich danach einen Film im Fernsehen anschalten, das hatte er vor Gnorm ja auch immer gemacht. Und es nützte ja wirklich nichts, was half es, wenn er sich anstellte wie ein Teenager nach dem Verlust der ersten, großen Liebe. Er schloss die Tür auf, betrat seine Wohnung und zog den Mantel aus. Es roch immer noch nach Frühstücksspeck. Entschlossen betrat er die Küche, und da saß Gnorm am Tisch und grinste ihn an. Herrn Wellenbrink fiel der Schal aus der Hand. „Was… was machst du hier?“ fragte er.
„Du hast aber lange gebraucht, ich bin schon seit einer Ewigkeit wieder da!“
„Egal! Was machst du hier?“
„Ach, weisst du, als ich so gelaufen bin, dachte ich mir, ist doch eigentlich seltsam, dass mich niemand abgeholt hat. Ich meine, wenn ich sonst zu lange gebraucht habe, ist immer jemand gekommen, um mir ein bisschen Feuer unterm Hintern zu machen. Dieses Mal aber nicht. Was, wenn ich hier einfach noch nicht fertig bin? Dann würde ich mich ja unerlaubt vom Einsatz entfernen! Das wäre ein Verstoß gegen die Regeln! Und ich würde doch nie gegen die Regeln verstoßen!“ Jetzt grinste Gnorm von einem Ohr zum anderen. Herr Wellenbrink starrte ihn immer noch an, als ob er nicht echt wäre. Gnorm hörte auf zu grinsen. „Aber wenn du möchtest, dass ich wieder gehe, tue ich das natürlich.“
„Nein!“ rief Herr Wellenbrink. „Du kannst bleiben, solange du möchtest!“
„Echt?“
„Klar!“ Herr Wellenbrink ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Er guckte Gnorm an.
„Was? Hab ich plötzlich blaue Haare, oder was?“ Gnorm grinste.
„Nein. Ich hab bloß überlegt, ob deine Nase immer schon so knubbelig war.“ Herr Wellenbrink fühlte sich warm und glücklich und voller Tatendrang.
„Na klar ist sie das, wir haben schließlich schöne Nasen im Gegensatz zu euren nackten Sprungschanzen! Was meinst du: Kann ich noch Kaffee haben? Mit Zucker?“
„Aber selbstverständlich“, sagte Herr Wellenbrink.

Wellenbrink & Gnorm Teil I
Wellenbrink & Gnorm Teil II
Wellenbrink & Gnorm Teil III
Wellenbrink & Gnorm Teil IV

Wellenbrink und Gnorm


Teil IV

Herr Wellenbrink schwitzte, aber nicht weil ihm zu warm war, sondern weil er vor lauter Lampenfieber kaum atmen konnte. Warum um alles in der Welt hatte er sich zu diesem Wahnsinn überreden lassen? Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Nach ihrem nächtlichen Ausflug auf den Marktplatz waren sie nach Haus gegangen, hatten noch ein oder zwei Schlehenliköre getrunken um sich zu beruhigen und waren dann wie zwei nasse Mehlsäcke ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen hatte er sich eine ausgiebige Dusche gegönnt. Als er aus dem Bad kam, saß Gnorm an der Wand gegenüber und starrte ihn nachdenklich an.
„Was machst du hier?“ fragte Herr Wellenbrink. Gnorm sah besorgniserregend zufrieden aus.
„Du kannst ganz gut singen, was?“
Herr Wellenbrink kniff die Augen zusammen. „Wieso?“
„Nur so. Was hast du da eben gesungen? Ich hab etwas mit roter Sonne und bleichem Mond und einer Marie verstanden.“
„Das waren die Capri-Fischer“, antwortete Herr Wellenbrink nicht ohne Stolz. Er sang immer unter der Dusche, und die rote Sonne, die im Meer versank, war eines seiner Lieblingslieder, besonders, wenn er sich den Rücken mit seiner Massagebürste einseifte.
„Aha. Wie sieht es denn mit Weihnachtsliedern aus?“
„Wieso Weihnachtslieder?“
„Na, kannst du welche auswendig?“
„Ich kann jede Menge auswendig. Ich war immer ein guter Auswendiglerner.“
„Auch Oh du fröhliche?“
Spätestens jetzt hätte er misstrauisch werden sollen. Aber er hatte einfach: „Ja, natürlich“, geantwortet und damit war sein Schicksal besiegelt gewesen. Als Gnorm herausgefunden hatte, dass Herr Wellenbrink nicht nur Oh du fröhliche, sondern auch zahlreiche andere Weihnachtslieder im Kopf hatte, beschloss er, dass sie zweistimmige Lieder auf der Straße singen würden. Dabei würde Herr Wellenbrink der sichtbare Teil ihres Duos sein, und er, Gnorm, der unsichtbare in einem Rucksack auf Herrn Wellenbrinks Rücken. Zweck des Ganzen war, Herrn Wellenbrink endlich wieder in die weihnachtliche Spur zu bringen.
Selbstverständlich lehnte Herr Wellenbrink dieses völlig absurde Vorhaben kategorisch ab, er würde sich doch nicht auf die Straße stellen und Lieder singen, wo kämen sie denn da hin, niemals würde er sich dermaßen lächerlich machen, was Gnorm denn einfiele! Aber er hatte nicht mit der Beharrlichkeit des Wichtels gerechnet, und nachdem sie tagelang (zumindest kam es ihm so vor) gestritten hatten, knickte er schließlich ein.
Gnorm strahlte triumphierend. Er wühlte in seinem speckigen Rucksack herum und zog von ganz unten eine Blechtröte hervor. „Hier! Ich wusste doch, dass sie irgendwo da drin war!“
Herr Wellenbrink seufzte. „Herrje. Soll ich jetzt auch noch auf dem Ding spielen, während ich singe?“
„Nein, nein, die werde ich spielen!“ Gnorm rieb mit seinem Ärmel an der Tröte herum. „Die hab ich schon lange nicht mehr rausgeholt, hoffentlich funktioniert sie noch.“
Herr Wellenbrink war nicht überzeugt. „Das alte Ding? Die sieht älter aus als ich.“
„Oh, das ist sie auch. Pass mal auf.“ Er hielt sich die Tröte nicht an den Mund, sondern an den Hals, machte den Mund auf und sang in tiefem Bass die Unterstimme zu Oh du fröhliche. Aus der Tröte kamen Mundharmonikaklänge, ein bisschen Rythmus und ab und an klingelte eine Triangel. Gnorm war sein eigenes Miniorchester. Herr Wellenbrink starrte ihn an.
„Toll, was? Hab ich schon ewig nicht mehr benutzt. Sehr praktisch, wenn man Musik braucht und kein Engel in der Gegend ist. Obwohl ja heutzutage immer und überall Musik ist, auch, wenn man sie gerade nicht haben will.“ Er seufzte, dann hellte seine Miene sich auf. „Aber jetzt singen wir ja!“
Herr Wellenbrink sah auf die Tröte, dann auf den Wichtel. „Was hast du eigentlich noch alles in diesem Rucksack?“
„Och, so dies und das. Los jetzt, lass uns üben!“
Sie übten, bis die Weihnachtslieder Herrn Wellenbrink zu den Ohren heraus kamen, und dann kam der Tag des Auftritts. Herr Wellenbrink stand wieder auf dem Marktplatz, dieses Mal bei Tageslicht, und versuchte, sein bodenloses Lampenfieber in den Griff zu bekommen. Gnorm flüsterte ihm aus dem Rucksack aufmunternde Worte zu, aber die halfen ihm überhaupt nicht. Seine Knie zitterten, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, er brachte keinen einzigen Ton hervor und das einzige, woran er denken konnte, war, wie klein und verlassen und vor allem wie allein er da stand, während eilige Passanten an ihm vorbeiliefen. Die große, neue Weihnachtstanne stand ihm genau gegenüber, ohne seinen goldenen Stern auf der Spitze, und auch das half ihm nicht im geringsten.
„Los, jetzt mach endlich! Sing was!“ Gnorms Flüstern klang aufgebracht.
„Ich kann nicht!“
„Doch, du kannst! Wir haben das doch geprobt!
„Ja, aber alleine und ohne Publikum! Ich kann nicht!“
„Wenn du nicht anfängst, fange ich an!“
„Nein!“
„Ooooh, du frööhliche-he-hee, oooh, du frööhliche-he-hee…“ Gnorm sang die Bassstimme, und seine Tröte lieferte die Begleitmusik dazu. Eine junge Frau wandte interessiert den Kopf, um herauszufinden, wo die plötzliche Musik herkam. Herr Wellenbrink presste ein paar Töne aus seiner zittrigen Kehle. Sie klangen wie rostige Türangeln und passten überhaupt nicht zu Gnorms Bass. Zwei Passanten lächelten, mitleidig, wie es Herrn Wellenbrink vorkam. Er verstummte und versuchte es noch einmal. Nichts. Da kam gar nichts. Seine Stimme war verschwunden. Herr Wellenbrink ergriff zum zweiten Mal in dieser Woche die Flucht, während die Tröte im Rucksack verstummte. An ihre Stelle traten leise, aber phantasievolle Flüche.
Zuhause angekommen setzte er den Rucksack ab, öffnete ihn und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er fühlte sich, als wäre er einen Marathon gelaufen. Gnorm sah aus dem Rucksack zu ihm hoch. „Tja. Das ist aber jawohl sowas von in die Grütze gegangen. Du hast eindeutig mehr Lampenfieber, als ich dachte.“
„Tut mir leid“, flüsterte Herr Wellenbrink. Wie durch ein Wunder war seine Stimme wieder da gewesen, als er den Marktplatz hinter sich gelassen hatte.
„Ach, so ein gequirlter Schwachsinn. Mir tut es leid. Ich hätte dich ernst nehmen sollen. Ich bin ´ne totale Rampensau, weisst du? Mir kann es gar nicht genug Publikum sein, je mehr, desto besser bin ich…“ Gnorm lächelte, als ob er sich an etwas Schönes erinnern würde. „Ich kann einfach nicht nachvollziehen, dass das bei jemand anderem anders sein könnte. Mein Hirn ist zu klein für sowas.“
Herr Wellenbrink ächzte leise. Die Schmach saß ihm tief in den Knochen. „Ich bin früher auch mal aufgetreten, weisst du? Aber da war ich nicht alleine!“
„Wo bist du denn aufgetreten?“ Gnorm klang schon wieder viel zu interessiert.
„Nein, nein, nein! Vergiß es! Lass es einfach gut sein, ok?“
„Ja, gut, ich sag ja schon nichts mehr. Komm, lass uns ein heißes Bier trinken, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“ Heißes Bier hatte sich zu Gnorms Lieblingsgetränk entwickelt.
„Kannst du gerne machen. Ich brauch noch einen Moment.“ Herr Wellenbrink wischte sich mit den Händen übers Gesicht und durchlebte noch einmal die alptraumhafte letzte halbe Stunde, als es an der Tür klingelte. Er hob den Kopf. Wer konnte das sein? Er erwartete niemanden. Mit immer noch wackligen Beinen stand er auf und öffnete. Draußen stand seine Nachbarin von gegenüber. „Ja?“ fragte Herr Wellenbrink.
„Hallo. Äh… also mir ist das jetzt ein bißchen peinlich, aber ich habe Sie in den letzten Tagen ziemlich laut gehört, und…“
„Kommt nicht wieder vor. Bitte entschuldigen Sie.“
„Nein, nein, so meine ich das nicht. Ich wollte sagen, ich habe Sie gehört, und es hat mir gefallen. Ich singe in einem kleinen Chor, und uns ist der Tenor ausgefallen, und ich wollte fragen, ob Sie vielleicht Interesse hätten?“ Die Frau verstummte und sah Herrn Wellenbrink nervös an. „Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber wir haben morgen einen Auftritt, und wir brauchen eine Männerstimme, Sie können alle Lieder und Sie singen gut, und Zeit haben Sie doch auch, oder? Bitte!“
Herr Wellenbrink starrte sie an. Er? Singen? Nachdem er gerade eben eine der größen Blamagen seines Lebens erlitten hatte? Im Hintergrund hörte er Gnorm auf- und abhopsen, und wenn er sich nicht irrte, waren auch Triangelklänge zwischen dem Gehopse erkennbar. Während er noch überlegte, wie er ihr höflich absagen konnte, hörte er sich zu seiner eigenen, grenzenlosen Überraschung sagen: „Natürlich. Wenn Sie mich brauchen, kann ich ja nicht nein sagen, oder?“
Seine Nachbarin sah aus, als ob ihr ein Stein vom Herzen fiele. Seines dagegen hüpfte im Takt der Triangelklänge, die immer noch aus seiner Wohnung kamen.

Wellenbrink & Gnorm Teil I
Wellenbrink & Gnorm Teil II
Wellenbrink & Gnorm Teil III
Wellenbrink & Gnorm Teil V

 

Wellenbrink und Gnorm


Teil III

Herr Wellenbrink hatte ein ganz schlechtes Gefühl. Sorgenvoll blickte er an seinem guten schwarzen Mantel, der schwarzen Cordhose und seinen besten schwarzen Tanzschuhen hinunter. Wie um Himmels willen hatte er sich nur zu dieser Aktion überreden lassen können? Aber nun war es zu spät, ihr Ziel befand sich bereits in Sichtweite, und Gnorm war einfach nicht aufzuhalten. Abgesehen davon war er auch ziemlich schlecht zu sehen in der Dunkelheit. Nicht nur, dass er wirklich winzig war, was Herr Wellenbrink schon fast vergessen hatte, solange sie sich in seiner Wohnung aufgehalten hatten, nein, zu allem anderen Übel war er genauso schwarz gekleidet wie Herr Wellenbrink selber und verschwand damit fast in der Nacht. Nur der schwach glimmende Leuchtstab in seiner Hand zeigte an, wo er sich gerade befand. Zumindest den Leuchtstab hatte Herr Wellenbrink ausgehandelt. Wenn es nach Gnorm gegangen wäre, hätten sie ihre Mission in schwärzester Dunkelheit ausgeführt.
Herr Wellenbrink blieb einen Moment stehen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Nicht zu glauben, dass jemand, der so klein war, so schnell sein konnte. Noch ein paar Jahre weiter, überlegte er grimmig, und er würde einen E-Rollstuhl brauchen, um nicht auf halber Strecke schlapp zu machen bei diesem Tempo. Glücklicherweise hatten sie ihr Ziel fast erreicht. Außerdem kannte er sich hier aus, auch in der Dunkelheit. Sein Stadtteil! Sein Marktplatz.
Jetzt allerdings sah der Marktplatz doch ein bisschen fremd aus, fast ohne Beleuchtung und ohne die hell strahlenden Fenster der zahlreichen Geschäfte, die in großem Bogen rund um das Rathaus standen. Die riesige Weihnachtstanne stand bereits, er konnte ihre schwarzen Umrisse schwach gegen den etwas weniger dunklen Himmel sehen.
Gnorm war ein paar Meter vor ihm, das Licht seines Leuchtstabs warf ein trübes Licht auf das nasse Kopfsteinpflaster. „Jetzt komm endlich!“ zischte er Herrn Wellenbrink zu, der innerlich aufstöhnte. Nasses Kopfsteinpflaster! In der Dunkelheit! In seinem Alter, in rutschigen Tanzschuhen! Und dann sollte er auch noch schnell machen! Trotzdem beeilte er sich. Je schneller sie fertig waren, desto schneller konnten sie wieder nach Hause. Der unregelmässig ausgebeulte Rucksack hing schwer auf seinen Schultern und puffte ihm immer wieder in die Rippen. Bestens. Noch mehr blaue Flecken. Herr Wellenbrink lachte tonlos. Niemand würde ihm diese Geschichte jemals glauben, soviel stand fest.
Jetzt waren sie an der großen Weihnachtstanne angekommen. Sie ragte endlos vor ihnen auf und er bekam Angst. „Bist du wirklich sicher?“ flüsterte er.
„Natürlich! Was glaubst du denn!“ fragte Gnorm entrüstet zurück. „Wollen wir jetzt Eindruck machen oder nicht?“
„Doch, doch. Klar. Ich frag ja nur. Ist ganz schön hoch, oder?“
„Ach, papperlapapp. Die ist doch ein Zwerg. Du solltest mal die Tannen bei uns sehen, DIE sind hoch! Hier, nimm mal den Leuchtstab und mach Licht!“ Gnorm drückte Herrn Wellenbrink das knorrige Stück Holz in die Hand und verschwand in den buschigen Tannenzweigen.
„Äh… wie geht denn das?“ rief Herr Wellenbrink ihm hinterher und fuchtelte ratlos mit dem Stock in der Hand herum. Augenblicklich fiel scheinwerferartiges Licht aus seiner Hand auf die Tanne. Sie warf riesige, bedrohliche Schatten an die Häuserwände ringsum. Panisch schüttelte er den Stock, der nur noch heller strahlte und versteckte ihn dann mangels anderer Möglichkeiten unter seinem schwarzen Mantel, der nun unheimlich von innen heraus leuchtete. Er hörte Gnorm heiser grunzen. Lachte der Wichtel etwa? Vorsichtig bewegte er den Stock unter seinem Mantel hin und her, bis das Licht schwächer wurde, dann zog er den Stab wieder hervor. Bestens. So wollte er es haben. Zufrieden leuchtete er an der Tanne hinauf, die raschelte und wackelte. Gnorm war schon fast oben, wenn er sich nicht sehr irrte. Da! Ein winziger, kahler Schädel stach durch die letzten buschigen Zweige direkt unter der Spitze. Die Tanne schwankte und ächzte. Meine Güte. Wenn er verantwortlich gewesen wäre für das Aufstellen des Baumes, er hätte die Leute zur Rechenschaft gezogen! Nie im Leben war das vom TÜV abgenommen worden.
Gnorm pfiff und Herr Wellenbrink zuckte zusammen. Mit weit offenen Augen starrte er nach oben in die Dunkelheit. Gnorm nahm ein Seil aus seinem Rucksack, zog eine Schlinge, zielte und warf es nach unten in Herrn Wellenbrinks Richtung, der es beim ersten Versuch fing. Na also! Herr Wellenbrink fühlte eine Woge aus Stolz in sich aufwallen.
Er schlang das Seil um einen Arm und befreite den großen, goldenen Holzstern aus seiner Rucksackverpackung. Er glänzte im Licht des Leuchtstabs, die kleinen Kristalle im Goldbelag glitzerten um die Wette. Sein Meisterstück! Liebevoll befestigte Herr Wellenbrink den Stern am Seil. Nun kam der Teil, der ihm am meisten Kopfzerbrechen bereitet hatte. Wie sollte ein vierzig Zentimeter großer Wichtel einen schweren Holzstern bewältigen, der größer war als er? Aber Gnorm hatte gesagt, dass er das seine Sorge sein lassen sollte. Vorsichtig ließ Herr Wellenbrink den Stern los, bis dessen volles Gewicht am Seil hing. Überrascht sah er zu, wie der Stern in nullkommanichts nach oben schwebte, als sei er nicht schwerer als ein Butterbrot. Gnorm steckte voller Überraschungen.
Die Tanne wankte. Es knackte in ihren Zweigen. Gnorm schob sich den Stern auf den Rücken und kletterte die dünne Spitze hinauf, an der er den Stern befestigen wollte, als sie langsam nachgab und sich elastisch nach unten bog. Plötzlich hing Gnorm am Ende eines perfekten, umgedrehten U´s aus Tannenzweigen, der Stern baumelte von seinem Rücken herab. Er leuchtete wirklich wunderschön, wie Herr Wellenbrink noch bemerkte, dann gab die Tanne ein Ächzen von sich, es knackte, knirschte und knallte, dann rauschte sie langsam, aber unerbittlich auf ihn zu. Herr Wellenbrink stieß einen Schrei aus, blieb aber wie angewurzelt stehen, links und rechts, hinter und vor ihm prasselten nadelige Zweige auf den Boden, wippten auf und ab, und als die Tanne zur Ruhe kam, stand Herr Wellenbrink immer noch steif und aufrecht da, überall rund um ihn herum Tannengrün und stachelige Nadeln. Er öffnete den Mund, aber es kam nichts heraus, dann sah er sich hektisch um. In zwei Fenstern über ihm ging das Licht an. Wo war Gnorm? Links vor ihm raschelte es, ein paar Äste wippten, dann hievte Gnorm sich zwischen einigen Zweigen hervor.
„Geht´s dir gut?“ rief er Herrn Wellenbrink zu. Der nickte benommen. „Dann schnell! Wir müssen hier weg! Hast du deinen Rucksack?“
Der Rucksack! Wo war er? Herr Wellenbrink suchte leicht fahrig zwischen den Zweigen herum, aber er war nirgends zu finden. Gnorm zog mit hektischen Bewegungen sein Seil unter dem Baum hervor. „Hast du ihn?“
„Nein!“
„Dann lass ihn liegen! Komm!“
„Aber… der Stern?“
„Ist irgendwo unter der Tanne. Keine Zeit mehr. Komm, sonst fliegen wir auf! Guck doch!“
Herr Wellenbrink sah auf. Oh. In ziemlich vielen Fenstern brannte jetzt Licht. Es erhellte schemenhaft den Marktplatz, die ersten Menschen sahen aus den Fenstern und blickten zu ihnen hinunter. Glücklicherweise war der Leuchtstab in seiner Hand erloschen, als ob er die Gefahr spüren würde. Gut. Dann würde er Rucksack und Stern halt opfern. Eilig suchte er sich einen Weg aus der Tanne heraus und lief zu Gnorm.
„Ich sag´s nicht gern“, flüsterte der, „aber kannst du mich auf den Arm nehmen? Wir verlieren uns sonst vielleicht.“
Herr Wellenbrink beugte sich kommentarlos nach unten, nahm Gnorm hoch und setzte ihn sich in die Armbeuge. Dann machte er sich davon, so schnell es ihm möglich war, verließ den Marktplatz, bog um zahlreiche Ecken und wechselte die Straßenseiten, bis sie weit genug entfernt waren. Bei der nächsten Bushaltestelle ließ er sich auf einen der unbequemen Plastiksessel fallen und atmete tief durch. Herrje. Dann spürte er, dass Gnorm in seinem Arm zitterte und seltsam heisere Laute ausstieß. Weinte er etwa? Ohje. Natürlich. Sie hatten versagt. „Hör mal“, sagte er tröstend zu dem Wichtel, „so schlimm ist es doch nicht. Wir erzählen einfach keinem davon. Und um die Tanne ist es nicht schade, besser sie fällt jetzt um als später, wenn alles voller Menschen ist.“
Gnorm beruhigte sich nicht. Er holte keuchend Luft und stieß dann wieder diese seltsamen, heiseren Laute aus. Herr Wellenbrink sah ihn genauer an. Lachte der Wichtel etwa?
„Hast du… hast du… gesehen, wie ich geflogen bin?“ Gnorm quietschte. „Dieser Stern… wie eine Sternschnuppe mit Bruchlandung! Und du… du hast da gestanden wie Gevatter Frost persönlich! Steif wie ein Eiszapfen!“ Er schüttelte sich vor Lachen und presste die Hände auf die Augen.
Herr Wellenbrink spürte, wie sich ein Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete und immer größer wurde. Schließlich lachten sie zusammen, bis ihre Bäuche wehtaten und die Bushaltestellensessel wackelten.
Ihre Mission war gescheitert. Aber wen störte das? Wenn er sich nicht sehr irrte, hatte er einen Freund gefunden. Und das war viel besser als jeder Tannenschmuck.

Wellenbrink & Gnorm Teil I
Wellenbrink & Gnorm Teil II
Wellenbrink & Gnorm Teil IV
Wellenbrink & Gnorm Teil V

Adventsmarmelade

Frau Müller hat für sowas keine Zeit. Das ist ja nett gemeint, aber mal ernsthaft: Wer braucht denn dieses ganze Weihnachtsgedöns? Marmelade gibt es wie Sand am Meer, eine ganze Supermarktregalwand ist voll damit, sie kann sich jede nur denkbare Sorte dort kaufen, und wenn sie wollte, würde sie das auch tun.
Überhaupt, dieses Lamettagetue: Die Leute machen sich was vor. Wenn man es nüchtern betrachtet, ist der zwölfte Monat dazu da, Buchhandlungen und Spielwarengeschäfte über den Rest des Jahres zu bringen und Restaurantbesitzer jubeln und frohlocken zu lassen. Und am Ende steht der Weihnachtsbaum doch nur entnadelt im Wohnzimmer und nichts hat sich geändert, nur das Konto ist leichter als im Monat zuvor.
Frau Müller sieht das Marmeladenglas prüfend an. Vielleicht kann sie es weiter verschenken? Sie runzelt die Stirn. Lieber nicht. Wer weiß, wer noch alles so eins bekommen hat. Ganz hinten im Schrank ist noch eine Lücke, da schiebt sie es fürs erste hinein. Sie bleibt lieber bei ihrer Stammmarke, Erdbeer, wie schon seit zwanzig Jahren. Sie hat viel zu viel zu tun, um sich mit überflüssigem Kram zu befassen, so nett gemeint er auch sein mag. Nett sein bringt nichts voran, das hat sie schon vor langer Zeit gelernt, was zählt, sind abgeschlossene Geschäfte. Umsatz. Mit diesen Gedanken putzt Frau Müller sich energisch die Zähne, zieht die Bettsocken an und sinkt müde ins Bett.

Sie träumt einen Traum.

Morgens setzt sie sich auf, zieht sich an und will Kaffee kochen, aber die Dose mit dem Pulver ist leer, der Vorratsschrank ebenfalls. Ärgerlich reisst sie die Kühlschranktür auf, um sich wenigstens das tägliche Erdbeermarmeladenbrot zu machen und starrt verständnislos in die Fächer. Es gibt Erdbeermarmelade. Und sonst nichts. Keine Eier, keine Butter, keinen Käse. Nur Erdbeermarmelade.
Voll böser Vorahnungen wirft sie die Kühlschranktür wieder zu und durchsucht alle Schränke und Schubladen. Sie findet Erdbeermarmelade in Dosen, Schalen und Tupperbehältern. Sonst nichts.
Verwirrt macht Frau Müller sich auf zum Supermarkt, um dort neue Lebensmittel einzukaufen. Dass sie vergessen hat, Straßenschuhe anzuziehen und in Hausschuhen los läuft, ist an diesem Morgen schon fast nebensächlich. Als sie die ersten Menschen mit Einkaufswagen sieht, beginnt sie zu ahnen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Und richtig: Alle Regale, die Tiefkühltruhen: Voll mit Erdbeermarmelade. Immerhin, es gibt mehr Sorten als bei ihr zuhause, püriert, mit Stückchen oder als Gelee, aber: Ausschließlich Erdbeeren. Sie läuft durch die Regale und kann es nicht fassen. Die übrigen Kunden sehen gelangweilt oder geschäftig aus, wie man eben aussieht, wenn man seinen Wocheneinkauf erledigt, selbst wenn der ausschließlich aus Erdbeermarmelade besteht.
Frau Müller traut sich nicht, jemanden auf die seltsame Einheitsnahrung anzusprechen, niemand hier sieht irritiert aus, und schlussendlich greift sie sich irgendein Glas aus den Regalen, es ist ja eh egal, es gibt nur ein Produkt, und rennt danach fast ins Büro, immer noch in Hausschuhen. Wenigstens ihren Kollegen müsste doch irgendetwas aufgefallen sein!
Als sie das Büro betritt, löffelt der Pförtner geistesabwesend Erdbeermarmelade, während er in der Zeitung blättert und sie durchwinkt, und ihr Kollege trinkt Erdbeerpüree anstatt des üblichen Kaffees.
Frau Müller beschließt zu schweigen. Irgendetwas muss sie essen, also zwingt sie mit Mühe ein paar Löffel der roten Masse hinunter und unterdrückt schaudernd ein Würgen. Das kann doch wohl alles nicht wahr sein!
Mittags versucht sie es voller Hoffnung beim Imbisswagen gegenüber. Anstatt mit Salat sind die flachen Bleche in der Auslage mit Marmelade gefüllt, und aus der Friteuse dampft es heiß und fruchtig süß. Frittierte Erdbeermarmeladenklümpchen sind im Angebot.

Schweißgebadet schreckt Frau Müller hoch. Ihr Wecker klingelt. Schwer atmend sinkt sie wieder zurück ins Kissen. Was für ein schrecklicher Traum!
In der Küche greift sie zögernd zur Kühlschranktür. Was, wenn… aber alles ist so, wie es sein soll: Eier, Butter und Käse sind da, und rechts in der Mitte steht wie immer die Erdbeermarmelade. Frau Müller sieht sie kritisch an. Ihr Magen zieht sich reflexartig zusammen beim Gedanken an Frühstück mit Erdbeeren. Nein. Heute nicht. Stattdessen angelt sie aus der hinteren Ecke des Schranks das geschenkte Glas und beäugt misstrauisch das Etikett. Apfel-Birne-Feige. Nun gut. Besser als Erdbeeren auf jeden Fall. Und dann ist sie gar nicht so übel, die Adventsmarmelade, Birnen- und Apfelaroma mischen sich mit Zimt und einem herben, nicht zu identifizierenden Duft, und ab und zu knirscht ein Feigenkorn zwischen den Zähnen.
Frau Müller ertappt sich dabei, wie sie mit dem Mund voller Adventsmarmelade darüber nachdenkt, wann sie das letzte Mal selber gekocht hat. Sie kann sich nicht erinnern.
Ihr letzter Urlaub ist auch schon sehr lange her.
Vielleicht sollte sie sich heute einfach mal frei nehmen.
Warum eigentlich nicht?

Aus adventlichen Gründen erneut gebloggt. Erstveröffentlichung im Dezember 2017 🙂 .

Wellenbrink und Gnorm



Teil I

Herr Wellenbrink wachte wie immer mitten in der Nacht auf, weil sein Körper dringend nach der Toilette verlangte. Innerlich seufzend schob er widerwillig die warme Decke zur Seite, setzte sich ächzend auf und angelte mit geschlossenen Augen nach seinen Pantoffeln. Das Licht ließ er aus, denn aus jahrelanger Erfahrung wusste er, dass das Wiedereinschlafen leichter sein würde, wenn er im Dunkeln ins Bad ging. Noch so ein Tribut, den das Älterwerden von einem forderte – die Jahre des seligen Durchschlafens waren wohl für immer vorbei, ganz zu schweigen vom früheren elastischen aus dem Bett springen. Heutzutage war er froh, wenn er ohne Bandscheibenschaden hoch kam.
Schlaftrunken schlurfte er zur Tür, öffnete sie und ging in den dunklen Flur. Früher, ja, da war alles anders gewesen. Da hätte ein kleines Nachtlicht im Flur gestanden, um ihm den Weg zu weisen. Aber seine Frau, Elsi, war nicht mehr da, und er hatte kein neues Licht aufgestellt, als das alte kaputt gegangen war.
Vorsichtig tastete er mit den Händen an der Wand entlang, gleich musste die Ecke nach rechts kommen, hinter der das Bad lag. Er stoppte. Was war das? Ein leises Schlurfen, ein Schleifen, das nicht hierher gehörte. Hier rührte sich normalerweise gar nichts, und nachts war es sowieso totenstill. Ohne das er es verhindern konnte, huschte ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht. Totenstill, ja, so war das hier bei ihm. Da! Wieder ein Schleifen, als ob jemand etwas über den Boden zog. Einbrecher? Bei ihm? Jetzt bereute er es, kein Licht eingeschaltet zu haben. Hier hinten gab es keinen Schalter, der Flur war fensterlos und stockfinster. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorne und stieß mit dem Fuß in eine weiche Masse, die erstickt „Aua!“ schrie. Erschrocken riß Herr Wellenbrink den anderen Fuß nach vorne, traf ein zweites Mal die Masse, die dieses Mal „Aaarghh!“ brüllte, ruderte mit den Armen, riß dabei den Garderobenständer um und fiel mit Gepolter schmerzhaft gegen die Wand und dann zu Boden, während die Schals und Mäntel, die an der Garderobe gehangen hatten, sich sanft wie eine Decke über ihn ausbreiteten.
Herr Wellenbrink überlegte kurz, ob er jetzt tot war, aber die Schmerzen in Hüfte und Po sprachen deutlich dagegen. Umständlich versuchte er, sich von den Stoffmassen zu befreien und verwünschte abermals, das Licht nicht eingeschaltet zu haben. Da! Vor ihm bewegte sich etwas in dem Stoffhaufen, sein Mantel wurde ihm von den Knien gezogen, er konnte spüren, wie kühle Luft auf seine Beine traf. Erschrocken ruderte er mit den Füßen, traf noch einmal ins Schwarze und erntete eine ganze Salve von phantasievollen Flüchen.
„Herrgottsakrakruzifixverdammtnochmal! So ein blöder Kackmist! Hab ich´s nicht gesagt, Dunkelheit ist nie gut, aber nein, diese dämlichen Büroasseln wussten es ja wieder besser! Wo ist dieser vermaledeite Lichtstab, wenn man ihn braucht! Au! Tritt mich noch einmal, du grobschlächtiger Mensch, dann vergeß ich mich! Was ist das hier für ein stinkender Stoffberg? Das riecht ja schlimmer als in jedem rattenverseuchten Kanalloch! Dreimal verfluchte regenwurmhäutige Assel! Nimm das von mir runter!“
Herr Wellenbrink atmete tief durch. Was auch immer da gerade passierte, es war besser als sein sonstiges Leben, das sich so langweilig anfühlte wie ein Paar durchgelatschte graue Wollsocken. Vorsichtig tastete er mit beiden Händen in dem Berg herum und hob seinen uralten gelben Regenmantel und eine zerlöcherte Strickjacke hoch, die er längst hatte entsorgen wollen.
„Au! Pass doch auf, du Dämlack! Meine Nase! Mann, immer krieg ich die Alten, nur weil ich einmal, ein-mal was kaputt gemacht habe… ah, mein Leuchtstab!“ Das Gefluche verstummte und mattgelbes Licht flammte auf. Herr Wellenbrink staunte. Halb begraben unter seinem Regenmantel hockte ein dicker kleiner Mann mit Glatze und Blaumann. Er hielt einen Holzstab hoch, von dessen knorrigem Ende das gelbe Licht ausging. Jetzt richtete er sich auf, und Herr Wellenbrink staunte noch mehr. Das waren doch höchstens 40 cm! Was für Menschen waren denn so klein? Und was um alles in der Welt machte er hier bei ihm in der Wohnung?
„Was glotzt du denn so?“ Der kleine Mann stach mit dem Leuchtstab in seine Richtung. „Wohl noch nie einen Wichtel gesehen, was? Ist ja auch kein Wunder, so wie du seit Jahren Weihnachten mit Füßen trittst! Nikolaussinger? Drei-Königs-Tag? Advent? Alles Fremdworte für dich, was?“
Herr Wellenbrink schwankte zwischen Belustigung, Beschämung und Wut. Ja, gut, er hatte Weihnachten in den letzten Jahren etwas schleifen lassen, aber das war doch wohl ganz allein seine Sache, oder? Der kleine Mann sah im schwankenden Licht grotesk aus, wie eine zu groß geratene, seltsame Puppe. Er war zu dick, zu kahl und mit dem Blaumann sah er absolut nicht aus wie ein Wichtel. Die hatte er sich immer ganz anders vorgestellt. Viel … netter.
„Was machst du hier?“ fragte er den Wichtel. Eine dumme Frage, aber etwas besseres fiel ihm nicht ein.
„Gott, wieder diese langweiligen, dämlichen Fragen. Immer dasselbe. Das übliche halt. Dich besuchen, auf den richtigen Weg bringen, blablabla, das, was wir immer tun, zum Schluß Friede, Freude, Eierkuchen und alle sind glücklich. Wer´s braucht…“ Abschätzig wedelte der kleine Mann mit der freien Hand, während er mit der anderen unter dem Regenmantel herumwühlte.
„Mich? Auf den Weg bringen?“ Herr Wellenbrink lachte verwundert. „Wieso das denn?“
„Ja, was weiß ich, ich bin hier nur das letzte Glied in der Kette, der Trottel, der die ganze Drecksarbeit macht, während die Herren Elfen schön Kakao trinken und in der Hängematte liegen. Und du siehst ja, wohin das führt! In die Dunkelheit, zu blauen Flecken, getreten werden und unerquicklichen, unnützen Gesprächen mit dummen Menschen!“ Die letzten Worte stieß der kleine Mann mit großer Verbitterung hervor.
Herr Wellenbrink überlegte. Egal, ob er nun vielleicht doch träumte oder ob ihm das gerade tatsächlich passierte: Das war sein erstes, längeres Gespräch seit Tagen, es mochte sein, dass er Weihnachten in den letzten Jahren erfolgreich ignoriert hatte, aber er hatte bei Gott nicht die Absicht, sich diese Geschichte entgehen zu lassen. Er versuchte zu lächeln, seine Gesichtsmuskeln knarrten bei dieser unerwarteten Anstrengung, aber es gelang ihm halbwegs.
„Weißt du was? Lass uns aufstehen, wir gehen ins Wohnzimmer, trinken einen Likör und du erzählst mir in Ruhe, was du von mir willst.“ Er begann ächzend, sich hochzurappeln. Der kleine Mann seufzte matt, schob die Regenjacke mitsamt der Strickjacke zur Seite und hiefte sich einen schmutzigen Rucksack auf den Rücken, von dem allerlei seltsame Geräte herunterhingen. Herr Wellenbrink erkannte einen Dosenöffner, einen Korkenzieher und Haarklemmen, die anderen Geräte wirkten fremd auf ihn. Der Leuchtstab warf zuckendes Licht an Wände und Decke. Als er es endlich geschafft hatte und sicher auf seinen Beinen stand, starrte er noch einmal staunend auf den Zwerg im Blaumann hinunter, dann stapfte er entschlossen zum Lichtschalter, schaltete die große, trübe Flurleuchte ein und beleuchtete das Durcheinander, das er angerichtet hatte. Die Garderobe hatte nicht nur alle Kleidungsstücke fallengelassen, sondern auch gleich noch den Schirmständer und das Schuhregal mitgerissen. Ein Wunder, dass weder er noch der Zwerg sich schlimmer verletzt hatten. Vermutlich würden sie beide schlimme blaue Flecken bekommen, aber das war jetzt zweitrangig.
„Komm schon, hier geht´s ins Wohnzimmer“, sagte er, drehte sich um und ging voran, ohne zu warten, ob der Zwerg nachkommen würde. Er war sich sicher, dass er ihm folgen würde, ohne sagen zu können, woher er das wusste. Und richtig. Verdrossen vor sich hin murmelnd folgte ihm der Kleine ins Wohnzimmer, sah sich um und steuerte den bequemsten Sessel an – seinen Sessel. Großzügig beschloss Herr Wellenbrink, heute ausnahmsweise das Sofa zu nehmen. Während er zwei Gläser und den Schlehenlikör aus der Vitrine nahm, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie der Zwerg am Bein des Sessels gekonnt hochkletterte.
„Ja, was? Guck nicht so! Was meinst du denn, wie wir überall reinkommen – mit Glitzerstaub etwa? Nene, das ist harte Arbeit, und nie, nie! wird sie gewürdigt, weil ja immer alles geheim bleiben muss!“ Bei dem Wort „geheim“ machte er mit beiden Händen Wackelbewegungen, wohl um die Absurdität des Ganzen zu betonen. Herr Wellenbrink machte zustimmende Geräusche und reichte dem Zwerg ein randvolles Glas Likör. Der nahm es mit beiden Händen entgegen, setzte an und trank mit großen Schlucken, bis das Kristallglas leer war. Er schmatzte behaglich, rülpste heftig und hielt ihm das Glas erneut hin. „Nochmal vollmachen! Der ist gar nicht übel!“
Herr Wellenbrink atmete tief durch – sein guter Schlehenlikör hatte gut und gern an die 30% Alkoholgehalt, aber gut, von nichts kam nichts. Er schenkte nach, ließ die Flasche aber dieses Mal auf dem Rand des Glases liegen, bevor der kleine Mann erneut ansetzen konnte.
„Ich dachte, wir könnten uns ja mal vorstellen, nachdem wir uns auf so, äh, ungewöhnliche Weise kennengelernt haben. Mein Name ist Fritz Wellenbrink.“ Er stieß mit seinem Likörglas vorsichtig an das des kleinen Mannes, während er weiterhin den Flaschenhals darauf liegen ließ.
„Namen! Namen! Was interessieren mich Namen! Ihr seht für mich sowieso alle gleich aus! Und du, du bist sowieso ein hoffnungsloser Fall! Ach, egal, was solls. Gnorm.“
„Gnorm?“ fragte Herr Wellenbrink mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ja was? Ist dir der etwa nicht gut genug? Gnorm! Gnorm! Wie der berühmte Höhlenkundschafter, der 1736 die größte je gefundene Echohöhle unterhalb der Pyrenäen entdeckt hat! Voll mit gläsernen Stalaktiten! Ach, was rede ich hier, Perlen vor die Säue…“ mit einer entschlossenen Handbewegung drückte Gnorm den Flaschenhals von seinem Glas weg und trank es das zweite Mal komplett leer. Herr Wellenbrink nickte nachdenklich, nippte an seinem Likör und schenkte Gnorm ein drittes Mal nach.
„Gnorm. Nein, das ist absolut in Ordnung. Also, Gnorm, was machst du hier in meiner Wohnung, mitten in der Nacht?“
Der Zwerg nahm kleine Schlucke aus seinem Glas, während er antwortete. „Tja, jetzt ist es wohl zu spät für Heimlichkeit und Unsichtbarkeit, was?“ Er starrte Herrn Wellenbrink aus kleinen grauen Augen an. Bei jedem Augenzwinkern verrutschten seine Pupillen ein wenig, so dass er aussah, als ob er schielen würde. Der Schlehenlikör tat seine Wirkung. „Ich sollte dich zurückholen. Weil du Weihnachten seit Jahren komplett ignorierst. Wir haben dir Sternsinger geschickt, dich Eintrittskarten für die Weihnachtsmatinee gewinnen lassen, deine Nachbarn haben Päckchen an deine Tür gehängt – nichts. Wir haben dein Radio manipuliert, damit es hauptsächlich Weihnachtslieder spielt, Kollegen von mir haben dir sogar nachts schöne Gedanken ins Ohr geblasen, alles umsonst. Du bist echt ´ne harte Nuß. Völlig retist-, reschis-, resistent!“ Er hickste laut. „Ich bin deine letzte Chance! Tjahaaa, deine leeeetzte Chance!“ Er hickste noch einmal.
Herr Wellenbrink nickte langsam. „Ok. Und warum hat man ausgerechnet dich zu mir geschickt?“
„Ach!“ Gnorm schloß die Augen und öffnete sie in Zeitlupe wieder. „Ich hab halt gepasst. Passt. Hum. Mir ist da vielleicht ein, zweimal ein kleines Mißgeschick passiert, bei Aufträgen, weisssst du… vielleicht hat mich das ein oder andere Kind gesehen… vielleicht ist das ein oder andere Mal was kaputt gegangen… obwohl ich niiiiichts dafür konnte!“ Tränen traten ihm in die Augen, weinerlich fuhr er fort: „Gaar nichtsss konnte ich dafür, über-haaaupt nix!“ Er nahm noch einen großen Schluck Likör. Das Glas war wieder leer. „Du bissst auch meine leeeetzte Chance, weisssdu?“ Er schwankte dramatisch, sah sich mit glasigen Augen verwundert um, fiel dann im Sessel zur Seite und fing sofort an, laut zu schnarchen. Dabei umklammerte er nach wie vor mit beiden Händen das leere Likörglas.
„Sowas hab ich mir schon gedacht“, murmelte Herr Wellenbrink leise, während er Gnorm betrachtete. „Vielleicht sind wir ja gegenseitig unsere letzte Chance.“ Dann stand er auf und nahm Gnorm vorsichtig das Glas aus den Händen. Er breitete seine Kamelhaardecke über ihm aus und stellte den kleinen Rucksack mit den wunderlichen Gegenständen ordentlich neben das Sesselbein, den Leuchtstab legte er neben ihm auf den Sessel.
Schon im Flur hatte er sich dazu entschlossen, diese neue Entwicklung nicht ungenutzt vorbeiziehen zu lassen. Jetzt würde er schnell ins Bad gehen und es sich dann auf dem Sofa gemütlich machen, damit sein neuer Bekannter am Morgen nicht einfach das Weite suchen konnte.
Während er in den Flur ging, ertappte Herr Wellenbrink sich dabei, dass er den Radetzkymarsch vor sich hin pfiff. Wenn das kein gutes Zeichen war, wusste er auch nicht weiter.

Wellenbrink und Gnorm Teil II
Wellenbrink und Gnorm Teil III
Wellenbrink und Gnorm Teil IV
Wellenbrink und Gnorm Teil V

 

(Ja, ich weiß, das habe ich schon mal veröffentlicht, letztes Jahr im Dezember, um ganz genau zu sein. Aber: Mit Wellenbrink und Gnorm geht es jetzt weiter! Und da muss man Teil I leider noch mal lesen, sonst fehlt einem eine Menge Wissen. Und das geht ja gar nicht!)

Adventsfrühstück mit Schweinehund

„Ich will ein Schwei-heiiiiinsko-hotelett, uh-uh-uh, ich will ein Schweiiiiiinsko-hotelett, uh-uh-uh!“ Dein Schweinehund singt aus voller Kehle und mit tiefer Überzeugung, und zwar auf die Melodie „Ich will ´nen Cowboy als Mann“.
Du seufzt. „Ich hab dir schon tausendmal gesagt, zum Frühstück gibt´s keine Koteletts!“ versuchst du es in sanftem Ton, schließlich ist es noch unmenschlich früh, und andere Leute in diesem Haus schlafen noch oder versuchen es zumindest.
„Ich will ein Schweiiiiiinsko-hotelett, uh-uh-uh…!“ Zur Bekräftigung seiner Aussage legt dein Schweinehund feierlich eine Pfote auf seine Brust, während er weitersingt. Du gibst auf. „Halt die Klappe!“ brüllst du, so laut du kannst. Dein Schweinehund verstummt mitten im schönsten Tremolo und guckt dich beleidigt an.
„Was denn? Gefällt´s dir nicht? Hab ich extra für dich umgetextet!“
Du rollst mit den Augen. „Ganz wunderbar, jaja. Aber zum einen wohnen wir hier nicht alleine, und zum anderen weisst du ganz genau, dass wir zum Frühstück KEINE Koteletts essen!“
„Manno.“ Dein Schweinehund verschränkt die Arme und schmollt. „Nichts darf man. Immer muss man rücksichtsvoll sein. Und nie gibt es was Leckeres zum Frühstück! Dabei weisst du ganz genau, wie wichtig ein gutes Frühstück mit allen Mineralien und Spurenelementen für mein Fell ist! Guck, hier, und hier, lauter dünne Stellen, und hier, da bilden sich dauernd Knötchen! Und das, wo doch bald Weihnachten ist, da muss ich gut aussehen!“ Er zupft an sich herum, und du musst dich zusammenreißen. Jetzt bloß nicht lachen, sonst hast du verloren.
„Du hattest gestern abend vier Koteletts mit Kartoffelbrei und Rosenkohl, und hinterher Eis und zwei Stücke Kuchen mit Sahne und drei Vitamalz. Ich glaube, dein Mineralhaushalt ist ausreichend gedeckt.“
„Na und? Ich hab halt einen schnellen Stoffwechsel. ICH kann mich an gestern abend schon kaum noch erinnern, und du sagst doch auch dauernd, ich soll nicht immer in der Vergangenheit leben“, gibt dein Schweinehund zurück.
„Na wunderbar, dann lebst du eben in der Gegenwart, und in der gibt es keine Koteletts zum Frühstück. Außerdem ist zuviel Fleisch ungesund“, antwortest du und brühst in aller Ruhe deinen Tee auf.
„Phffrrrr… ungesund…“ macht dein Schweinehund und betrachtet kritisch deinen Teller. „So ein labbriger Toast kann doch wohl nicht alles gewesen sein, oder? Da kriegt man ja Depressionen. Und dann noch nicht mal Kaffee!“
Du stützt dich mit den Händen auf die Spüle, straffst die Schultern und atmest tief durch. Dann drehst du dich mit einem Lächeln um. „Nein, natürlich nicht, mein Lieber! Ich hab da eine Kleinigkeit vorbereitet, extra für dich!“
„Für mich? Extra für mich?“ Dein Schweinehund setzt sich auf und guckt erwartungsvoll.
„Jepp. Mein Spezial-Adventsmüsli.“
„Müsli.“ Mehr Enttäuschung kann nicht mal der Schweinehund in seine Stimme legen.
„Jetzt guck nicht so. Probiers erstmal! Ich hab extra viel Honig reingetan, und Schokorosinen, und Gewürze, damit es nicht nur süß, sondern auch würzig ist. Mit Sahnejoghurt, so…“ du schiebst ihm die Schale voller Joghurt und Müsli hin.
Dein Schweinehund guckt die Schale an, seufzt schwer und dramatisch, taucht seinen Löffel ein und kostet vorsichtig. Er kaut lange und gründlich. Dann nimmt er einen zweiten Löffel und nuschelt undeutlich: „Ja, doch. Gar nicht so übel. Kann man essen. Ist da Pfefferkuchen drin?“ Er schmatzt vor sich hin und zerbeisst krachend eine Gewürzmandel. „Doch, doch. Besser als Toast auf jeden Fall.“
Du betrachtest den schnell sinkenden Pegelstand der Müslischale, während du deinen Tee trinkst. Als die Schale fast leer ist, stützt dein Schweinehund seine Ellenbogen auf den Tisch und piekst mit dem Löffel in die Luft. „Aber heute mittag, da essen wir was Schönes, ja? Rouladen vielleicht? Oder Brathähnchen? Gulasch wäre auch nicht schlecht. Oder wir gehen zum Griechen!“
„Wir schaun mal“, sagst du und denkst an dein Käsebrot, das schon fertig in deiner Tasche liegt. „Willst du einen Nachschlag?“
„Wenn du mich so fragst…“ er hält dir seine Schale hin.
„Gerne!“ antwortest du und lächelst sanft.

Chancen

Heute gibt es meinen Text zum Writing Friday Special von Elizzy. Bis zum 24. Dezember wird jeden Tag eine neue Geschichte von einem Blogger veröffentlicht, am 25. Dezember bindet Elizzy den Sack zu. Vor mir war meintraumfreizusein dran, nach mir geht es  Bei der Kellerbande! weiter. Eine Übersicht über alle 24 Tage gibt es bei Elizzy. Und nun geht´s los!

Chancen

Herr Wellenbrink wachte wie immer mitten in der Nacht auf, weil sein Körper dringend nach der Toilette verlangte. Innerlich seufzend schob er widerwillig die warme Decke zur Seite, setzte sich ächzend auf und angelte mit geschlossenen Augen nach seinen Pantoffeln. Das Licht ließ er aus, denn aus jahrelanger Erfahrung wusste er, dass das Wiedereinschlafen leichter sein würde, wenn er im Dunkeln ins Bad ging. Noch so ein Tribut, den das Älterwerden von einem forderte – die Jahre des seligen Durchschlafens waren wohl für immer vorbei, ganz zu schweigen vom früheren elastischen aus dem Bett springen. Heutzutage war er froh, wenn er ohne Bandscheibenschaden hoch kam.
Schlaftrunken schlurfte er zur Tür, öffnete sie und ging in den dunklen Flur. Früher, ja, da war alles anders gewesen. Da hätte ein kleines Nachtlicht im Flur gestanden, um ihm den Weg zu weisen. Aber seine Frau, Elsi, war nicht mehr da, und er hatte kein neues Licht aufgestellt, als das alte kaputt gegangen war.
Vorsichtig tastete er mit den Händen an der Wand entlang, gleich musste die Ecke nach rechts kommen, hinter der das Bad lag. Er stoppte. Was war das? Ein leises Schlurfen, ein Schleifen, das nicht hierher gehörte. Hier rührte sich normalerweise gar nichts, und nachts war es sowieso totenstill. Ohne das er es verhindern konnte, huschte ein grimmiges Lächeln über sein Gesicht. Totenstill, ja, so war das hier bei ihm. Da! Wieder ein Schleifen, als ob jemand etwas über den Boden zog. Einbrecher? Bei ihm? Jetzt bereute er es, kein Licht eingeschaltet zu haben. Hier hinten gab es keinen Schalter, der Flur war fensterlos und stockfinster. Vorsichtig machte er einen Schritt nach vorne und stieß mit dem Fuß in eine weiche Masse, die erstickt „Aua!“ schrie. Erschrocken riß Herr Wellenbrink den anderen Fuß nach vorne, traf ein zweites Mal die Masse, die dieses Mal „Aaarghh!“ brüllte, ruderte mit den Armen, riß dabei den Garderobenständer um und fiel mit Gepolter schmerzhaft gegen die Wand und dann zu Boden., während die Schals und Mäntel, die an der Garderobe gehangen hatten, sich sanft wie eine Decke über ihn ausbreiteten.
Herr Wellenbrink überlegte kurz, ob er jetzt tot war, aber die Schmerzen in Hüfte und Po sprachen deutlich dagegen. Umständlich versuchte er, sich von den Stoffmassen zu befreien und verwünschte abermals, das Licht nicht eingeschaltet zu haben. Da! Vor ihm bewegte sich etwas in dem Stoffhaufen, sein Mantel wurde ihm von den Knien gezogen, er konnte spüren, wie kühle Luft auf seine Beine traf. Erschrocken ruderte er mit den Füßen, traf noch einmal ins Schwarze und erntete eine ganze Salve von phantasievollen Flüchen.
„Herrgottsakrakruzifixverdammtnochmal! So ein blöder Kackmist! Hab ich´s nicht gesagt, Dunkelheit ist nie gut, aber nein, diese dämlichen Büroasseln wussten es ja wieder besser! Wo ist dieser vermaledeite Lichtstab, wenn man ihn braucht! Au! Tritt mich noch einmal, du grobschlächtiger Mensch, dann vergeß ich mich! Was ist das hier für ein stinkender Stoffberg? Das riecht ja schlimmer als in jedem rattenverseuchten Kanalloch! Dreimal verfluchte regenwurmhäutige Assel! Nimm das von mir runter!“
Herr Wellenbrink atmete tief durch. Was auch immer da gerade passierte, es war besser als sein sonstiges Leben, das sich so langweilig anfühlte wie ein Paar durchgelatschte graue Wollsocken. Vorsichtig tastete er mit beiden Händen in dem Berg herum und hob seinen uralten gelben Regenmantel und eine zerlöcherte Strickjacke hoch, die er längst hatte entsorgen wollen.
„Au! Pass doch auf, du Dämlack! Meine Nase! Mann, immer krieg ich die Alten, nur weil ich einmal, ein-mal was kaputt gemacht habe… ah, mein Leuchtstab!“ Das Gefluche verstummte und mattgelbes Licht flammte auf. Herr Wellenbrink staunte. Halb begraben unter seinem Regenmantel hockte ein dicker kleiner Mann mit Glatze und Blaumann. Er hielt einen Holzstab hoch, von dessen knorrigem Ende das gelbe Licht ausging. Jetzt richtete er sich auf, und Herr Wellenbrink staunte noch mehr. Das waren doch höchstens 40 cm! Was für Menschen waren denn so klein? Und was um alles in der Welt machte er hier bei ihm in der Wohnung?
„Was glotzt du denn so?“ Der kleine Mann stach mit dem Leuchtstab in seine Richtung. „Wohl noch nie einen Wichtel gesehen, was? Ist ja auch kein Wunder, so wie du seit Jahren Weihnachten mit Füßen trittst! Nikolaussinger? Drei-Königs-Tag? Advent? Alles Fremdworte für dich, was?“
Herr Wellenbrink schwankte zwischen Belustigung, Beschämung und Wut. Ja, gut, er hatte Weihnachten in den letzten Jahren etwas schleifen lassen, aber das war doch wohl ganz allein seine Sache, oder? Der kleine Mann sah im schwankenden Licht grotesk aus, wie eine zu groß geratene, seltsame Puppe. Er war zu dick, zu kahl und mit dem Blaumann sah er absolut nicht aus wie ein Wichtel. Die hatte er sich immer ganz anders vorgestellt. Viel … netter.
„Was machst du hier?“ fragte er den Wichtel. Eine dumme Frage, aber etwas besseres fiel ihm nicht ein.
„Gott, wieder diese langweiligen, dämlichen Fragen. Immer dasselbe. Das übliche halt. Dich besuchen, auf den richtigen Weg bringen, blablabla, das, was wir immer tun, zum Schluß Friede, Freude, Eierkuchen und alle sind glücklich. Wer´s braucht…“ Abschätzig wedelte der kleine Mann mit der freien Hand, während er mit der anderen unter dem Regenmantel herumwühlte.
„Mich? Auf den Weg bringen?“ Herr Wellenbrink lachte verwundert. „Wieso das denn?“
„Ja, was weiß ich, ich bin hier nur das letzte Glied in der Kette, der Trottel, der die ganze Drecksarbeit macht, während die Herren Elfen schön Kakao trinken und in der Hängematte liegen. Und du siehst ja, wohin das führt! In die Dunkelheit, zu blauen Flecken, getreten werden und unerquicklichen, unnützen Gesprächen mit dummen Menschen!“ Die letzten Worte stieß der kleine Mann mit großer Verbitterung hervor.
Herr Wellenbrink überlegte. Egal, ob er nun vielleicht doch träumte oder ob ihm das gerade tatsächlich passierte: Das war sein erstes, längeres Gespräch seit Tagen, es mochte sein, dass er Weihnachten in den letzten Jahren erfolgreich ignoriert hatte, aber er hatte bei Gott nicht die Absicht, sich diese Geschichte entgehen zu lassen. Er versuchte zu lächeln, seine Gesichtsmuskeln knarrten bei dieser unerwarteten Anstrengung, aber es gelang ihm halbwegs.
„Weißt du was? Lass uns aufstehen, wir gehen ins Wohnzimmer, trinken einen Likör und du erzählst mir in Ruhe, was du von mir willst.“ Er begann ächzend, sich hochzurappeln. Der kleine Mann seufzte matt, schob die Regenjacke mitsamt der Strickjacke zur Seite und hiefte sich einen schmutzigen Rucksack auf den Rücken, von dem allerlei seltsame Geräte herunterhingen. Herr Wellenbrink erkannte einen Dosenöffner, einen Korkenzieher und Haarklemmen, die anderen Geräte wirkten fremd auf ihn. Der Leuchtstab warf zuckendes Licht an Wände und Decke. Als er es endlich geschafft hatte und sicher auf seinen Beinen stand, starrte er noch einmal staunend auf den Zwerg im Blaumann hinunter, dann stapfte er entschlossen zum Lichtschalter, schaltete die große, trübe Flurleuchte ein und beleuchtete das Durcheinander, das er angerichtet hatte. Die Garderobe hatte nicht nur alle Kleidungsstücke fallengelassen, sondern auch gleich noch den Schirmständer und das Schuhregal mitgerissen. Ein Wunder, dass weder er noch der Zwerg sich schlimmer verletzt hatten. Vermutlich würden sie beide schlimme blaue Flecken bekommen, aber das war jetzt zweitrangig.
„Komm schon, hier geht´s ins Wohnzimmer“, sagte er, drehte sich um und ging voran, ohne zu warten, ob der Zwerg nachkommen würde. Er war sich sicher, dass er ihm folgen würde, ohne sagen zu können, woher er das wusste. Und richtig. Verdrossen vor sich hin murmelnd folgte ihm der Kleine ins Wohnzimmer, sah sich um und steuerte den bequemsten Sessel an – seinen Sessel. Großzügig beschloss Herr Wellenbrink, heute ausnahmsweise das Sofa zu nehmen. Während er zwei Gläser und den Schlehenlikör aus der Vitrine nahm, beobachtete er aus dem Augenwinkel, wie der Zwerg am Bein des Sessels gekonnt hochkletterte.
„Ja, was? Guck nicht so! Was meinst du denn, wie wir überall reinkommen – mit Glitzerstaub etwa? Nene, das ist harte Arbeit, und nie, nie! wird sie gewürdigt, weil ja immer alles geheim bleiben muss!“ Bei dem Wort „geheim“ machte er mit beiden Händen Wackelbewegungen, wohl um die Absurdität des Ganzen zu betonen. Herr Wellenbrink machte zustimmende Geräusche und reichte dem Zwerg ein randvolles Glas Likör. Der nahm es mit beiden Händen entgegen, setzte an und trank mit großen Schlucken, bis das Kristallglas leer war. Er schmatzte behaglich, rülpste heftig und hielt ihm das Glas erneut hin. „Nochmal vollmachen! Der ist gar nicht übel!“
Herr Wellenbrink atmete tief durch – sein guter Schlehenlikör hatte gut und gern an die 30% Alkoholgehalt, aber gut, von nichts kam nichts. Er schenkte nach, ließ die Flasche aber dieses Mal auf dem Rand des Glases liegen, bevor der kleine Mann erneut ansetzen konnte.
„Ich dachte, wir könnten uns ja mal vorstellen, nachdem wir uns auf so, äh, ungewöhnliche Weise kennengelernt haben. Mein Name ist Fritz Wellenbrink.“ Er stieß mit seinem Likörglas vorsichtig an das des kleinen Mannes, während er weiterhin den Flaschenhals darauf liegen ließ.
„Namen! Namen! Was interessieren mich Namen! Ihr seht für mich sowieso alle gleich aus! Und du, du bist sowieso ein hoffnungsloser Fall! Ach, egal, was solls. Gnorm.“
„Gnorm?“ fragte Herr Wellenbrink mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ja was? Ist dir der etwa nicht gut genug? Gnorm! Gnorm! Wie der berühmte Höhlenkundschafter, der 1736 die größte je gefundene Echohöhle unterhalb der Pyrenäen entdeckt hat! Voll mit gläsernen Stalaktiten! Ach, was rede ich hier, Perlen vor die Säue…“ mit einer entschlossenen Handbewegung drückte Gnorm den Flaschenhals von seinem Glas weg und trank es das zweite Mal komplett leer. Herr Wellenbrink nickte nachdenklich, nippte an seinem Likör und schenkte Gnorm ein drittes Mal nach.
„Gnorm. Nein, das ist absolut in Ordnung. Also, Gnorm, was machst du hier in meiner Wohnung, mitten in der Nacht?“
Der Zwerg nahm kleine Schlucke aus seinem Glas, während er antwortete. „Tja, jetzt ist es wohl zu spät für Heimlichkeit und Unsichtbarkeit, was?“ Er starrte Herrn Wellenbrink aus kleinen grauen Augen an. Bei jedem Augenzwinkern verrutschten seine Pupillen ein wenig, so dass er aussah, als ob er schielen würde. Der Schlehenlikör tat seine Wirkung. „Ich sollte dich zurückholen. Weil du Weihnachten seit Jahren komplett ignorierst. Wir haben dir Sternsinger geschickt, dich Eintrittskarten für die Weihnachtsmatinee gewinnen lassen, deine Nachbarn haben Päckchen an deine Tür gehängt – nichts. Wir haben dein Radio manipuliert, damit es hauptsächlich Weihnachtslieder spielt, Kollegen von mir haben dir sogar nachts schöne Gedanken ins Ohr geblasen, alles umsonst. Du bist echt ´ne harte Nuß. Völlig retist-, reschis-, resistent!“ Er hickste laut. „Ich bin deine letzte Chance! Tjahaaa, deine leeeetzte Chance!“ Er hickste noch einmal.
Herr Wellenbrink nickte langsam. „Ok. Und warum hat man ausgerechnet dich zu mir geschickt?“
„Ach!“ Gnorm schloß die Augen und öffnete sie in Zeitlupe wieder. „Ich hab halt gepasst. Passt. Hum. Mir ist da vielleicht ein, zweimal ein kleines Mißgeschick passiert, bei Aufträgen, weisssst du… vielleicht hat mich das ein oder andere Kind gesehen… vielleicht ist das ein oder andere Mal was kaputt gegangen… obwohl ich niiiiichts dafür konnte!“ Tränen traten ihm in die Augen, weinerlich fuhr er fort: „Gaar nichtsss konnte ich dafür, über-haaaupt nix!“ Er nahm noch einen großen Schluck Likör. Das Glas war wieder leer. „Du bissst auch meine leeeetzte Chance, weisssdu?“ Er schwankte dramatisch, sah sich mit glasigen Augen verwundert um, fiel dann im Sessel zur Seite und fing sofort an, laut zu schnarchen. Dabei umklammerte er nach wie vor mit beiden Händen das leere Likörglas.
„Sowas hab ich mir schon gedacht“, murmelte Herr Wellenbrink leise, während er Gnorm betrachtete. „Vielleicht sind wir ja gegenseitig unsere letzte Chance.“ Dann stand er auf und nahm Gnorm vorsichtig das Glas aus den Händen. Er breitete seine Kamelhaardecke über ihm aus und stellte den kleinen Rucksack mit den wunderlichen Gegenständen ordentlich neben das Sesselbein, den Leuchtstab legte er neben ihm auf den Sessel.
Schon im Flur hatte er sich dazu entschlossen, diese neue Entwicklung nicht ungenutzt vorbeiziehen zu lassen. Jetzt würde er schnell ins Bad gehen und es sich dann auf dem Sofa gemütlich machen, damit sein neuer Bekannter am Morgen nicht einfach das Weite suchen konnte.
Während er in den Flur ging, ertappte Herr Wellenbrink sich dabei, dass er den Radetzkymarsch vor sich hin pfiff. Wenn das kein gutes Zeichen war, wusste er auch nicht weiter.

Und hier geht es morgen mit Türchen Nr. 16 weiter: Bei der Kellerbande!

Adventsmarmelade

Frau Müller hat für sowas keine Zeit. Das ist ja nett gemeint, aber mal ernsthaft: Wer braucht denn dieses ganze Weihnachtsgedöns? Marmelade gibt es wie Sand am Meer, eine ganze Supermarktregalwand ist voll damit, sie kann sich jede nur denkbare Sorte dort kaufen, und wenn sie wollte, würde sie das auch tun.
Überhaupt, dieses Lamettagetue: Die Leute machen sich was vor. Wenn man es nüchtern betrachtet, ist der zwölfte Monat dazu da, Buchhandlungen und Spielwarengeschäfte über den Rest des Jahres zu bringen und Restaurantbesitzer jubeln und frohlocken zu lassen. Und am Ende steht der Weihnachtsbaum doch nur entnadelt im Wohnzimmer und nichts hat sich geändert, nur das Konto ist leichter als im Monat zuvor.
Frau Müller sieht das Marmeladenglas prüfend an. Vielleicht kann sie es weiter verschenken? Sie runzelt die Stirn. Lieber nicht. Wer weiß, wer noch alles so eins bekommen hat. Ganz hinten im Schrank ist noch eine Lücke, da schiebt sie es fürs erste hinein. Sie bleibt lieber bei ihrer Stammmarke, Erdbeer, wie schon seit zwanzig Jahren. Sie hat viel zu viel zu tun, um sich mit überflüssigem Kram zu befassen, so nett gemeint er auch sein mag. Nett sein bringt nichts voran, das hat sie schon vor langer Zeit gelernt, was zählt, sind abgeschlossene Geschäfte. Umsatz. Mit diesen Gedanken putzt Frau Müller sich energisch die Zähne, zieht die Bettsocken an und sinkt müde ins Bett.

Sie träumt einen Traum.

Morgens setzt sie sich auf, zieht sich an und will Kaffee kochen, aber die Dose mit dem Pulver ist leer, der Vorratsschrank ebenfalls. Ärgerlich reisst sie die Kühlschranktür auf, um sich wenigstens das tägliche Erdbeermarmeladenbrot zu machen und starrt verständnislos in die Fächer. Es gibt Erdbeermarmelade. Und sonst nichts. Keine Eier, keine Butter, keinen Käse. Nur Erdbeermarmelade.
Voll böser Vorahnungen wirft sie die Kühlschranktür wieder zu und durchsucht alle Schränke und Schubladen. Sie findet Erdbeermarmelade in Dosen, Schalen und Tupperbehältern. Sonst nichts.
Verwirrt macht Frau Müller sich auf zum Supermarkt, um dort neue Lebensmittel einzukaufen. Dass sie vergessen hat, Straßenschuhe anzuziehen und in Hausschuhen los läuft, ist an diesem Morgen schon fast nebensächlich. Als sie die ersten Menschen mit Einkaufswagen sieht, beginnt sie zu ahnen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Und richtig: Alle Regale, die Tiefkühltruhen: Voll mit Erdbeermarmelade. Immerhin, es gibt mehr Sorten als bei ihr zuhause, püriert, mit Stückchen oder als Gelee, aber: Ausschließlich Erdbeeren. Sie läuft durch die Regale und kann es nicht fassen. Die übrigen Kunden sehen gelangweilt oder geschäftig aus, wie man eben aussieht, wenn man seinen Wocheneinkauf erledigt, selbst wenn der ausschließlich aus Erdbeermarmelade besteht.
Frau Müller traut sich nicht, jemanden auf die seltsame Einheitsnahrung anzusprechen, niemand hier sieht irritiert aus, und schlussendlich greift sie sich irgendein Glas aus den Regalen, es ist ja eh egal, es gibt nur ein Produkt, und rennt danach fast ins Büro, immer noch in Hausschuhen. Wenigstens ihren Kollegen müsste doch irgendetwas aufgefallen sein!
Als sie das Büro betritt, löffelt der Pförtner geistesabwesend Erdbeermarmelade, während er in der Zeitung blättert und sie durchwinkt, und ihr Kollege trinkt Erdbeerpüree anstatt des üblichen Kaffees.
Frau Müller beschließt zu schweigen. Irgendetwas muss sie essen, also zwingt sie mit Mühe ein paar Löffel der roten Masse hinunter und unterdrückt schaudernd ein Würgen. Das kann doch wohl alles nicht wahr sein!
Mittags versucht sie es voller Hoffnung beim Imbisswagen gegenüber. Anstatt mit Salat sind die flachen Bleche in der Auslage mit Marmelade gefüllt, und aus der Friteuse dampft es heiß und fruchtig süß. Frittierte Erdbeermarmeladenklümpchen sind im Angebot.

Schweißgebadet schreckt Frau Müller hoch. Ihr Wecker klingelt. Schwer atmend sinkt sie wieder zurück ins Kissen. Was für ein schrecklicher Traum!
In der Küche greift sie zögernd zur Kühlschranktür. Was, wenn… aber alles ist so, wie es sein soll: Eier, Butter und Käse sind da, und rechts in der Mitte steht wie immer die Erdbeermarmelade. Frau Müller sieht sie kritisch an. Ihr Magen zieht sich reflexartig zusammen beim Gedanken an Frühstück mit Erdbeeren. Nein. Heute nicht. Stattdessen angelt sie aus der hinteren Ecke des Schranks das geschenkte Glas und beäugt misstrauisch das Etikett. Apfel-Birne-Feige. Nun gut. Besser als Erdbeeren auf jeden Fall. Und dann ist sie gar nicht so übel, die Adventsmarmelade, Birnen- und Apfelaroma mischen sich mit Zimt und einem herben, nicht zu identifizierenden Duft, und ab und zu knirscht ein Feigenkorn zwischen den Zähnen.
Frau Müller ertappt sich dabei, wie sie mit dem Mund voller Adventsmarmelade darüber nachdenkt, wann sie das letzte Mal selber gekocht hat. Sie kann sich nicht erinnern.
Ihr letzter Urlaub ist auch schon sehr lange her.
Vielleicht sollte sie sich heute einfach mal frei nehmen.
Warum eigentlich nicht?