Teil IV
Herr Wellenbrink schwitzte, aber nicht weil ihm zu warm war, sondern weil er vor lauter Lampenfieber kaum atmen konnte. Warum um alles in der Welt hatte er sich zu diesem Wahnsinn überreden lassen? Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Nach ihrem nächtlichen Ausflug auf den Marktplatz waren sie nach Haus gegangen, hatten noch ein oder zwei Schlehenliköre getrunken um sich zu beruhigen und waren dann wie zwei nasse Mehlsäcke ins Bett gefallen. Am nächsten Morgen hatte er sich eine ausgiebige Dusche gegönnt. Als er aus dem Bad kam, saß Gnorm an der Wand gegenüber und starrte ihn nachdenklich an.
„Was machst du hier?“ fragte Herr Wellenbrink. Gnorm sah besorgniserregend zufrieden aus.
„Du kannst ganz gut singen, was?“
Herr Wellenbrink kniff die Augen zusammen. „Wieso?“
„Nur so. Was hast du da eben gesungen? Ich hab etwas mit roter Sonne und bleichem Mond und einer Marie verstanden.“
„Das waren die Capri-Fischer“, antwortete Herr Wellenbrink nicht ohne Stolz. Er sang immer unter der Dusche, und die rote Sonne, die im Meer versank, war eines seiner Lieblingslieder, besonders, wenn er sich den Rücken mit seiner Massagebürste einseifte.
„Aha. Wie sieht es denn mit Weihnachtsliedern aus?“
„Wieso Weihnachtslieder?“
„Na, kannst du welche auswendig?“
„Ich kann jede Menge auswendig. Ich war immer ein guter Auswendiglerner.“
„Auch Oh du fröhliche?“
Spätestens jetzt hätte er misstrauisch werden sollen. Aber er hatte einfach: „Ja, natürlich“, geantwortet und damit war sein Schicksal besiegelt gewesen. Als Gnorm herausgefunden hatte, dass Herr Wellenbrink nicht nur Oh du fröhliche, sondern auch zahlreiche andere Weihnachtslieder im Kopf hatte, beschloss er, dass sie zweistimmige Lieder auf der Straße singen würden. Dabei würde Herr Wellenbrink der sichtbare Teil ihres Duos sein, und er, Gnorm, der unsichtbare in einem Rucksack auf Herrn Wellenbrinks Rücken. Zweck des Ganzen war, Herrn Wellenbrink endlich wieder in die weihnachtliche Spur zu bringen.
Selbstverständlich lehnte Herr Wellenbrink dieses völlig absurde Vorhaben kategorisch ab, er würde sich doch nicht auf die Straße stellen und Lieder singen, wo kämen sie denn da hin, niemals würde er sich dermaßen lächerlich machen, was Gnorm denn einfiele! Aber er hatte nicht mit der Beharrlichkeit des Wichtels gerechnet, und nachdem sie tagelang (zumindest kam es ihm so vor) gestritten hatten, knickte er schließlich ein.
Gnorm strahlte triumphierend. Er wühlte in seinem speckigen Rucksack herum und zog von ganz unten eine Blechtröte hervor. „Hier! Ich wusste doch, dass sie irgendwo da drin war!“
Herr Wellenbrink seufzte. „Herrje. Soll ich jetzt auch noch auf dem Ding spielen, während ich singe?“
„Nein, nein, die werde ich spielen!“ Gnorm rieb mit seinem Ärmel an der Tröte herum. „Die hab ich schon lange nicht mehr rausgeholt, hoffentlich funktioniert sie noch.“
Herr Wellenbrink war nicht überzeugt. „Das alte Ding? Die sieht älter aus als ich.“
„Oh, das ist sie auch. Pass mal auf.“ Er hielt sich die Tröte nicht an den Mund, sondern an den Hals, machte den Mund auf und sang in tiefem Bass die Unterstimme zu Oh du fröhliche. Aus der Tröte kamen Mundharmonikaklänge, ein bisschen Rythmus und ab und an klingelte eine Triangel. Gnorm war sein eigenes Miniorchester. Herr Wellenbrink starrte ihn an.
„Toll, was? Hab ich schon ewig nicht mehr benutzt. Sehr praktisch, wenn man Musik braucht und kein Engel in der Gegend ist. Obwohl ja heutzutage immer und überall Musik ist, auch, wenn man sie gerade nicht haben will.“ Er seufzte, dann hellte seine Miene sich auf. „Aber jetzt singen wir ja!“
Herr Wellenbrink sah auf die Tröte, dann auf den Wichtel. „Was hast du eigentlich noch alles in diesem Rucksack?“
„Och, so dies und das. Los jetzt, lass uns üben!“
Sie übten, bis die Weihnachtslieder Herrn Wellenbrink zu den Ohren heraus kamen, und dann kam der Tag des Auftritts. Herr Wellenbrink stand wieder auf dem Marktplatz, dieses Mal bei Tageslicht, und versuchte, sein bodenloses Lampenfieber in den Griff zu bekommen. Gnorm flüsterte ihm aus dem Rucksack aufmunternde Worte zu, aber die halfen ihm überhaupt nicht. Seine Knie zitterten, der Schweiß stand ihm auf der Stirn, er brachte keinen einzigen Ton hervor und das einzige, woran er denken konnte, war, wie klein und verlassen und vor allem wie allein er da stand, während eilige Passanten an ihm vorbeiliefen. Die große, neue Weihnachtstanne stand ihm genau gegenüber, ohne seinen goldenen Stern auf der Spitze, und auch das half ihm nicht im geringsten.
„Los, jetzt mach endlich! Sing was!“ Gnorms Flüstern klang aufgebracht.
„Ich kann nicht!“
„Doch, du kannst! Wir haben das doch geprobt!
„Ja, aber alleine und ohne Publikum! Ich kann nicht!“
„Wenn du nicht anfängst, fange ich an!“
„Nein!“
„Ooooh, du frööhliche-he-hee, oooh, du frööhliche-he-hee…“ Gnorm sang die Bassstimme, und seine Tröte lieferte die Begleitmusik dazu. Eine junge Frau wandte interessiert den Kopf, um herauszufinden, wo die plötzliche Musik herkam. Herr Wellenbrink presste ein paar Töne aus seiner zittrigen Kehle. Sie klangen wie rostige Türangeln und passten überhaupt nicht zu Gnorms Bass. Zwei Passanten lächelten, mitleidig, wie es Herrn Wellenbrink vorkam. Er verstummte und versuchte es noch einmal. Nichts. Da kam gar nichts. Seine Stimme war verschwunden. Herr Wellenbrink ergriff zum zweiten Mal in dieser Woche die Flucht, während die Tröte im Rucksack verstummte. An ihre Stelle traten leise, aber phantasievolle Flüche.
Zuhause angekommen setzte er den Rucksack ab, öffnete ihn und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er fühlte sich, als wäre er einen Marathon gelaufen. Gnorm sah aus dem Rucksack zu ihm hoch. „Tja. Das ist aber jawohl sowas von in die Grütze gegangen. Du hast eindeutig mehr Lampenfieber, als ich dachte.“
„Tut mir leid“, flüsterte Herr Wellenbrink. Wie durch ein Wunder war seine Stimme wieder da gewesen, als er den Marktplatz hinter sich gelassen hatte.
„Ach, so ein gequirlter Schwachsinn. Mir tut es leid. Ich hätte dich ernst nehmen sollen. Ich bin ´ne totale Rampensau, weisst du? Mir kann es gar nicht genug Publikum sein, je mehr, desto besser bin ich…“ Gnorm lächelte, als ob er sich an etwas Schönes erinnern würde. „Ich kann einfach nicht nachvollziehen, dass das bei jemand anderem anders sein könnte. Mein Hirn ist zu klein für sowas.“
Herr Wellenbrink ächzte leise. Die Schmach saß ihm tief in den Knochen. „Ich bin früher auch mal aufgetreten, weisst du? Aber da war ich nicht alleine!“
„Wo bist du denn aufgetreten?“ Gnorm klang schon wieder viel zu interessiert.
„Nein, nein, nein! Vergiß es! Lass es einfach gut sein, ok?“
„Ja, gut, ich sag ja schon nichts mehr. Komm, lass uns ein heißes Bier trinken, dann sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“ Heißes Bier hatte sich zu Gnorms Lieblingsgetränk entwickelt.
„Kannst du gerne machen. Ich brauch noch einen Moment.“ Herr Wellenbrink wischte sich mit den Händen übers Gesicht und durchlebte noch einmal die alptraumhafte letzte halbe Stunde, als es an der Tür klingelte. Er hob den Kopf. Wer konnte das sein? Er erwartete niemanden. Mit immer noch wackligen Beinen stand er auf und öffnete. Draußen stand seine Nachbarin von gegenüber. „Ja?“ fragte Herr Wellenbrink.
„Hallo. Äh… also mir ist das jetzt ein bißchen peinlich, aber ich habe Sie in den letzten Tagen ziemlich laut gehört, und…“
„Kommt nicht wieder vor. Bitte entschuldigen Sie.“
„Nein, nein, so meine ich das nicht. Ich wollte sagen, ich habe Sie gehört, und es hat mir gefallen. Ich singe in einem kleinen Chor, und uns ist der Tenor ausgefallen, und ich wollte fragen, ob Sie vielleicht Interesse hätten?“ Die Frau verstummte und sah Herrn Wellenbrink nervös an. „Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber wir haben morgen einen Auftritt, und wir brauchen eine Männerstimme, Sie können alle Lieder und Sie singen gut, und Zeit haben Sie doch auch, oder? Bitte!“
Herr Wellenbrink starrte sie an. Er? Singen? Nachdem er gerade eben eine der größen Blamagen seines Lebens erlitten hatte? Im Hintergrund hörte er Gnorm auf- und abhopsen, und wenn er sich nicht irrte, waren auch Triangelklänge zwischen dem Gehopse erkennbar. Während er noch überlegte, wie er ihr höflich absagen konnte, hörte er sich zu seiner eigenen, grenzenlosen Überraschung sagen: „Natürlich. Wenn Sie mich brauchen, kann ich ja nicht nein sagen, oder?“
Seine Nachbarin sah aus, als ob ihr ein Stein vom Herzen fiele. Seines dagegen hüpfte im Takt der Triangelklänge, die immer noch aus seiner Wohnung kamen.
Wellenbrink & Gnorm Teil I
Wellenbrink & Gnorm Teil II
Wellenbrink & Gnorm Teil III
Wellenbrink & Gnorm Teil V