Nein.
Du schlägst das Buch zu. Du hast dir wirklich Mühe gegeben, geforscht, studiert und soviel gelesen, dass dir die Augen tränen, aber jetzt ist Schluß. Es ist vorbei. Du lehnst dich zurück und verschränkst die Arme hinter dem Kopf. Eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung steigt in dir auf. Erleichterung, weil dieses seltsam trockene Gefühl von Hoffnung nun endgültig aufgehört hat, Enttäuschung, weil es schön gewesen wäre, einen Beweis zu finden. Aber du hast keinen Beweis gefunden, nur endlose Theorien und Mutmaßungen.
Und nun? Was machst du nun?
„Sie könnten einfach die Tür öffnen.“
Du drehst dich erschrocken um. Da sitzt ein mittelalter Mann im weißen Anzug hinter dir. Er hat die Beine übereinandergeschlagen, ein Arm liegt über der Sessellehne, in der anderen Hand hält er eine Pfeife. Seine Socken sind blau. „Was tun Sie hier?“ fragst du irritiert.
„Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Engel Nr. 265 und Ihnen heute zugeteilt.“ Der Mann verbeugt sich im Sitzen leicht nach vorn. „Darf ich?“ Er zeigt mit dem Kopf auf die Pfeife.
Du nickst verwirrt.
„Danke.“ Der Mann zieht ein Päckchen Pfeifentabak aus seiner Tasche und fängt an, die Pfeife zu stopfen. „Wenn Sie über den Begriff „Engel“ stolpern sollten, ich bevorzuge „Hüter des himmlischen Lichts“. Klingt viel eleganter, oder? Obwohl, heutzutage muss man immer alles endlos erklären, obwohl manche Dinge ohne Erklärung viel verlockender sind. Leser von Fantasyromanen wissen in der Regel schneller, was gemeint ist. Tja. Wie auch immer, die meisten können mit „Engel“ mehr anfangen, obwohl man auch da manchmal mit längeren Diskussionen rechnen muss. Das ist heutzutage ja ein weitgefasster Begriff. Aber ich schweife ab, entschuldigen Sie bitte.“ Er hält ein Zündhölzchen an die Pfeife und zieht vorsichtig. Ein Duft nach Vanille und Lavendel steigt in deine Nase und du atmest unauffällig tief ein. Das duftet… so real.
„Und… was tun Sie hier?“ fragst du vorsichtig.
„Na, Sie haben doch gefragt, was Sie tun sollen. Ich bin hier, um Ihnen die Antwort zu geben. Öffnen Sie die Tür.“
„Welche Tür?“ fragst du irritiert.
Der Mann zieht an der Pfeife. Eine kleine blaue Wolke steigt über seinem Kopf auf. „Sie suchen doch Beweise?“
Du nickst. Die Enttäuschung von eben wabert noch um dich herum. „Ja. Alle Welt berichtet von dem Draußen, den Farben, Gerüchen, den Gefühlen, die man draußen haben soll. Aber es gibt kein Draußen. Ich habe es überprüft. Es gibt nur Gerüchte, Mutmaßungen und endlose Theorien darüber, aber niemand weiß genau, wie es sich anfühlt. Weil noch niemand jemals da war. Weil es das Draußen gar nicht gibt.“ Du fühlst dich leer, als du das sagst.
Der Mann mustert dich. „Sie könnten die Tür öffnen. Das würde die Dinge in Bewegung bringen.“
Du ärgerst dich. Dich bewegen existenzialistische Fragen und du bekommst idiotische Vorschläge. „Welche Tür?“ fragst du etwas lauter als notwendig.
„Na, die da hinten.“ Der Mann zeigt auf eine der Wände.
Du blickst dich um, obwohl du es besser weißt. Da ist nämlich keine Tür. Da war noch nie eine, genausowenig wie es Fenster in deinem Raum gibt.
Oh. Du kneifst die Augen zusammen.
Da ist eine Tür.
Du siehst den Mann an, dann wieder die Tür. Der Mann lächelt und stößt eine Lavendelrauchwolke aus.
„Was…?“ rufst du.
„Oh, das ist keine Zauberei. Sie war schon immer da. Sie haben sie bloß nicht wahrgenommen, weil Sie so beschäftigt waren mit Forschen.“
„Aber…“ sagst du hilflos.
„Das macht nichts“, sagt der Mann sanft, „alles hat seine Zeit. Wissen Sie, Sie sind ein Mensch. Da dauern die Dinge manchmal ein wenig länger.“
„Das heißt… ich könnte hinausgehen?“
„Jederzeit.“
„Und dann bin ich draußen?“
Der Mann nickt. Du bist fassungslos. „Aber… ich dachte, das Draußen gibt es nicht!“ rufst du aus.
„Das ist ja auch kein Wunder. Sie haben es noch nie gefühlt, nicht betastet, nicht gerochen. Sie haben nur darüber gelesen. Das ist ein Unterschied.“ Der Mann zieht noch einmal an seiner Pfeife, eine Wolke aus Vanille und Lavendel steigt unter die Decke. „Aufgeraucht“, sagt der Mann befriedigt, „alles geht einmal zu Ende, aber nicht heute. Wollen wir?“
Du spürst, wie du blass wirst, du hast schreckliche Angst vor dem Draußen, aber du willst es unbedingt sehen. Also nickst du zitternd.
Der Mann hält dir seine Hand hin. „Kommen Sie, wir gehen zusammen.“ Er zieht dich vom Stuhl und gemeinsam geht ihr auf die Tür zu, die du noch nie vorher gesehen hast. Der Anzug des Mannes leuchtet weiß im Halbdunkel deines Raumes. Dann drückt er die Tür auf.
Es ist hell. Warm. Es duftet nach etwas Grünem. Und nach etwas Süßem. Etwas berührt deine Haut und du erschreckst dich, aber es fühlt sich gut an. Vorsichtig machst du einen Schritt. Und dann noch einen. Und dann bist du im Draußen.
Der Mann im weißen Anzug lacht. Es ist ein dröhnendes, zufriedenes Lachen, es rinnt dir den Rücken hinunter wie zuvor nichts auf der Welt.
Und zum ersten Mal im Leben fühlst du dich vollständig.

Wundervoll!
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Ich vermute, du bist schon draußen… 😊
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Welch schönes Gleichnis.
Nimm bitte Frl. Honigohr mit nach Draußen; es ist ihr Zuhause, denke ich.
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Und was für ein wunderbarer Kommentar! 😀 Ich denke, du hast Fräulein Honigohr vollumfänglich erfasst. 😊
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Ich hab‘ Frl. Honigohr schonmal meine Liebe zu ihren Texten gestanden – diesen hier würde ich gerne ausborgen, um ihn bei einer Lesung Anfang Dezember vorzustellen, zu der ich eingeladen wurde -natürlich mit Quellangabe- das paßt dann auch vom Wetter her, denke ich 😉
Selbstverständlich nur dann, falls -neben dir- auch Frl. Honigohr keine Einwände hat !
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Fräulein Honigohr hat nur zustimmend mit der Hand gewedelt, sie ist gerade bis über beide Ohren mit Herbstdingen beschäftigt. Und ich freu mich und stimme gerne zu! 😊 Was ist es denn für eine Lesung? Bin ja neugierig. 😁
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Fein, dann danke ich euch beiden für die saloppe Antwort aus dem Handgelenk 😉 … die Lesung; nix Wichtiges im literarischen Sinn. Sie wird eine im kleineren Rahmen sein, obgleich öffentlich – eine Vernissage mit Programm in einem Werkstattatelier wie es das in Paris täglich gibt (manchmal auch in Wien ;)). Es werden abwechselnd mehrere Menschen Texte vorstellen; ich mag aber nicht IMMER ausschließlich eigene lesen, weil die kenne ich schon ziemlich gut … 😉
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btw: die Lesung wird im Rahmen einer Vernissage/Weihnachtsausstellung stattfinden. Programmablauf gibt es noch keinen konkreten, der wird kommende Woche feststehen – Bilder werden hängen, Autoren werden lesen (eben nicht unbedingt ausschließlich eigenes Geschreibsel ;)) und heute hab ich ein Werkstattfoto von einem kleinen Teil jener Keramik aufgenommen, die zu sehen sein wird – neben individuell gestalteter Gebrauchskeramik…

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Das sieht aber sehr interessant aus! Eine Menge in sich ruhender Persönlichkeiten… 🙂
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Ja – die Mehrzahl sind sogar Versönlichkeiten – die Künstlerin ist weiblich … 😉
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In der Mondscheingasse! Das passt ja perfekt! 😊 Und du hast da sehr schöne Geschichten ausgesucht, vor allem meinen Schweinehund liebe ich sehr, speziell beim Zelten. 😁 Wir steigern uns immer so schön rein beim Diskutieren. Ich bin sehr gespannt auf Erlebnisberichte! 😀👍
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Erlebnisbericht:

Die Ausstellung war recht ’schön‘ nach meinem Geschmack insgesamt. Die 2. Keramikerin kannte ich nicht, sie ist jung und steht am Beginn einer möglichen Entwicklung, die Präsentation ihrer Produkte ist ausbaufähig, hoffentlich – prinzipiell, sie ist nicht dumm.
Ein wenig dumm und daher wenig entwicklungsbereit ist möglicherweise die Vor-Literatin, welche mit eigenen Texten, die ich vom Thema her in etwa auf dem Niveau von ‚Feuchtgebiete‘ ansiedeln würde, nur einen sehrsehr kleinen Teil der Zuhörer ansprach…
Danach der dann leider viel zu kurz geratene Auftritt von Frl. Honigohr&Konsorten, weil die Konzentrationsfähigkeit der Hörerschaft bedauerlicherweise stark gelitten hatte. Ich regte zwar eine Pause an – doch auf allgemeinen Wunsch (ich vermute, so manche/r dachte bei sich: bringen wir’s hinter uns…) bat ich dann eben gleich anschließend um den Auftritt von Frau Stachelbeermondes Federschrift:
Das Bild täuscht: auch hinter dem Vortragenden saßen/standen Leute (mit gut 30 lauschenden Personen war der recht kleine Raum gesteckt voll, die meisten standen mangels Sitzgelegenheit), als dieser las und zwar: normal ist das nicht, eine Etüde von olpo ausnahmsweise/Frl. Honigohr und der Teppich (als Vergleich, weil in den Geschichten beiderseits Teppiche durch die Gegend fliegen), danach auf speziellen Wunsch der Hausherrin Schwierige Kunden, gefolgt von Frl. Honigohr und der Sonnenuntergang (eine Lieblingsphantasie von mir), worauf sich auf das kurze Thema wiederum ein längeres anbot vorzutragen, nämlich Draußen. Nach einer Pause hätte ich danach gerne den Schweinehund Kekse backen lassen und nach diesem die Graue Dame um ihren Auftritt gebeten – doch das Publikum forderte keine weiteren Geschichten ein, es gab sich Gesprächen, Käufen und dem Suff hin – nach dem ‚intellektuellen‘ Schmarrn und der leicht verdaulichen Süßkost aus honigöhrlichem Hause war sein Stimmungsbarometer auf ein freudiges Hoch angestiegen und es brauchte keine weitere Animation zum lockeren Gedankenaustausch mehr…
Unbedingt anmerken muß ich, daß mich ein älteres Künstlerpärchen ansprach, das beim Vortrag auf dem leeren Sessel saß (und Er -weit über 80- während der Leserei des Vorprogrammes eingeschlafen und beinahe von jenem gekippt wäre…) und mich um nähere Informationen bat, wie sie zur letzten gelesenen Geschichte (Draußen) im Internet kommen könnten, sie würden sie gerne ihrem Sohn… Ich habe ihnen das ausgedruckte Manuskript mitgegeben und die Webseite draufgeschrieben.
Und nicht zu vergessen: großer Applaus nach der ersten Geschichte im Doppelpack auf Nachfrage wie die G’schichtln ankämen und tosender am Ende -jedenfalls im Vergleich mit jenem, den die Vorleserin erhielt- den ich versprach, mit Freuden weiterzugeben … was ich hiemit gemacht habe – und meine persönliche Ehrerbietung für den wachen Einfallsreichtum und Gratulation zur umwegrentabilen Anerkennung ebenfalls … 😉
Danke.
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Das freut mich sehr! Und ich glaube, der Ü-80-Herr hat geguckt, auf jeden Fall konnte ich heute einen kleinen Anstieg bei den Besucherzahlen der Grauen Dame feststellen. 🙂 Es sieht sehr nett aus in dem Miniatelier und ich freu mich, dass die Leute nach der ersten Vortragenden zu höflich waren, um einfach zu gehen… (ich war auf einem adventlichen Konzert am Wochenende, und der Adventsanteil beschränkte sich auf drei Lieder, die in rekordverdächtigem Tempo heruntergespielt wurden, damit man so schnell wie möglich wieder zu den (schrecklichen) Vortragsliedern kommen konnte… da wäre ich am liebsten weggelaufen, konnte aber nicht, weil wir zu mehreren da waren…) ich hoffe, es hat dir auch Freude gemacht, die Stimmung der Leute ein wenig anzuheben… 🙂
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Ja, natürlich freue ich mich über zustimmende Reaktionen, wenn ich die Stimmung von Menschen positiv beeinflusst habe – ich lese nicht aus Eitelkeit gegenüber meinen Texten und deswegen eben nicht ausschließlich Eigenes, sondern weil ich draufgekommen bin, daß ich gerne vortrage – damit decke ich vllt meinen heimlichen Wunsch nach Schauspielerei ab, spielerisch sozusagen – auf jeden Fall hab ich auch selbst Spaß dabei wenn es gelingt, nach meiner Vorstellung halbwegs gut betont zu haben 😉 … mir nahestende Zuhörer ließen verlauten, sie kämen zur Finisage, falls ich dann wieder läse – also müssen auch die Texte an sich gefallen haben … 😉
Das Atelier liegt im Halbkeller etwa 2 Meter unter Erdniveau, hat Straßenzugang und ist Selfwomanmade – daher ist nix perfekt und daher resultiert auch die angenehme Ausstrahlung.
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Ich mag das auch, obwohl ich sonst gar nicht gern auf einer Bühne stehe. Vorlesen geht aber und macht sehr viel Spaß. Und wenn die Leute wiederkommen, wenn du liest, kannst du dir was drauf einbilden, würde ich sagen. Vorlesen ist eine Kunst!
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Schön! Und noch schöner wäre es, wenn es so sein würde.
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Das liegt ja im persönlichen Erleben – der eine ist schon sein ganzes Leben lang draußen, der andere hat noch nicht mal die Tür gefunden.
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Wie schön! Ich musste ja bei dem Satz „Wissen Sie, Sie sind ein Mensch. Da dauern die Dinge manchmal ein wenig länger.“ lachen. Sehr wahr.
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Tjaja… wir sind halt ab und zu ein wenig begriffsstutzig. Also ich zumindest. 😊
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Ich auch. 😉
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😊
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Draußen … Draußen ist groß und grün und rot und gelb und immer nach etwas Besonderem duftend. Draußen ist gut und immer erstrebenswert und wenn dann ein Engel so himmlich ausschaut und nach Draußendüften duftet, dann ist überall eine Tür oder auch eine riesige Öffnung, durch die man jederzeit gehen kann.
Lächelnde liebe Grüße von Bruni
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Das freut mich gerade sehr, liebe Bruni… der Text ist mir nämlich lieb und teuer, viel mehr als andere. 😊
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Ein feiner Text ❗️
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Ich glaube, dieses Jahr weiß ich die Geschichte, die ich am Heiligabend meinen Leuten vorlesen werde schon ungewöhnlich früh… Danke!
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