
Ficus elastica
Und dann sah er manchmal, kurz nur, zwischen den Berichten, den mails, dem kalt gewordenen Kaffee, den er immer noch aus seiner alten Londoner Tasse trank, zwischen zwei hastigen Telefonaten („Hast du´s schon gehört?“ „Vergiss das Brot nicht!“) und zwei endlosen Exceltabellen, auf jeden Fall zwischen all diesen Dingen sah er dann manchmal kurz zum Fenster. Betrachtete die staubigen Scheiben, die sich vor der Dunkelheit draußen schämten und sein Büro spiegelten, es durch die Staubschicht weichzeichneten und ihn jünger aussehen ließen. Sah den Ficus elastica, den er von seinem Bürovorgänger geerbt hatte und der sich ans Licht krallte, entschlossen, und anstatt in die Breite in die Länge wuchs, immer an der Glaswand entlang, die ihm gleichermaßen entschlossen den Weg versperrte, zwei stumme Krieger, die sich bekämpfen würden, bis das Gebäude irgendwann abgerissen oder saniert würde. Er hatte es nachgelesen, der Ficus elastica war eine Würgepflanze, ein Baumwürger, und hier, hinter den Glasscheiben, gab er sein Bestes, auch, wenn es nichts zu würgen gab außer der trockenen Büroluft. Sie waren sich ähnlich, der Ficus und er. Niemals aufgeben, niemals nachlassen, seiner Natur treu bleiben, auch, wenn das Leben absonderliche Bahnen schlug. Hatte er sich selber vor dreißig Jahren so gesehen, hinter staubigen Glasscheiben, lichtlos, als Verbündeten einer Würgepflanze? In sein Überlegen hinein klingelte das Telefon, ein mittelalter Apparat, Lichtjahre entfernt von seinem Smartphone, das neben ihm wie eine summende Nabelschnur zur Außenwelt lag. Das immerhin hatte er dem Ficus voraus. Bevor er den Anruf entgegennahm, stand er auf und goß den Rest kalten Kaffees über die ausgedörrte Erde des Ficus elastica, und ihm war, als hörte er ein leises Seufzen, während die grünen Blätter sich dichter an die Glasscheibe pressten.

Was für eine schöne Überraschung! Herzlichen Dank für den Beitrag zur Impulswerkstatt ! Am meisten freuen mich immer Ideen, die ich selbst nie gehabt hätte. Das Innenleben eines in einem dieser Büros arbeitenden Menschen und „seiner“ Pflanze finde ich äußerst kreativ. Nicht, dass mich das bei dir wundern würde 😉 Was mich auch fasziniert, weil ich es selbst anders mache, sind solche in einem geschriebenen Texte ohne jeden Absatz. Eigentlich bewundere ich das, eben weil ich es selbst nicht kann. mit herzlichen Grüßen
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Dankeschön, das ist aber nett… ich wollte schon lange bei dir mitmachen, und jetzt, zu Beginn eines neuen Jahres, voller guter Vorsätze – voilá! 😊 Und ich habe gerade Sehnsucht nach ernsten Texten, ich glaube, ich habe mich ein bisschen zuviel in Adventskalendertexten gewälzt. 😁 Liebe Grüße!
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Da bin ich in diesem Fall sehr für gute Neujahrsvorsätze. Was die ernsteren Texte betrifft, geht es mir ähnlich wie dir. So gerne ich die heiteren Texterln mag, habe ich derzeit auch Lust auf etwas Ernsthafteres.
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Eine klasse Geschichte! Diese Symbiose zweier Wesen, die nicht an ihrem Ort sind, und wenn sie schon nicht leben, so überleben sie doch.
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Ja, genau so war meine Überlegung. Vielen Dank für das Feedback!
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Ein toller Text, der an die Nieren geht und so viele Wahrheiten in sich vereint, wie ich es lange nur in kompliziert gewundenen überausführlichen Texten gelesen habe.
Wie schön das stille Seufzen der Pflanze am Ende …
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Ich habe gerade Sehnsucht nach ernsten Texten. Vielleicht ist es der Jahresbeginn, keine Ahnung…
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Dir ist nach Ernst. Das verstehe ich gut, liebe Tanja. Schwierig, das alles um uns herum, mit dem Wissen, was andes sein sollte und dem Wissen, daß wir es kaum andes hinkriegen werden.
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Über eine Pflanze das Innenleben eines Menschen zu erkunden, finde ich eine super Idee. Toller Text!
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