Nähen

Sie saß an der Nähmaschine wie immer und fügte zusammen, was vorher allein gewesen war, nähte gegen alles an, was unverzeihlich erschien, glättete Kanten, rettete Ausgefranstes und füllte Löcher, wo keine sein durften. Ihr ganzes Leben lang hatte sie das getan, und mittlerweile spielte es keine Rolle mehr, ob sie mit oder ohne Faden nähte, die Dinge hielten von sich aus zusammen, sobald sie den Motor antrieb, als ob ihre mühelose Leichtigkeit der unsichtbare Faden war, der alles zusammenhielt. Im Laufe der Jahre hatte sie angefangen, Hoffnungsschimmer als Zweitfaden mit zu vernähen, er strich über die nicht zusammenpassenden Stoffe wie elastischer Klebstoff und hielt besser als jeder andere ihrer Fäden. Als sie eines Tages beschloss, aufzuhören, glänzten ihre Hände, und als sie ohne Bedauern noch einmal zurücksah, saß schon jemand anderes an ihrer Nähmaschine. So sollte es sein.

Das war ein Beitrag zu den abc-Etüden, organisiert von Christiane. Die Wortspende kam dieses Mal von Ludwig Zeidler. Sie lauten Hoffnungsschimmer, unverzeihlich und nähen. Ansonsten: Maximal 300 Wörter (ich bin weit drunter!) und vielen Dank an Christiane für das Organisieren!

13 Gedanken zu „Nähen

  1. Ohhhhh, eine moderne Weiterentwicklung der mythologischen Spinnerin/Weberin? Sehr schön die Lebensfäden, sehr schön das Gewebe, SEHR schön der Hoffnungsschimmer als Unterfaden, sehr schön der fliegende Wechsel am Ende.
    Gefällt mir sehr. Toller Einstieg ins neue Etüdenjahr! 🧡👍
    Vormittagskaffeegrüße 😁☁️🖥️☕🍪👍

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  2. Wie Christiane schon schrieb, erinnert es an die alten Mythen von den Weberinnen und Spinnerinnen des Schicksals, nur dass es einem in dieser moderneren Fassung näherkommt, weil man die Nähmaschinen-Funktionen besser kennt als einen Webstuhl oder Spindel und Spinnrad, und ich habe beim Lesen das Gefühl, der Naherin zusehen zu dürfen. Das ist sehr schön.

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  3. Pingback: Schreibeinladung für die Textwochen 03.04.22 | Wortspende von Stachelbeermond | Irgendwas ist immer

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