Fräulein Honigohr und die Spiegelung

Bevor man den folgenden Text liest, sollte man zuerst diesen hier lesen. Man muss natürlich nicht, aber er macht dann mehr Sinn. 😊

Fräulein Honigohr und die Spiegelung

Fräulein Honigohr reckt und streckt sich in ihrer roten Weihnachtskugel. Zeit, um nach Hause zu gehen. Die Feier ist fast vorbei, zwei letzte Paare drehen sich punschselig langsam auf der Tanzfläche, und die Kartoffelsalatschüssel ist leer. Fräulein Honigohr hält Ausschau nach ihrer Doppelgängerin. Da steht sie, mit Lametta im Haar und an den Rändern leicht flackernd. Sie lacht und redet und unterhält eine kleine Gruppe von Partygängern, die sie hingebungsvoll anschwärmen. Fräulein Honigohr ist stolz auf sie. Aber jetzt ist es wirklich Zeit zu gehen. Sie schließt kurz die Augen. Als sie sie öffnet, ist nichts passiert. Fräulein Honigohr spitzt die Lippen. Ihre Doppelgängerin sieht zu ihr hinüber und hebt die Schultern in einer um Verzeihung bittenden Geste, dann deutet sie unauffällig auf eine große Uhr an der Wand. Aha. Fräulein Honigohr schnaubt leise. Um Mitternacht! Originell ist das nicht gerade.
Ihre Doppelgängerin lächelt. Fehlende Originalität scheint ihr nichts auszumachen. Sie greift nach Schal und Handschuhen (ihr Schal und ihre Handschuhe, denkt Fräulein Honigohr entrüstet), schiebt ihre protestierenden Verehrer sanft zurück und geht zum Ausgang. An der Tür dreht sie sich noch einmal um und winkt, sie flackert jetzt heftiger an den Rändern, dann ist sie weg.
Fräulein Honigohr lässt sich zurücksinken in ihrer Weihnachtskugel. Frechheit! Noch sieben Minuten bis Mitternacht und zur Freiheit. Eigentlich ist sie selbst schuld, selbstverständlich will ihr Spiegelbild nicht zurück in die Kugel, sie ist schließlich wie sie, nur etwas breiter um den Mund herum. Und clever ist sie, das muss Fräulein Honigohr ihr lassen. Nicht schlecht für eine Anfängerin, gar nicht schlecht. Sie wird die rote Kugel nachher unauffällig mitgehen lassen, damit niemand sie kaputt machen kann. Ohne Kugel kein Spiegelbild.
Während sie wartet, hört sie ein leises Klopfen. Es kommt von nebenan aus der blauen Kugel. Überrascht sieht Fräulein Honigohr hinüber. In der Kugel fallen jetzt Schneeflocken, und ein kleiner Schneemann klopft mit dem Besen an die Kugelwand und gestikuliert heftig. Der war vorhin aber noch nicht da! Sie zieht die Augenbrauen hoch. Was ist eigentlich alles passiert, als sie geträumt hat? War sie das? Oder ihr anderes ich? Wo treibt sich der Originalschneemann herum? Hier drinnen ist er auf jeden Fall nicht. Und die wichtigste aller Fragen: Schneit es etwa draußen?
Fräulein Honigohr legt die Hände von innen an die rote Glaswand. Das hier ist mit Abstand die interessanteste Weihnachtsfeier der letzten Zeit. Vergnügt bringt sie die Weihnachtskugel zum Schwingen. Jetzt könnte die Feier eigentlich nochmal starten: Sie wäre bereit.

10 Gedanken zu „Fräulein Honigohr und die Spiegelung

  1. Oh, cool, eine Fortsetzung! 🧡
    Ich fürchte allerdings, ich muss jetzt doch un-be-dingt!!!!!! wissen, wie/ob Fräulein Honigohr aus der Kugel wieder rauskommt, was mit ihrer Doppelgängerin passiert und: Ob es wirklich geschneit hat?!?! ☃️
    Schöne Weihnachten, liebe Tanja! 🎄
    Weihnachtsvormittagkaffeegrüße 😁🌤️🎄☕🍪👍

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