Herr Miesling geht zur Schule
Herr Miesling keucht, der Anstieg war steil und er ist aus der Übung. Zuviele Fernsehnachmittage, der März hat in allen Grautönen herumgewühlt, die er auf Lager hatte. Aber heute! Heute verschleudert die Sonne sich, als ob sie etwas wieder gutzumachen hätte.
„Ich setz mich mal kurz“, sagt Herr Miesling zu seinem Engel und lässt sich auf eine Bank fallen. „Guck“, sagt er, „da is meine alte Schule. Hier war ich lang nich mehr.“ Herr Miesling betrachtet das Gebäude. „Schick, was se draus gemacht ham… ´n Kindergarten isses, oder?“
Sein Engel nickt.
„Früher ham wir da Fußball gespielt. Unser Ball hat fünf Minuten die Luft gehalten, dann warer platt und wir musst´n pumpen.“ Er lacht. „So´n Schiet! Dann hat Günter ´n neuen Ball mitgebracht, aber es war nich mehr so toll, weil er bestimmen wollt, wo´s langgeht… nich mal Klassenkeile hat geholfen, da ham wir halt wieder mit´m alten Ball gespielt und gepumpt.“
Sein Engel hustet.
„Guck nicht so, wir ham ihn nur´n bisschen in die Mangel genommen, nich verprügelt. Eigentlich war´n wir ´ne nette Klasse. Aber wir war´n nie pünktlich, und dann gab´s immer Ärger. Fräulein Trieger hat uns ´n Vortrag gehalten, dass es schlimm enden würde mit unserm Trödeln… die war ´n bisschen schwammig, die Trieger, hat ihren Verlobten im Krieg verlorn und hatte ´ne Vorliebe für Pralinen. Aber sonst war se ganz in Ordnung. Der Meier, der war schlimm, keiner mochte den, und er mochte uns auch nich. Hat sich wohl was andres vorgestellt für sein Leben, und dann stand er hinterm Pult und zu mehr hat´s nich gereicht. Tja.“
Herr Miesling steht ächzend auf. „Weiter geht´s. Schön war´s, aber vorbei isses auch.“
Sein Engel nickt.
Einen Moment lang scheint eine Horde Jungen vor der alten Schule Fußball zu spielen. Herr Miesling lächelt. Dann guckt er nach vorn.

Das war ein Herr-Miesling-Beitrag zu den abc-Etüden, maximal 300 Worte mit drei Begriffen (siehe oben). Organisiert wird das ganze (ziemlich umfangreiche) Projekt von Christiane (vielen Dank!), und die Wortspende kam dieses Mal vom berlinautor. Und die war ziemlich herausfordernd – ich meine, Klassenkeile? Im Zusammenhang mit schwammig?? Aber wir sind ja erprobte Wortunterbringer… 😀
Ach, irgendwie treiben mir deine Geschichten immer ein paar Tränen der Rührung in die Augen und in meinem Herzcen wird es etwas wärmer ❤ soooo schön. Danke dir.
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Sehr, sehr gerne. 🙂
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Diese herausfordernde Wortspende hast du mit Bravour gelöst. Und nu erinnete ich mich an so manches.
Herzliche Grüße
Ulli
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Ich hoffe, es erinnerte dich an Schönes, trotz Klassenkeile und trügerischer Schwammigkeit… 🙂
Liebe Grüße von Tanja
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Leider nicht. Ich muss mal schauen, ob ich es in einer Etüde verarbeite.
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Das tut mir leid… dann hoffe ich auf ein Verarbeiten mit Schmackes!
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Also wenn ich die Beiträge und Kommentare so lese, bekomme ich den Eindruck, dass deutsche Schulen ein Ort des Terrors (gewesen) sind …
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Du wirst mir nicht erzählen, dass sich Schüler in Ö in einem bestimmten Alter nicht gefühlt ständig prügeln? 😉
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Das weiß ich nicht, ich wundere mich nur über das Wort und die Reaktionen darauf …
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René hat dazu sogar die bundesdeutsche Popkultur zitiert 😉
Ich würde sagen, es ist ein ist ein altes Wort, es ist ungebräuchlich, aber so ziemlich jeder kennt es und die meisten verbinden irgendwelche Nachkriegsfilme damit. Ich weiß nicht, wie es Älteren (Herren) damit geht, da warte ich auf Werner und Gerhard, und René ist wiederum ein Stück jünger. Ja, sehr interessant unter diesem Aspekt.
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Wörter sind doch immer wieder spannend …
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Unbedingt!!!
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Bei mir kommt ganz was anderes, morgen. Klassenkeile gab’s bei mir nicht, dafür aber Ausgrenzungen und feste Gruppen.
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Die Gruppen kenne ich auch, aus wirklich jeder Schulform. Manchmal war ich drin, manchmal draußen.
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Das Wort kenne ich auch aus diesen (schrecklichen) Nachkriegsfilmen (die ich schon als Kind schrecklich fand). Ich könnte mir vorstellen, dass es um 1950 herum recht hart an den Schulen war, und die Kinder waren nachmittags entweder am arbeiten oder unbeaufsichtigt. Da ist bestimmt so manches passiert, was Müttern heute Tränen in die Augen treiben würde.
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Bei meinem Vater noch, bei mir gabs den normalen Lebensquerschnitt – Schönes und weniger Schönes gut durchmischt. Im Großen und Ganzen bin ich gern zur Schule gegangen.
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Ich mag Herrn Miesling und seinen Engel immer lieber, je öfter ich ihnen begegne. „Schön wars, aber vorbei isses auch.“ Eben. Und es ist gut so.
Danke dir sehr, wie immer! ❤️😁
Herzliche Abendgrüße 😁🌧️🍷🍳👍
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Herzliche Abendgrüße zurück! 😊
Ja, ich würde mir seine Klugheit in manchen Situationen wünschen… aber vielleicht kommt das mit dem Älterwerden ja noch. 😉
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Ich glaube, viele unterschätzen Herrn Miesling. In Alltagsweisheiten reicht ihm wohl niemand das Wasser.
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Immer besser, unterschätzt als überschätzt zu werden… alte Karl-May-Weisheit. 😁
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Abgeklärt ist er, der Herr Miesling. Na ja, bei einem eigenen Engel, wen wundert es da.
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Ja, da hat er es wirklich gut. Wer hätte den nicht gern…
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Wenn ein Miesling denn mal sentimental wird 🙂
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Raue Schale, weicher Kern… 🙂
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Schön war´s mit Deinem Herrn Miesling, der einen eigenen Engel hat
Schmunzelgrüße von Bruni
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🙂 Liebe Grüße zurück!
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Ich habe gespürt wie mir am Ende der Geschichte es mir am Rücken Gänsehaut produziert hat, ich weiß nicht genau warum – irgendwie schön und gründlich berührend.
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Dankeschön, das freut mich sehr! 🙂
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