Der November zweifelt

Der November zweifelt

Der November war leicht verschnupft. Da hatte er noch nicht mal richtig losgelegt, und schon waren wieder alle von ihm genervt. Dabei gab er sich wirklich Mühe. Wer ausser ihm hatte so viele verschiedene Regenarten im Programm? Von leichten Schauern über wilde Stürme konnte er alles bieten, er hatte lange und ernsthaft dafür gearbeitet und wurde jedes Jahr mit dem Wetteroscar ausgezeichnet, und was war der Dank? Gemecker.
Und dann sein Windtheater! Wie lieblich er die gelben Blätter durch die Luft segeln ließ, die grauen Bürgersteige umfärbte mit Brauntönen, die er dann mit feinem Sprühregen zum Glänzen brachte! Oder wenn er das Laub wie kleine Rennwagen um die Ecken jagte und minütlich Geschwindigkeitsrekorde brach! Bekam er etwa Applaus? Nein. Gemecker. Er war ratlos. Besser ging es doch nicht.
Jedes Jahr feilte er an der perfekten Nacht, tintenschwarz, feucht und windig sollte sie sein, damit man die Dunkelheit auskosten konnte, und was taten seine Zuschauer? Sie zündeten ein Nachtlicht an. Dabei wusste doch jeder, dass schon ein kleines Licht die ganze schöne Dunkelheit ruinierte. Der November zweifelte an sich. Wenn sie schon die Dunkelheit nicht zu schätzen wussten, was war dann mit seinem Grau? Wie lange hatte er an all den Grautönen gefeilt, samtig, matt, silbrig, stumpf, durchsichtig, schwer – wusste das überhaupt jemand zu würdigen? Konnte er seine Schätze mit irgendjemandem teilen, der ihn verstand?
Der November seufzte schwer. Und zu all dem Übel nun auch noch ein Lockdown. Das hatte er wirklich nicht verdient. Vielleicht würde er sich dieses Jahr einfach mal eine Auszeit nehmen. Sollte doch der eitle Oktober übernehmen, der hatte sowieso noch was wiedergutzumachen, seine Leistung war unterirdisch gewesen dieses Jahr.
Genau. Ein schöner, langer Urlaub. Vielleicht würde er auf die Bahamas auswandern. Und vielleicht würden die Leute dort sein Grau zu schätzen wissen.

Das war ein Beitrag für die abc.etüden: 3 Begriffe, maximal 300 Wörter. Die Worte stammen dieses Mal von Kain Schreiber mit seinem Blog Gedankenflut. Sie lauten: Nachtlicht, lieblich, teilen. Organisiert wie immer von Christiane: Vielen Dank! 🙂

27 Gedanken zu „Der November zweifelt

  1. Ich mag den November auch – nur sollte er etwas mehr auf Motorradfahrer Rücksicht nehmen ! Nasses, dunkelbraunes Laub in uneinsehbaren Kurven im Wald bei Dunkelheit, IGITT !!!
    In der Karibik ist er übrigens durchaus mit einem seiner wildesten Graus vertreten – damit läutet er nämlich die Hurrican-Season ein 😉 …

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    • Du hättest das „H“-Wort nicht erwähnen sollen… jetzt träumt er erst richtig von einem Urlaub auf den Bahamas, mit allen Schikanen! Wörtlich genommen. Ich hab so das Gefühl, deprimiert ist er mir lieber als wütend…

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  2. Herrlich! Einfach großartig geschrieben. Man könnte Mitgefühl bekommen für den November … dabei – seit zwei Tagen scheint hier einfach nur die Sonne, bei strahlend blauem Himmel. Nix mit Wolken. Nix mit Schwarz und mit Grau. Dafür ganz schön kalt und am frühen Morgen nebelverhangen…
    Liebe Grüße, Lilli

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