Als ich die Phantasie traf

Heute Abend habe ich die Phantasie getroffen. Natürlich sah sie ganz anders aus als beim letzten Mal, als sie Lollys im Haar trug und kichernd auf bunten Socken durch meine Küche tanzte.
Heute dagegen ging sie geistesabwesend immer zwei Meter vor mir her, ihr Haar schimmerte silbergrau und hing schwer herunter. Sie war nur halb bei mir, die andere Hälfte war sehr weit weg und befasste sich mit ernsten Angelegenheiten.
Von Zeit zu Zeit drehte sie sich zu mir um, ging rückwärts und sagte Dinge wie: „Wusstest du, dass Tränen eine silberne Innenhaut haben und Welten enthalten können?“ Oder: „Gerade habe ich mir vorgestellt, es wäre noch Tag, die Sonne schiene und ich wäre so leicht wie ein Rotkehlchen.“ Oder: „Schwarz ist gar nicht immer einfach nur Schwarz. Es kann bleiernes Schwarz sein, oder dumpfes Schwarz. Es gibt sogar strahlendes Schwarz, wusstest du das?“
Nach jeder Frage drehte sie sich wieder um und sah nach vorn. Sie erwartete keine Antworten.
Es war ein bisschen seltsam, wo sie doch sonst immer vor Farbe, Musik und Ideen übersprudelte. Wie oft hatte ich schon kleine Fische um ihren Kopf herumschwimmen sehen, ohne dass auch nur eine Spur Wasser in der Nähe gewesen wäre! Und nie konnte ich mich sonst entscheiden, welche Augenfarbe sie gerade hatte, mal waren sie Ozeanblau, mal Sonnenuntergangsgolden, mal grün wie Waldmeisterwackelpudding. Heute dagegen war ich mir sicher: Sie konnten nur silbergrau sein.
Nachdem wir alles ein paarmal wiederholt hatten – umdrehen, rückwärts gehen, Frage stellen, keine Antworten – ging ich ein wenig schneller, bis ich auf einer Höhe mit ihr war. Sie sah mich nicht an. Ganz vorsichtig nahm ich ihre Hand. Sie war kühl und sie zog sie nicht weg. So gingen wir schweigend zusammen nach Hause.
Ich bin mir nicht sicher, aber mir war, als ob wir beide ein wenig heller wurden auf dem Weg.

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