Herbstblumen

Herbstblumen

Du steigst aus dem Zug, der Bahnsteig ist voller Menschen, die alle dasselbe wollen: Möglichst schnell zur Treppe und weg hier. Dein Schweinehund läuft rückwärts vor dir her und schlängelt sich dabei elegant zwischen den Menschen hindurch. Beeindruckend. Er starrt dir mißtrauisch ins Gesicht. Beim Rückwärtslaufen, wohlgemerkt.
„Du planst doch was, oder? Los, sag schon, was ist es?“
„Ich? Wie kommst du darauf?“
„Du hast diesen Ausdruck im Gesicht. Ich kenne den! Du planst was!“
„Quatsch. Was du immer siehst!“
„Hm.“ Dein Schweinehund starrt dir so intensiv ins Gesicht, dass du das Gefühl hast, deine Augenbrauen fangen gleich Feuer. Ihr seid schon unten im Tunnel, das Gedrängel ist so dicht, dass ihr nebeneinanderher gehen müsst. Dein Schweinehund wirft dir immer wieder bohrende Seitenblicke zu und du erhöhst das Tempo. Je schneller du gehst, desto mehr Weg hast du geschafft, bevor es losgeht. In Rekordgeschwindigkeit überquerst du den Bahnhofsvorplatz und steuerst auf dein Fahrrad zu. Als du das Fahrradschloss öffnest, schreit dein Schweinehund auf. Du seufzst leise. Es geht los.
„Ha! Ich wusste es doch! Blumen! Du willst Blumen kaufen!“
„Ja, und? Und woher weisst du das schon wieder?“ Ärgerlich pfefferst du das Schloß in den Fahrradkorb.
„Du weißt doch, dass ich Gedanken lesen kann! Also, zumindest deine. Manchmal. Egal! Blumen? Ist das dein Ernst? Es ist saukalt, weisst du das? Wieso müssen wir denn gerade heute einen Umweg in dieser eisigen Kälte machen? Außerdem bist du knapp bei Kasse! Haben wir nicht gestern erst über Sparsamkeit gestrit… geredet?“ Er ist in den Fahrradkorb gesprungen, sieht dich anklagend an und ringt die Pfoten. „Und guck mal, wie spät es schon wieder ist! Wir kommen zu spät! Du wolltest heute doch pünktlich anfangen!“
„Jetzt komm mal wieder runter! Wir haben Oktober, es ist frisch, aber nicht saukalt“, erwiderst du und schiebst unauffällig die Jackenärmel über die Hände. Warm ist es auch nicht gerade, aber nicht in hundert Jahren würdest du das jetzt zugeben.
„Du hast ja auch Kleidung an! Ich darf ruhig frieren, oder was?“ ruft dein Schweinehund entrüstet, während sein dichter Pelz im Wind weht und seine Ohren wie kleine Segel flattern. „Und überhaupt! Wozu denn Blumen? Wer braucht die schon! In spätestens einer Woche sind sie sowieso hinüber, ach was, fünf Tage gebe ich ihnen maximal! Und dafür lässt du mich hier erfrieren!“ Seine Stimme schraubt sich in unerwartete Höhen und er schlingt seine pelzigen Pfoten um sich, als ob er gleich den Antarktis-Kältetod erleiden würde.
„Blumen erfreuen die Seele und meine Augen“, antwortest du in lehrerhaftem Tonfall und fährst stoisch weiter in Richtung Blumenmarkt. „Und jetzt sind die Dahlien am schönsten.“
„Dahlien! Pah! Wir fahren einen Umweg, wir kommen zu spät, du gibst Geld aus, das du nicht hast, es ist eiskalt, ich erfriere und dann verwelken deine Dahlien auch noch und du musst täglich das Blumenwasser wechseln. Ich verstehe dich einfach nicht!“ Die letzten Worte schreit er dramatisch so laut in die Luft, dass ein paar Tauben hektisch aufflattern und eilig das Weite suchen.
„Entspann dich“, sagst du gelassen und bremst. „Wir sind schon da.“
Dein Schweinehund lässt die Pfoten sinken und guckt verwirrt um sich. „Oh. Ach so. Ja dann…“ Er blinzelt, schüttelt sich einmal, dreht sich um sich selbst und rollt sich im Fahrradkorb zusammen. „Meine Güte. Na gut. Wenn du schon unbedingt welche kaufen musst, würde ich aber die bunten nehmen. Die sind hübscher als die rot-weißen.“ Er gähnt. Du siehst ihn an, schüttelst den Kopf und gehst zum Stand. Natürlich hat er Recht. Die bunten Dahliensträuße sind die schönsten, und weil dein Schweinehund gerade nicht hinguckt, kaufst du gleich zwei, einen für dich und einen für deine Kollegin.
Herbstdahlien. Was du dafür alles auf dich nimmst.

Jaaa, ich weiß, das ist keine Dahlie. Dahlien waren rein fototechnisch gerade aus, da musste ein Ersatz her, und so schlecht ist er nicht, der Ersatz, oder? (Und wenn man das Foto größer klickt, kann man winzige Luftbläschen in den Wassertropfen sehen – Schokolade für die Augen!)

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