Fräulein Honigohr am Meer

Fräulein Honigohr am Meer

Fräulein Honigohr schüttelt den Sand von den Stiefeln und streicht sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Manteltaschen sind muschelschwer und auf Herrn Brummecks linker Schulter liegt ein riesiges Stück Treibholz. Zufrieden hakt sie sich bei ihm ein, es ist Zeit nach Hause zu gehen. Kurz vorm Ziel bleiben sie vor einem kleinen, alten Haus stehen, in dessen Vorgarten Dahlien blühen. Ein Mann, der mindestens genauso alt wie das Haus ist, harkt den Sandweg zur Gartenpforte.
„Was für einen wunderschönen Garten Sie haben!“ ruft sie begeistert. „Und diese Dahlien!“
Der Mann blickt auf, stützt sich auf seine Harke und blickt voller Stolz auf die riesigen Blütenköpfe. „Ja, nicht? Ich züchte sie selbst.“
„Wirklich? Toll. Die rotweißen finde ich am schönsten!“
„Ach guck. Meine Frau mag die auch am liebsten.“ Er lächelt. „Sie sind wohl im Urlaub hier, was? Da haben Sie ja gutes Wetter erwischt.“
„Oh ja, die Sonne scheint, und das Meer ist ganz kabbelig, ein bisschen rastlos. Ich glaube, der Wind ärgert es heute zuviel.“
Der alte Mann sieht Fräulein Honigohr überrascht an, dann überzieht ein Grinsen sein Gesicht. „Genau so ist es! Ich hätte das nicht besser sagen können!“
Die beiden sehen sich an, unausgesprochenes Einverständnis im Blick. Herr Brummeck schiebt sein Stück Treibholz geduldig von der einen auf die andere Schulter.
Fräulein Honigohr erwärmt sich für das Thema. „Die Wellen flüstern heute, sie ratschen richtig. Sie müssen unbedingt mit Ihrer Frau an den Strand gehen und zuhören!“
Ein kleiner Schatten zieht über das Gesicht des Mannes. „Ach… wissen Sie, das geht nicht. Meine Frau hat schlimme Beine, Spaziergänge sind da leider nicht drin. Früher, ja, da konnten wir von hier aus das Meer sehen, nur ein Stückchen, aber das hat gereicht. Jetzt… naja, Sie sehen ja selbst.“ Er weist mit der Hand auf die andere Straßenseite.
Fräulein Honigohr blickt hinüber. Da steht ihr Hotel. Ein hübsches Hotel, nicht zu groß, in einem sonnigen Gelb gestrichen und mit Blumen vor den Fenstern. Aber es steht leider auch ziemlich breit drei Stockwerke hoch da und versperrt dem kleinen, alten Haus den Blick aufs Meer.
Der Mann reicht Fräulein Honigohr drei rotweiße Dahlienblüten über den Zaun. „Hier, bitteschön. Für Sie.“
Fräulein Honigohr blickt auf die Dahlien und dann zu Herrn Brummeck. Er hebt die Augenbrauen. Fräulein Honigohr atmet ein, Dinge verschieben sich, der Wind kräuselt seine Schwingen und das Meer hält die Luft an. Dann setzt das Rauschen wieder ein und Fräulein Honigohr nimmt dem Mann die Dahlien aus der Hand. „Das ist ja so lieb von Ihnen! Ich werde sie gleich in die Vase stellen. Vielen Dank!“ Sie blickt zum Hotel. „Ach, übrigens: Ich weiß ja nicht, wo Sie hingucken, aber ich kann das Meer sehen. Da ist es!“
Der alte Mann folgt ihrem Blick und stutzt. Er sieht vom jetzt nicht mehr so breiten Hotel zu Fräulein Honigohr und guckt dann auf den kleinen Streifen blau, der neben dem Hotel leuchtet. Wie Fräulein Honigohr gesagt hat: Das Meer ist heute kabbelig, nervöse weiße Schaumkrönchen hüpfen auf und ab.
Der Mann fährt mit der Hand zum Kopf und streicht über seine Haare, während er das Meer anstarrt. Langsam breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Irmgard“! ruft er dann und eilt auf seine Haustür zu. „Irmgard!“
Herr Brummeck hakt sich bei Fräulein Honigohr ein. „Komm“, sagt er, „das Abendessen wartet. Ich bin übrigens sehr gespannt. Ich wollte immer schon mal in einem dreieckigen Hotel wohnen. Mal sehen, wie sich das anfühlt.“

(Liebe Katja, vielen lieben Dank, dass du deine wunderbare Zeichnung online gestellt hast und ich sie nun sogar hier veröffentlichen darf!!! Wer mehr von Katjas Zeichnungen sehen möchte, klicke bitte hier. Oder folge ihr auf Facebook! Ihre Bilder machen gute Laune, garantiert. Ich persönlich möchte andauernd in ihre Häuser und Wohnungen einziehen. Bislang ist es mir noch nicht gelungen, aber ich arbeite dran 🙂 .

4 Gedanken zu „Fräulein Honigohr am Meer

  1. Also, ich kann dir sagen, dass dreieckige Häuser in Hamburg der letzte Schrei sind. Ist Fräulein Honigohr vielleicht zufällig …?
    Wie wunderbar ist das. Ich sehe die Szene förmlich vor mir. Vielen Dank!
    Strahlende Grüße
    Christiane 😀

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