Fräulein Honigohr liest einen Roman. Der Held ist stoisch, viel zu tapfer und hat keine Ahnung von Dingen wie gepunkteten Regenstiefeln, chaotisch geplanten Ausflügen und schlechten Büchern. Lesen bedeutet, fremde Welten kennenzulernen, aber sie kann es nicht ändern: Der Held geht ihr furchtbar auf die Nerven.
Es gibt auch eine Heldin, und die findet Fräulein Honigohr noch viel schlimmer: Ständig sitzt sie irgendwo zitternd herum und wartet darauf, dass der Held die Welt für sie in Ordnung bringt.
Fräulein Honigohr schlägt das Buch zu. Ob sie mal wieder…? Eigentlich wollte sie sich zusammenreißen, schließlich hat alles Konsequenzen, aber sie kann einfach nicht widerstehen. Diese schrecklich langweilige Geschichte fordert Verzweiflungstaten ja geradezu heraus! Das Buch in ihrer Hand hat noch keine Ahnung davon, aber bei Fräulein Honigohr gibt es nur variable Geschichten. Die Welt ist ambivalent. Alles ist veränderbar.
Sie schlägt das Buch wieder auf, schließt die Augen und träumt. Das Buch zuckt, die Seiten flattern, der Einband wechselt ein paarmal die Farbe und dampft. Nach einer kleinen Weile öffnet Fräulein Honigohr die Augen und wartet gespannt. Aus ihrem Wohnzimmer kommen Stimmen, und das Buch hält den Atem an.
„Wo… wo sind wir hier?“ fragt eine tiefe Männerstimme.
„Ich weiß auch nicht“, antwortet eine helle Frauenstimme. „Aber es ist auf jeden Fall besser als der Dschungel, oder?“
„Das kann doch nicht sein…“ murmelt die Männerstimme unsicher.
„Keine Schlangen, keine Skorpione, keine Kannibalen. Mir gefällt´s!“
„Hallo-ho!“ ruft Fräulein Honigohr. „Kommt doch mal kurz her, ihr zwei!“ Es folgt eine tiefe Stille, dann dringt aufgeregtes Flüstern aus dem Wohnzimmer und schließlich schiebt sich ein blondgelockter Frauenkopf hinter der Tür hervor. Sie zieht einen Mann in Kakihose hinter sich her, der eine abgenutzte Machete in der Hand trägt.
„So. Setzt euch. Also: Ihr seid entlassen. Tut, was immer ihr möchtet. Keine engen Buchseiten mehr, keine ewiggleiche Handlung. Da vorn ist die Tür. Ich wünsche euch ein schönes Leben!“ Fräulein Honigohr wedelt mit ihrer Hand nachlässig in Richtung Flur.
Die Frau und der Mann sehen sich an, in ihren Gesichtern eine Mischung aus Fassungslosigkeit und Entzücken. Dann stehen sie auf und gehen, ohne sich noch einmal umzublicken und ohne sich zu verabschieden.
Fräulein Honigohr sieht das Buch an, und das Buch sieht sie an. Es hat Schluckauf und dampft immer noch leicht. „Tschuldigung“, sagt Fräulein Honigohr. „Du wirst ein paar Tage Verdauungsschwierigkeiten haben, aber das gibt sich, glaub mir.“ Sie legt das Buch offen auf den Tisch. Über seine Seiten tanzen Buchstaben, und Satz für Satz entsteht eine neue, andere Geschichte.
Das war meine allererste Etüde! Vielen Dank an Christiane, die sie organisiert, so auch diese Extraetüde für den fünften Sonntag im Monat. Im Text unterzubringen waren fünf aus sechs Wortspenden: Verzweiflungstat, ambivalent, hingeben, Roman, variabel, entlassen. Wortspender waren Alice und Ludwig Zeidler.
Falls ich einen Wunsch äußern dürfte: Ich möchte bitte öfter die Bekanntschaft mit Fräulein Honigohr machen! Was für eine zauberhafte Geschichte!
Wunderschön. Dann jetzt auch hier: Herzlich willkommen bei den Etüden-Verrückten! Schön, dass du deine Etüde beigesteuert hast, komm bitte öfter vorbei, ich freue mich, dass du zu uns gefunden hast!
Liebe Grüße
Christiane, schwer entzückt 😁❤️👍
LikeGefällt 5 Personen
Dankeschön! 🙂 Ich schaue bestimmt öfter vorbei, ich habe Geschichten in letzter Zeit sträflich vernachlässigt, dabei machen sie so viel Freude beim Schreiben und Lesen! Fräulein Honigohr wird gerne öfter auf einen Tee vorbeigucken! Nachdem sie einen längeren Auswärtsaufenthalt hatte, ist sie gerade nach Hause zurückgekehrt. 🙂
LikeGefällt 4 Personen
Ich bin hin und weg – total begeistert!
LikeGefällt 3 Personen
*flüstert:* Bei Fräulein Honigohr darfst du ‚hin und weg‘ nicht allzu laut sagen, manchmal nimmt sie sowas wörtlich! 🙂
LikeGefällt 3 Personen
😂
LikeGefällt 1 Person
Nette Geschichte ! Was aber sind „variable Geschichten“ ? 🙂
LikeGefällt 3 Personen
Variable Geschichten sind wie Gurkenpflanzen – da weisst du auch nie, wohin sie wachsen werden und was dich am Morgen auf dem Balkon erwartet… 🙂
LikeGefällt 4 Personen
Haha ! …. wie Gurkenpflanzen ? das ist eine interessante Definition. Schönen Sonntag!
LikeGefällt 3 Personen
Danke gleichfalls! 🙂
LikeGefällt 1 Person
Ganz zauberhaft, erinnert etwas an Tintenherz. Gerne mehr davon. Ich finde übrigens, die Wörter passen perfekt in deine Geschichte.
Schöne Grüße 🙋
LikeGefällt 2 Personen
Ein Vergleich mit Tintenherz… besser wird es heute nicht mehr, glaube ich. 🙂 (Tintenherz: Meine persönliche Nummer 1 von allen bisher gelesenen All-Age-Geschichten. Wird vielleicht nie, niemals, neverever übertroffen werden.)
LikeGefällt 3 Personen
Wunderbar, ich bin entzückt und werde die Geschichte jetzt erstmal meinem Lieblingsmann vorlesen… Schönen Sonntag!
LikeGefällt 4 Personen
So, er ist ebenfalls begeistert. Bitte mehr Geschichten von Fräulein Honigohr und Büchern mit Schluckauf 😉
LikeGefällt 3 Personen
Dankeschön! Ich werde mich mühen, und Fräulein Honigohr ist guter Dinge! 🙂
LikeGefällt 2 Personen
In was für eine tolle Welt hast Du uns da entführt! Großartig!
LikeGefällt 2 Personen
Fräulein Honigohr ist ja überzeugt davon, dass ihre Welt die einzig richtige ist. Demzufolge kann sie gar nicht anders als toll sein… und wer bin ich, ihr widersprechen zu wollen!
🙂
LikeLike
Was für eine schöne Etüde. Deine Protagonistin sehe ich förmlich vor mir 🙂
Liebe Grüße
Alice
LikeGefällt 1 Person
Dankeschön! 🙂
LikeLike
Eine fantasievolle Geschichte mit einer echt interessanten Protagonistin. Schön, dass du jetzt bei den Etüdenschreiberlingen bist. 🙂
Grüße, Katharina
LikeGefällt 1 Person
Dankeschön! Nachdem ich wochenlang um die Etüden herumgeschlichen bin und monatelang einen Tab mit Christianes Blog offen hatte, dachte ich mir: JETZT! 🙂
LikeGefällt 1 Person
Lächelnd gelesen, ich frage mich nur, wie es dem Autor der Autorin der Geschichte nun gehen mag…
LikeGefällt 1 Person
Ja, das sind noch völlig ungelöste Fragen… 🙂
LikeGefällt 1 Person
Was für eine tolle Idee: die Protagonisten aus einem ewig gleichen Buchablauf befreien.
LikeGefällt 1 Person